Griechenland

Stoppt das "Chicken Game"

Griechenlands Finanzminister Varoufakis und IWF-Chefin Lagarde.
Wer sich zuerst bewegt, verliert? Griechenlands Finanzminister Yanis Varoufakis und IWF-Chefin Christine Lagarde © THIERRY MONASSE / AFP
Der Spieltheoretiker Wolfram Elsner im Gespräch mit Ute Welty · 20.06.2015
Für manche ist der griechische Finanzminister Yanis Varoufakis ein Vabanquespieler, der die EU-Mitgliedschaft seines Landes gefährdet. Zumindest ist Varoufakis Spieltheoretiker - genauso wie Wolfram Elsner. Doch Griechenland und seine Gläubiger spielen das falsche Spiel, meint er.
Die Verhandlungen zwischen Griechenland und den internationalen Geldgebern scheinen endgültig festgefahren zu sein. Schuld daran ist, dass beide Seiten derzeit das "Chicken Game" oder "Feiglingsspiel" spielen, meint der Bremer Wirtschaftswissenschaftler und Spieltheoretiker Wolfram Elsner. Dieses funktioniere nach dem Prinzip: Wer sich zuerst bewegt, verliert.
"Hier ist das jetzt alles so hochgeschoben worden, dass es wirklich um die Frage Gesichtsverlust geht", sagt Elsner. Während die Geldgeber im Fall beispielsweise der Ukraine überhaupt keine Probleme hätten, dieser viel größere Geldsummen zukommen zu lassen, seien die Griechen "links und aufmüpfig", sagte er. "Und da wird eben auf beiden Seiten natürlich Powerplay gespielt."
Der Bremer Wirtschaftswissenschaftler rät zu Pragmatismus und ideologischer Abrüstung, um doch noch eine Lösung zu finden, mit der beide Seiten leben können. Ansonsten erscheine letztlich allen der Grexit als beste Strategie. Aus dem Arsenal der Spieltheorie empfiehlt Elsner die Variante "Geschlechterkampf". "Da wollen die beiden Parteien auf jeden Fall es miteinander schaffen. Auch wenn die Auszahlungen hinterher ein bisschen ungleich sind."

Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Die Sorge um Griechenland drückt auf die Aktienkurse. In der vierten Woche in Folge schloss der DAX im Minus. Die Nervosität ist groß vor dem EU-Sondergipfel am Montag. Und dieses Wochenende steht ganz im Zeichen der Vorbereitung dieses Gipfels – alle beteiligten Parteien werden sich damit beschäftigen, Strategien für die zähen bis festgefahrenen Verhandlungen zu überlegen. Da kann es unter Umständen hilfreich sein, sich daran zu erinnern, dass der griechische Finanzminister von Hause aus Spieltheoretiker ist, genau wie Wolfram Elsner von der Uni Bremen. Guten Morgen, Herr Elsner!
Wolfram Elsner: Guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Was zeichnet denn Spieltheoretiker wie Yanis Varoufakis und Sie eigentlich aus, worüber reden Sie, wenn Sie sich treffen?
Elsner: Wir reden über strategische Interaktionen in verschiedenen realen Problemsituationen – das können soziale Dilemmata sein, dass wir alle das Weltklima retten wollen würden gerne, aber es nicht können und nicht tun, das kann ein Chicken Game sein wie das, was vermutlich da jetzt gespielt wird bei den Griechenland-Verhandlungen.
Welty: Chicken Game?
Elsner: Das sogenannte Feiglingsspiel, Chicken ist der Feigling, kommt aus diesem Film "Denn sie wissen nicht, was sie tun", wo die aufeinander zufahren und der eine sein Lenkrad festgeschraubt hat und gesagt hat, hier, guck mal, ich kann gar nicht ausweichen. Und wer zuerst ausweicht, kann aus der Gegend wegziehen, weil er kein Mädel mehr bekommt – der ist das Chicken.
Welty: Wer sich zu früh bewegt, hat verloren.
Elsner: Genau, der hat verloren. Also da gibt's dann nur Gewinner und Verlierer – wenn man es so spielt, und es sieht so aus, dass es so gespielt wird. Und dann reden wir über kurzfristige und langfristige Möglichkeiten, die sehen unterschiedlich aus. Wir reden darüber, ob gleichzeitig entschieden wird oder nacheinander oder ob zwei beteiligt sind oder eine ganze Population, und wir dann im Prozess die einen sich vermehren können oder die anderen sich vermehren können und neue Fans bekommen sozusagen.
Welty: Wenn Sie den Kollegen oder ...
Elsner: Wenn ich das noch mal eben sagen darf: Es ist eine Theorie und Methode, die auch formal und mathematisch ist, für die es eben auch inzwischen schon Nobelpreise gegeben hat, also insofern anerkannt und ziemlich an der Front der Forschung.
Welty: Also keine Spielerei.
Elsner: Keine Spielerei.
Welty: Wenn Sie den Kollegen oder den ehemaligen Kollegen Varoufakis jetzt sehen in seiner Rolle als Finanzminister, hat er sich verändert?
Elsner: Nein, er war ja schon immer irgendwie charismatisch, aber er ist eben nicht der Dämon, als der er dargestellt wird. Es ist ein guter Kollege, der ist ausgewiesen, der hat ein Lehrbuch über Spieltheorie geschrieben, das in der zweiten Auflage da ist, das völlig an der Front ist und wunderbar ist, zusammen mit einem anderen weltberühmten älteren Kollegen, Spieltheoretiker – also da gibt es gar keinen Zweifel. Und ich hab ihn erlebt auf Konferenzen in den USA schon vor Jahren, das ist natürlich absolut ein seriöser Kollege, ist gar keine Frage, ich hab ihm auch gratuliert zur Wahl. Die Frage ist ja auch, man muss ja nicht Spieltheoretiker sein, um jetzt irgendwie erfolgreich bei solchen Verhandlungen zu sein oder ein guter Stratege zu sein. Herr Schäuble ist sicherlich als Naturtalent genauso ein guter Stratege wie Herr Varoufakis. Als Spieltheoretiker kann Herr Varoufakis vielleicht die ein oder andere Situation relativ gut einschätzen, aber das heißt nicht, dass er am längeren Hebel sitzt.
Welty: Aber lassen Sie uns da bei dem Punkt doch noch mal bleiben. Inwieweit kann es denn von Vorteil sein, in politischen Verhandlungen über Spieltheorie Bescheid zu wissen?
Elsner: Das ist ein großer Vorteil, wenn man Vorschläge machen kann und sagen kann, Leute, es sieht hier so aus, als ob wir das als ein Chicken Game spielen. Das heißt, wir schießen uns selber ins Knie kollektiv, wenn wir alle in unseren Köpfen nur haben, dass ich unbedingt gewinnen muss – Gewinner und Verlierer –, lasst uns das doch mal als eine andere Struktur denken und dann entsprechend vielleicht neue Lösungsmöglichkeiten finden. Ich hatte schon mal an einem anderen Ort, auch im Radio, gesagt, Battle of the Sexes hört sich jetzt ein bisschen schlimm an, also der Kampf der Geschlechter, ist aber eine Spielstruktur, bei der ...
Welty: Ich sehe da ehrlich gesagt nur Männer am Tisch sitzen, na gut, Frau Lagarde ist ja noch dabei.
Elsner: Da ist ja eine Frau dabei. Nein, aber bei der Spielstruktur "Kampf der Geschlechter", da wollen die beiden Parteien auf jeden Fall es miteinander schaffen, auch wenn die Auszahlungen hinterher ein bisschen ungleich sind, aber die erste Priorität ist doch, es miteinander zu schaffen. Das ist hier bei diesem Chicken Game leider nicht der Fall. Und der Punkt ist natürlich auch ganz offensichtlich im Hintergrund, es geht hier um politische und weltanschauliche Fragen und Konflikte, und deswegen spielen auch alle das Konfliktspiel. Schauen Sie, da, wo die Ukraine oder Kroatien gerade in der gleichen Situation sind, wo es bei der Ukraine um viel mehr Geld geht, da hat Frau Lagarde überhaupt keine Probleme, die zweistelligen Milliardenbeträge rüberzuschieben nach Kiew. Weil das natürlich devote, servile Freunde von uns sind, in Anführungszeichen, auch wenn es alles Hitlerfans sind. Die Griechen sind natürlich links und aufmüpfig, und da wird eben auf beiden Seiten natürlich Powerplay gespielt, und das bedeutet für so ein Chicken Game, ich spiele nur grundsätzliche, reine Strategien, ich will unbedingt jetzt demonstrieren, dass ich gewinne. Es gäbe da eben auch die Möglichkeit, gemischt zu spielen, dass man toleranter ist und sagt, komm, du darfst mal, ich darf mal, wir schauen mal, dass keiner das Gesicht verliert. Aber hier ist das jetzt alles so hochgeschoben worden, dass es wirklich um die Frage Gesichtsverlust geht, und es ist alles nur ein einziges Drohspiel, es geht hier nur um Drohkulissen, und offensichtlich bis in die letzte Sekunde hinein.
Welty: Was würden Sie denn Varoufakis raten und was den sogenannten Institutionen, also den Geldgebern EU, EZB und IWF?
Elsner: Ja, das Drohspiel aufzuhören. Ich sagte schon, der Film damals, mit James Dean, da wurde das Lenkrad festgeschraubt, hier schau, guck mal ich, ich muss auf dich zufahren und du musst ausweichen, das muss beendet werden. Andernfalls wird es unschön werden, wobei wir noch mal unterscheiden müssen zwischen eben dieser Drohkulisse, die ja die deutschen Medien auch leider sehr, sehr, sehr beherrscht, da geht es ja nur um diese Drohebene. In Wirklichkeit wird es auch nach dem 30.06. eine reale Welt geben, in der man konkrete Verhandlungen zwischen Zahlungsausfall, Schuldenschnitt, Streckung, Zinssatzsenkung, Tilgungsstreckung, Parallelwährung und so weiter konkrete Lösungen finden muss. Man kann sich das Leben beim Finden dieser konkreten Lösungen sehr, sehr schwer machen, wenn man vorher eben eskaliert hat in dieser Drohkulisse. Und man bereitet sich ja auch sozusagen auf die Drohkulisse vor, und dann gibt es eben selbsterfüllende Drohungen, dann ist hinterher der Grexit tatsächlich für alle die beste Strategie. Das sollte in letzter Minute verhindert werden, und da müssen alle Seiten abrüsten, auch vor allen Dingen ideologisch abrüsten.
Welty: Das heißt, es braucht definitiv mehr Geduld und weniger Druck.
Elsner: Definitiv mehr Pragmatismus, mehr Hinschauen auf die realen Probleme. Es wird eine Lösung geben müssen, mit der beide leben können, andernfalls schießt man sich kollektiv ins Knie.
Welty: Wolfram Elsner ist wie der griechische Finanzminister Spieltheoretiker, und vielleicht hilft dieses Interview ja, wieder Bewegung in die Verhandlungen zu bringen. Allein dieser Versuch ist er mir wert, und dafür sage ich herzlichen Dank!
Elsner: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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