Großbritannien

Brexit-Intrigen und Lügendemokratie

Nigel Farage, Ex-UKIP-Chef mit traurigem Gesichtsausdruck
In der Brexit-Kampagne scheute der Rechtspopulist Nigel Farage nicht davor zurück, Tatsachen zu verdrehen. Nun trat der Ukip-Chef zurück. © PHILIPPE HUGUEN / AFP
Bernhard Weßels im Gespräch mit Dieter Kassel  · 05.07.2016
Nach dem Brexit-Votum in Großbritannien ist eine Debatte darüber entbrannt, ob das Land zu einer Lügendemokratie verkommen sei. Der Berliner Sozialwissenschaftler Bernhard Weßels sieht ein Hauptproblem im Parteien-Egoismus.
Seitdem die Mehrheit der Briten in einem Referendum für einen Austritt aus der Europäischen Union gestimmt hast, herrscht Chaos in der britischen Politik. Nach dem Rückzug der wichtigsten Wortführer für den Brexit, Boris Johnson von den Tories und Nigel Farage von der rechtspopulistischen Ukip, ist eine Debatte darüber entbrannt, wie viel vor der Abstimmung gelogen wurde und ob Großbritannien zur Lügendemokratie (Mendocracy) verkommen sei.

Kritik an Parteiraison

Der Berliner Sozialwissenschaftler Bernhard Weßels unterscheidet zwischen Lügen und Wahlversprechen. "Was jetzt im Referendum passiert ist, ist ganz sicherlich so nicht akzeptabel", sagte der Demokratieforscher am Wissenschaftszentrum Berlin im Deutschlandradio Kultur. "Der Parteien-Egoismus ist das eine Problem", sagte Weßels. Cameron habe als EU-Befürworter aus Parteiräson in der Diskussion vor der Volksabstimmung schweigen müssen. Außerdem hätten die Anzeigen, die in den britischen Zeitungen geschaltet wurden, keiner Wahrheitspflicht unterlegen.

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Vertreter eines EU-Austritts haben vor dem Referendum in Großbritannien am 23. Juni ausdrücklich gelogen, zum Beispiel was die Höhe der britischen Zahlungen an die EU angeht. Zwei der prominentesten Befürworter eines Austritts, Boris Johnson nämlich von den Torys und Nigel Farage von der rechtspopulistischen Ukip, haben das im Grunde genommen nach dem Brexit-Votum auch zugegeben, und beide, zuletzt gestern Farage, haben ja ihre politische Karriere dann auch quasi beendet, aber damit sind diese Lügen natürlich nicht aus der Welt.
Die Frage stellt sich, ist da in der Politik in Großbritannien eigentlich mehr gelogen worden als allgemein üblich ist, das Vereinigte Königreich wirklich zu einer "Mendocracy" geworden – dieses Wort kursiert da, eine Zusammensetzung aus dem Lateinischen Begriff für Lüge und dem englischen Wort für Demokratie. Wir wollen darüber jetzt mit Bernhard Weßels reden. Er ist der stellvertretende Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum in Berlin. Schönen guten Morgen, Professor Weßels!
Bernhard Weßels: Guten Morgen!
Kassel: Ist Großbritannien tatsächlich auf dem Weg in die Lügendemokratie, in die Mendocracy?
Weßels: Also ob das ein Weg dahin ist, das ist natürlich schwer zu beurteilen, weil man ja nicht weiß, was die Zukunft bringen wird. Was jetzt im Referendum passiert ist, ist ganz sicherlich so nicht akzeptabel. Es ist ja ein Unterschied, ob man über Tatbestände lügt oder ob man nicht haltbare Versprechungen macht. Also wenn Sie das vergleichen meinetwegen mit der Situation von Wahlkämpfen, wie wir sie in Deutschland haben, wo Parteien dann vor den Wahlen was versprechen und es möglicherweise nach den Wahlen nicht halten können, ist das natürlich was ganz anderes als wenn Sie über Tatsachen lügen, über Tatbestände lügen, die als Grundlage für eine Entscheidung der Bürger dienen. Insofern ist das eine hochproblematische Geschichte, was da in Großbritannien passiert ist.

