Grenzen schaffen Unterschiede

Von Gregor Ziolkowski · 30.05.2009
Das Institut für moderne Kunst im spanischen Valencia hat mit "Entgrenzen" ein komplexes Thema für eine Ausstellung gewählt. Wir stellen vier Teile der Schau vor.
Am sinnfälligsten wird das Motto dieser Ausstellung vielleicht an ihrem Endpunkt. Es ist die Abteilung "Visionen", und ihr Kurator ist Robert Wilson. 13 Künstler hat er eingeladen, auf dass sie ihr "EntGrenzen" in Szene setzen.

Entstanden ist eine riesige begehbare Installation, die die "ordnende" Hand des Kurators in ein entfesseltes Chaos verwandelt hat. Sirrende Föne mit Glühlampen kreisen an ihren Kabeln von der Decke, der Fußboden ist mit Fotos bedeckt, Skulpturen, Objekte stehen beengt im ganzen Raum mit seinen bemalten, behängten oder beklebten Wänden. "Diktatur der Kunst" steht in schreiendem Rot über einer der Collagen von Jonathan Meese, aus einem Lautsprecher dröhnen die Zahlenkaskaden von Christopher Knowles.

Der russisch-ukrainische Performer Alexander Petljura hat Objekte aus seiner unglaublichen Sammlung im gesamten Raum angeordnet. Für ihn eine Metapher des Lebens.

"Es sind Kleider, Wecker, Schuhe – die Zeit vergeht. Hier hängen weiße Kleider mit Blumen, schwarze Kleider mit Blumen, jede Menge Schuhe, wir ziehen uns den Ereignissen entsprechend an: Geburt, Hochzeit, Tod. Und bei alldem vergeht unsere Zeit."

Das kollektiv erzeugte Chaos, so zeigt sich, ist in Wahrheit jener vielstimmige Chor aus einzelnen Wahrnehmungen, Handschriften, Inszenierungen, der sich unter dem Blick des Kurators vereint zur entgrenzenden Vision, eine fast kulinarische Reminiszenz für Robert Wilson.

"Es ist ein bisschen wie in den 60er oder 70er Jahren, wenn sich eine Gruppe von Künstlern zusammengefunden hat, um etwas gemeinsam zu machen. Und dann heißt es: Lasst uns ein Abendessen vorbereiten. Und einer sagt, gut, ich mache Pasta, ein anderer sagt: Ich kann nicht kochen, aber dafür spüle ich nachher. Der eine kann Desserts, der andere einen Salat. Und so entsteht ein Menü, indem viele Einzelne zusammenarbeiten. Das ist es, was hier ungefähr passiert ist. Eine Gruppe von Leuten hat sich zusammengefunden und hat gearbeitet, und das ist es, was wir hier präsentieren. "

Der anarchisch-eruptive Schlusspunkt ist ohne Zweifel auch der Höhepunkt dieser Ausstellung. An ihrem Anfang, der Abteilung "Historien", geht es regelrecht meditativ zu. Wo sind die Grenzen des Erzählbaren, des Abbildbaren? Wie wäre eine Linie – ihrerseits die Markierung einer Grenze – zu überwinden? Oder ist diese Linie – wie der Horizont – die einzige Gewissheit, die bleibt in einer Welt, die ständigen Wandlungen unterworfen ist?

Museumsdirektorin Consuelo Ciscar und ihr Ko-Kurator Vincenzo Trione haben eine eindrucksvolle Sammlung abstrakter Gemälde zusammengetragen, um solchen Fragen nachzuspüren. Werke von Mark Rothko oder Barnett Newman, Sean Scully und Frank Stella, Dan Flavin oder Anselm Kiefer liefern die bildnerischen Reflexionen zu diesen Fragen. Wie es dagegen um unsere begrenzte Zeit steht, war die Frage, die sich Robert Storr und Francesca Pietropaolo vorlegten.

"Wenn unsere Zeit auf der einen Seite begrenzt ist – wir haben nur eine bestimmte Zeit zur Verfügung, die nicht zu verlängern ist, so können wir sie doch in unterschiedlichen Geschwindigkeiten zubringen. In verschiedenen Konstellationen, mit verschiedenen Graden von Aufmerksamkeit. Insofern ist die Zeit in einem konzeptuellen oder psychologischen Sinn dehnbar. Sie ist nicht endlos, aber man kann sie auseinanderziehen und verdrehen."

Ausschließlich Video-Arbeiten zeigt diese Abteilung der Ausstellung, und das ist kein Zufall: Denn allein der Umstand, dass ein Video Anfang und Ende hat, mithin eine konkrete Zeit zum Betrachten erfordert, ist Bestandteil des Konzepts. Das Spiel mit der Zeit erzeugt verblüffende Momente: Etwa in Harry Shearers Video-Serie, die amerikanische Politiker zeigt, während sie buchstäblich nichts tun. Sie sitzen da, schauen in die Kamera und räuspern sich allenfalls. Steht womöglich die Zeit still, wenn diese Leute, die uns sonst immer etwas zu verkünden haben, die uns normalerweise mobilisieren wollen, einfach nur dasitzen? Die räumlichen Begrenzungen und ihre Entgrenzungen sind das Thema der vierten Abteilung dieser Ausstellung. Kurator Aaron Betsky hat sich nicht verführen lassen, das Thema zum Beispiel politisch aufzugreifen. Das räumliche Entgrenzen versteht er als Auseinandersetzung der Kunst mit der Gegebenheit des Raumes.

"Wir haben begonnen bei dem, was wir das Extra-Kleine nennen, eine Kunst, die auf der Basis des Digitalen, der Nullen und der Einsen, basiert und die diese digitale Welt im Kunstwerk vergrößert. Danach, das ist der Hauptteil dieser Abteilung, wollten wir Kunst zeigen, die die menschliche Körperlichkeit als Raumerfahrung spiegelt, um dann zur erweiterten Haut des Menschen, zu Häusern und Architektur zu gelangen. Schließlich zu seiner sozialen Haut, der Stadt, und von hier aus ins Universum, das "Extra-Große"."

Die zerfließenden Gebäude-Skulpturen von Erwin Wurm, ein aus Computerteilen bestehendes Tryptichon von Tom Sachs oder eine wahrlich raumgreifende Installation von Esther Stocker illustrieren solche Erfahrungen. "EntGrenzen" – das ist für die Kunst durchaus eine Selbstverständlichkeit. Dieses "EntGrenzen" derart akribisch und systematisch zum Thema einer Ausstellung zu machen, ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit.