Griechenland

Lesbos - die vergessene Insel

Der Hafen von Mytilini auf Lesbos.
Der Hafen von Mytilini auf Lesbos. © Deutschlandradio / Panajotis Gavrilis
Von Alkyone Karamanolis · 13.10.2016
Auf Lesbos bleiben die Touristen aus. Die Bewohner der griechischen Insel haben es nicht leicht: Die Auswirkungen der europäischen Asylpolitik verstärken die bereits seit acht Jahren andauernde Rezession.
2015 war ein Ausnahmejahr auf Lesbos. 2016 ist es ebenfalls, wenn auch auf andere Weise. Die fehlenden Touristen haben das Leben hier auf den Kopf gestellt. Auch für Gavriil Sgouridis hat sich vieles verändert. Normalerweise bietet er Wanderungen für Touristen an. Nun schlägt er sich mit Gelegenheitsjobs durch und hat mehr freie Zeit, als ihm lieb sein kann. Gerade macht er seinen morgendlichen Spaziergang durchs Dorf.
Allerdings kommt er nur langsam voran, denn alle paar Meter trifft er Bekannte, und mit jedem gibt es etwas zu bereden.
Molyvos liegt im Norden der griechischen Insel Lesbos
Molyvos liegt im Norden der griechischen Insel Lesbos© Alkyone Karamanolis
Wie viele Menschen in Molyvos hat auch Gavriil Sgouridis eine bewegte Geschichte. Nach dem Studium ist er nach England gegangen, wo er über 20 Jahre lang als Sicherheitsexperte gearbeitet hat. Beim Terroranschlag auf die U-Bahn von London 2005 gehörte er zum Beraterstab, der per Hubschrauber in die Hauptstadt eingeflogen wurde. Doch das, sagt Gavriil Sgouridis, und blickt über die Häuserdächer hinab zum Meer, war in seinem früheren Leben. 2009 ist er gemeinsam mit seiner englischen Frau zurück nach Molyvos gezogen:
"Natürlich hat mich das Leben hier verändert. Heute kann ich unterscheiden zwischen den Dingen, die ich gern hätte und den Dingen, die ich wirklich brauche. Ich lebe nunmehr mit dem, was ich brauche. Man lernt das hier. Und mir fehlt es an nichts. Wir haben kulturelle Events, wir haben Festivals, wir sind in ständigem Austausch mit unseren Nachbarn, du trittst vor die Tür und jeder grüßt dich. Das Leben hier ist ärmer, aber es ist menschlicher."

Vorbei an Herrenhäusern und der Dorfbibliothek

Sein Weg führt vorbei an alten Herrenhäusern, die seit Jahrhunderten in der Hand derselben Familie sind, vorbei an der großen Dorfbibliothek und an schattigen Plätzen.
Vor dem Geschäft eines Goldschmieds macht er halt. Der Inhaber und er arbeiten beide als Freiwillige fürs Rote Kreuz. Vergangenes Jahr haben sie bei der Bergung schiffbrüchiger Flüchtlinge geholfen. Jetzt helfen sie Familien, die in Not geraten sind. Mehr möchten Gavriil Sgouridis und sein Freund Theofilos Mantzoros nicht verraten. Das Dorf ist klein, man hilft einander diskret, die Dorfgemeinschaft soll so wenig wie möglich erfahren. Nur so viel geben sie Preis: Die Zahl der Familien, die Unterstützung brauchen, hat sich seit dem vergangenen Sommer fast verdoppelt. Manche können den Strom oder das Finanzamt nicht bezahlen, anderen fehlt das Geld für Medizin, für Taufen oder Beerdigungen. Gerade erst hat ein Wohltätigkeitsverein im Dorf Nahrungsmittel an 60 Familien verteilt. Hinter der hübschen Fassade von Molyvos verbirgt sich momentan auch viel Leid, sagt Theofilos Mantzoros, der Goldschmied:
"Wir leben hier auf einem wunderschönen Fleckchen Erde. Aber wenn ich dieses Jahr beschreiben sollte, würde ich sagen: Wir haben eine Party vorbereitet, wir haben uns hübsch gemacht, es spielt Musik, aber niemand klingelt an der Tür. In den Restaurants wird jeden Tag gekocht, die Gassen sind gefegt, die Strände sind sauber, die Strandliegen stehen bereit und die Cocktails sind gemischt, aber – nichts. Es ist schwierig."
Der Goldschmied Theofilos Mantzoros in seiner Werkstatt auf der griechischen Insel Lesbos
Der Goldschmied Theofilos Mantzoros in seiner Werkstatt© Alkyone Karamanolis