Die Rolle der Medien

Kassel: Nun ist aber natürlich auch die Frage, welche Rolle spielen dabei Medien, welche Rolle spielt dabei die allgemeine Öffentlichkeit? Ich meine, so ein Beispiel, das prominent ist in diesem Fall wie die falsche Zahl, was die Höhe der Zahlungen nach Brüssel angeht, das ist ja leicht zu korrigieren, aber offenbar ist das ja in Großbritannien auch nicht so richtig gelungen. Viele Menschen haben es ja trotz allem geglaubt.
Weßels: Also Sie haben natürlich das Problem, dass die Parteien selber mit ganz großem Egoismus da hantiert haben. Die Konservativen haben das Referendum eingeleitet. Das war also versprochen, insofern haben sie da ihr Versprechen gehalten. Cameron war aber im Prinzip natürlich für den Verbleib in der EU, durfte aber aus Parteiräson nichts sagen. Wenn dann Aussagen kommen, die nicht in die Austrittslinie passen, dann musste er trotzdem still sein. Johnson hat eben entsprechende Ankündigungen gemacht, die dann nicht der Wahrheit entsprachen.
Dieser Partei-Egoismus ist das eine Problem, das zweite ist – und das ist ein bisschen anders als das bei uns der Fall ist –, Sie können da zum Beispiel lesen, dass die Informationen, die über die Referenden herausgegeben werden, zumindest wenn Sie also in den Printmedien als Anzeigen oder sonstiges geschaltet werden, dass die im Prinzip nicht in dem Sinne einer Wahrheitspflicht unterliegen.
Das heißt also, da kann gelogen werden, das ist erlaubt. Dann ist die Frage, wer geht dann mal irgendwann dagegen an. Da haben Sie natürlich jetzt die Verantwortung der Medien angesprochen. Es ist aber nicht so, dass man nicht schon vor dem Brexit viele Artikel finden kann, die sich genau damit auseinandersetzen – wer sagt da eigentlich die Wahrheit, und wer lügt da eigentlich –, aber es sind nicht die Massenmedien, also Massenmedien im Sinne, die viel gelesen werden, aber es ist nicht so, dass die Medien da gar nicht drauf reagiert haben.

Klaviatur des Machtspiels

Kassel: Nun haben Sie selber schon gesagt vorhin, dass Wahlversprechen nicht eingehalten werden, dass – ich erweitere das ein bisschen – gewisse Dinge einseitig dargestellt werden, ist in der Politik ja leider normal, und der Politikwissenschaftler Franz Walter hat da dazu gerade im "Spiegel" Folgendes geschrieben: "Ein Politiker, der ein grundehrlicher Kerl sein möchte, wäre eine katastrophale Fehlbesetzung, und irgendwann würden ihn die Menschen mit Spott und Häme verjagen." Würden Sie dem in dieser Härte zustimmen?
Weßels: Das ist vielleicht eine reale Einschätzung, die gar nicht so falsch ist, aber sie ist natürlich trotzdem normativ aus einer demokratietheoretischen Perspektive nicht richtig. Ich bin auch nicht so sicher, ob er, also diese Person, der Politiker, die Politikerin, dann tatsächlich und diejenigen die ihn oder sie wählen sollten, mit Schimpf und Schande davongejagt wird. Innerhalb der Parteien, innerhalb der Machtapparate, wo es also darauf ankommt, dass man die Klaviatur des Machtspiels beherrscht, ist das wahrscheinlich nicht so besonders dienlich, extrem ehrlich zu sein.
Kassel: Nun habe ich aber ehrlich gesagt …
Weßels: – also immer ein bisschen Manipulation dazugehört.

Politik als Tendenzgeschäft

Kassel: Nun habe ich aber ehrlich gesagt in meinem Beruf ein Hintergrundgespräch – natürlich nenne ich jetzt überhaupt keine Namen –, aber über die Jahre immer wieder von Politikern gehört, bei gewissen Thesen, die ich aufgebracht habe, ich stimme Ihnen zu, aber wenn ich als Politiker das wirklich so laut und deutlich sage, dann habe ich keine Chancen, jemals wieder gewählt zu werden. Das heißt da wurde auch der Eindruck erweckt – ich spitze das jetzt auch mal zu –, die Leute wollen aber eigentlich belogen werden. Ist da was dran?
Weßels: Na ja, ich meine, Politik ist ja ein Tendenzgeschäft, insofern muss man Richtungen vertreten, und wenn die Richtungen eben was anderes sind oder die Realität verbiegen müssen, dann gehört das vielleicht in gewisser Weise mit dazu. Also es sind ja bestimmte Richtungen, politische Richtungen, ideologische Orientierungen, mit denen dann die Realität interpretiert wird, das halte ich auch noch nicht für Lügen. Lügen wird es dann, wenn eben tatsächlich über Tatbestände, über die eigentlich ganz klar und eindeutig Daten existieren, falsche Informationen verbreitet werden. Das geht nicht.
Kassel: Bernhard Weßels vom Wissenschaftszentrum Berlin über den Unterschied zwischen einer bewussten einseitigen Darstellung und einer Lüge in der Politik. Professor Weßels, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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