Ein Wirt stellt sich den Herausforderungen

Das Restaurant neben seinem Laden hat dieses Jahr nicht geöffnet. Zum ersten Mal seit seiner Gründung vor 35 Jahren. Theofilos Mantzoros schüttelt den Kopf. Hadert er mit den Flüchtlingen, die das Leben auf der Insel so sehr durcheinandergebracht haben?
"Auf keinen Fall. Wie könnte ich so etwas denken, wo andere Menschen doch ihr Leben verloren haben. Letzten Sommer war hier ein sechsjähriger Flüchtlingsjunge, der nach einem Gleichaltrigen suchte, um zu spielen. Er war mit seinen beiden Eltern aufgebrochen, und auf dem Weg sind beide umgekommen. Ich habe meinen Sohn gerufen, um ihn wenigstens für einen Augenblick von seinem Leid abzulenken. Für uns mag es in diesem Jahr schwierig sein, aber wir werden die Schwierigkeiten schon überwinden."
Er hätte freilich gehofft, dass 2016 mehr Touristen kommen. Immerhin hat sich Lesbos vergangenes Jahr von seiner gastfreundlichsten Seite gezeigt. Auch Eleni Rapti, die in seinem Laden Schmuck verkauft, und die bisher stumm zugehört hat, kann die Bedenken der Touristen nicht nachvollziehen:
"Ist irgendetwas gewonnen, wenn man die Flüchtlinge nicht sieht? Ist ihr Leid damit aus der Welt? Es gibt so viel Not – und wir tun schockiert, nur weil sie sich plötzlich vor unseren Augen abspielt? Für mich ist diese Sensibilität geheuchelt. Wenn jemand leidet, müssen wir die Hand ausstrecken und helfen. So verstehe ich Nächstenliebe und Humanität."
Über 60 Prozent beträgt der Buchungsrückgang auf Lesbos. Die griechischen Touristen bleiben wegen der Finanzkrise schon seit Jahren aus, nun fehlen auch diejenigen aus dem Ausland. Lesbos lebt auf Sparflamme. Hoteliers, Gastronomen, Fremdenführer, Zulieferer, alle sind betroffen.
Auch bei Elevtheria Vamvoukou läuft das Geschäft nicht so, wie es sollte. Sie betreut die Therme von Eftalou – nur wenige Kilometer von Molyvos entfernt. Auf den Bänken, auf denen sonst die Gäste warten, bis sie an die Reihe kommen, schläft einsam und allein die Thermenkatze Eftalitsa.
"Die meiste Zeit verbringe ich hier ganz allein. Dabei sind bis letztes Jahr den ganzen Tag lang Busse mit Badegästen gekommen. Wir hatten zwölf Stunden am Tag auf. Jetzt öffnen wir acht Stunden – und auch in diesen acht Stunden ist kaum etwas los."
Elevtheria Vamvoukou blickt von Lesbos Richtung Türkei.
Elevtheria Vamvoukou blickt von Lesbos Richtung Türkei.© Alkyone Karamanolis

Leere in der Inseltherme

Die Quelle, aus der sich die Therme speist, plätschert mit 46 Grad heißem Wasser, im Hintergrund rauscht das Meer. Sonst ist nichts zu hören. Rund 10.000 Besucher kommen jeden Sommer nach Eftalou. In diesem Jahr aber hat Elevtheria Vamvoukou noch keine 2000 Tickets verkauft. Weil die Situation absehbar war, sind zwei weitere Angestellte der Therme diese Saison gar nicht erst eingestellt worden.
Die Katze räkelt sich, und Elevtheria Vamvoukou rechnet. 3800 Euro Einkommenssteuer muss sie für 2015 zahlen. Dazu über 800 Euro Immobiliensteuer. Geld, das sie bräuchte, um über den Winter zu kommen, nachdem die Einkünfte der diesjährigen Saison so gering sind. Was tun?, fragt sie und führt in den ersten Stock.
Hier bietet sie Yoga und Massagen an. Der kleine Holzbalkon vor dem Raum hängt direkt über dem Wasser. Wohin man den Blick auch wendet, nur blaues Meer und in der Ferne, dunstig, die Umrisse der türkischen Küste. Von dort aus sind die Flüchtlinge vergangenes Jahr gestartet.
Niemand war auf die Ankunft so vieler Menschen vorbereitet. Vor allem die Behörden nicht. Hätten die Menschen auf Lesbos nicht so beherzt geholfen, es hätte noch viel mehr Opfer unter den Flüchtlingen gegeben. Sie haben die Schiffbrüchigen gerettet und den unterkühlten und erschöpften Ankömmlingen gebracht, was sie zuhause hatten: Essen, Kleidung, Decken. Das Bild der 82-jährigen Emilia Kamvysi, die an einem nahegelegenen Strand ein Flüchtlingsbaby fütterte, ging damals um die Welt.

Die Helfer haben jetzt das Nachsehen

Elevtheria Vamvoukou greift zu ihrem Smartphone und zeigt Fotos vom vergangenen Jahr: durchnässte Menschen, genau hier, am Strand der Therme. Die Bewohner von Eftalou haben den Flüchtlingen aus ganzem Herzen geholfen, sagt sie. Dass sie nun aber das Nachsehen haben sollen, kann sie nicht verstehen:
"Mir haben Touristen gesagt, sie möchten nicht kommen, weil sie nicht in der Taverne sitzen können, während die Flüchtlinge zuschauen. Aber dann sollen sie ihnen doch einfach zu essen geben! Das haben wir auch getan, und wir haben beileibe keine Rücklagen."
Es sind zwei Krisen. Die Finanzkrise und die Tourismuskrise, und die eine verstärkt die andere. Die Menschen haben ihre Arbeit auf die Sommergäste ausgerichtet. Für viele sind nun die Mühen eines ganzen Lebens bedroht. Für Theofilos Chavoutsiotis etwa. Der Mittfünfziger managt ein großes Luxushotel. Sein Onkel, der in den USA reich geworden ist, hat das Kapital gestellt, sein Vater hat das Haus gebaut, seither hat Theofilos Chavoutsiotis es konsequent erweitert.
Hotelmanager Theofilos Chavoutsiotis sitzt auf der spärlich besuchten Terrasse.
Hotelmanager Theofilos Chavoutsiotis sitzt auf der spärlich besuchten Terrasse.© Alkyone Karamanolis
Theofilos Chavoutsiotis führt durch die weitläufige Lobby mit den großen Panoramafenstern, die den Blick auf die Bucht von Eftalou freigeben: außer der Rezeptionistin und einer Reinigungshilfe ist niemand da. Dann durchquert er die Bar und das leere Restaurant, zupft ein paar welke Blätter von einer Pflanze und murmelt in sich hinein, dass hier selbst die Natur aufgegeben hat. Es ist Anfang August, und sein Hotel ist nur zu 15 Prozent belegt:
"Wir decken nicht einmal unsere Unkosten, und der Fehlbetrag wird mit jedem Tag größer. Wir machen eigentlich nur weiter, weil wir hoffen, dass sich das Blatt irgendwann wendet. Ein kühler Rechner aber würde das Unternehmen schließen.

Hoffen auf Verständnis der Banken

Wie viele andere auf der Insel hofft auch Theofilos Chavoutsiotis auf Nachsicht vonseiten der Banken und auf mögliche Steuererleichterungen für die Region. Jede noch so kleine Hilfe sei willkommen, sagt er, fügt dann aber auch hinzu, dass sich für ihn der erlittene Verlust nicht mehr erwirtschaften lässt. Umso schlimmer als er vor einigen Jahren einen Kredit über mehrere hunderttausend Euro aufgenommen hat, um das Hotel zu renovieren und zu erweitern. Einen Teil der Ausgaben hätte er über ein staatliches Förder-Programm wieder zurückbekommen sollen, doch die Fördergelder liegen, obwohl zugesagt, bereits seit 2012 wegen leerer Kassen auf Eis.
Für Theofilos Chavoutsiotis geht es inzwischen um alles oder nichts:
"Wenn sich nichts ändert, werden wir kommendes Jahr nicht öffnen. So leid mir das tut. Denn da ist auch die soziale Dimension: Wir haben derzeit 19 Angestellte, 14 mussten wir schon entlassen. All diese Menschen und ihre Familien leben vom Tourismus, eine alternative Einnahmequelle haben sie nicht."
Es wäre fahrlässig, eine zweite Saison zu stemmen, ohne die Unkosten decken zu können, sagt er und blickt über die Bucht von Eftalou. Es ist windstill, das Meer liegt spiegelglatt da. Als wäre nie etwas geschehen. Flüchtlinge sind nirgendwo in Sicht. Touristen allerdings auch nicht.
Leere Stühle vor den Cafés in Molyvos auf der Insel Lesbos
Leere Stühle vor den Cafés in Molyvos auf der Insel Lesbos© Alkyone Karamanolis
Vom nahegelegenen Molyvos aus betrachtet auch Gavriil Sgouridis das Meer. Er ist inzwischen am kleinen Balkon über der Ägäis angelangt. Zur Rechten und zur Linken breitet sich die Küstenlinie von Lesbos aus. Das Wasser schimmert in allen Blautönen, der Himmel darüber ist wolkenlos. Er schätze sich glücklich, hier leben zu dürfen, sagt Gavriil Sgouridis:
"Die Natur hat uns mit einem weiten Horizont beglückt. Der Blick verliert sich in der Ferne, und du siehst, dass dahinter noch etwas ist. Mehr als dein Auge erfassen kann. Das formt eine ganz eigene Persönlichkeit. Die Menschen hier suchen immer nach den Dingen hinter den Dingen. Mit so einem Horizont vor Augen, stellt sich immer die Frage nach dem Warum. Im ganzen Land wirst du diese Charaktereigenschaft finden. Jede Antwort kontern wir mit einem Warum.
Eine kleine Taverne weit oben am Hang von Molyvos. Die Runde bestellt ein paar Gläser Ouzo, Ackerbohnen und einen Salat. Alkohol pur zu trinken gilt hier als unfein. Auch Louise ist da, die Frau von Gavriil Sgouridis. 2009, ausgerechnet ein paar Monate bevor die Finanzkrise ausbrach, sind sie hergezogen, lacht sie. Bereut haben sie ihre Entscheidung nicht:
"Wir waren unser Leben in Großbritannien leid. Und das Wetter dort erst recht. Wir waren uns allerdings auch einig, dass wir, wenn wir hierher kommen, ein einfaches Leben ohne Luxus leben würden. Im Gegenzug für mehr Lebensqualität."
Das Fischerdorf Skala Sikamineas auf der griechischen Insel Lesbos
Das Fischerdorf Skala Sikamineas auf der griechischen Insel Lesbos© Alkyone Karamanolis

Hühner füttern und stressfrei leben

Was sie dafür gewonnen hat? Louise lacht wieder. Wir stehen morgens auf, füttern die Hühner, genießen die Aussicht und vor allem, sagt sie und probiert die pürierten Ackerbohnen, wir haben keinen Stress.
Heute unterrichtet die ehemalige IT-Expertin Schüler mit Lernschwierigkeiten. Manchmal fragen sie Bekannte aus England, ob man auf Lesbos Urlaub machen könne. Louise kann die Frage nicht nachvollziehen:
"Klar, es gab letztes Jahr Phasen, wo es hoch herging. Aber letztlich waren es nur ein paar Strände im Nordosten der Insel, an denen die Flüchtlinge ankamen. Das große Problem war, dass es anfangs keinen Transport gab. Die Flüchtlinge haben die Insel also zu Fuß durchquert, um zum Hafen zu kommen. Sowie der Transport organisiert war, waren die Flüchtlinge nicht mehr sichtbar. Letztes Jahr habe ich oft Touristen zum Flughafen gebracht, und ich habe sie gefragt, ob die Flüchtlingskrise ihren Urlaub beeinträchtigt hätte. Die meisten von ihnen hatten noch nicht einmal Flüchtlinge gesehen."
Die Menschen auf der Insel machen sich dennoch Sorgen. Unten am Hafen von Molyvos unterhält sich der Hotelier Dimitris Tekes mit ein paar Nachbarn. So wie alle hier, hat auch er nurmehr wenig Spielraum:
"Wir versuchen, wenigstens die Unkosten für die laufende Saison zu decken. Also unser Personal zu bezahlen und die Steuern, damit wir das Finanzamt nicht im Nacken haben. Es wird knapp, aber mit viel Arbeit werden wir das schaffen. Nur: ein zweites Jahr wie dieses stehen wir nicht durch."
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