Grenze des Tolerablen

Von Michael Meyer · 18.01.2012
In der vergangenen Woche ist die neue Staffel der RTL-Show "Dschungelcamp" gestartet - und die Vorgänge im australischen Dschungel werden nicht nur von Boulevardmedien begleitet. Doch welchen Werten fühlen sich solche Formate noch verpflichtet? Darüber diskutierten Experten und Medienmacher auf Einladung der Hochschule für Film und Fernsehen und der Evangelischen Kirche in Potsdam.
Formate wie "Mitten im Leben", "Zwei bei Kallwass", "Lenssen und Partner" oder "Die Schulermittler" laufen im Nachmittagsprogramm der Privatsender und haben eines gemeinsam: Sie alle sind sogenannte "Scripted Reality"-Sendungen - zu gut deutsch: Sie tun so, als wären sie echt, dabei ist die Handlung frei erfunden. Zwar wird am Anfang und am Ende darauf hingewiesen, dass alles fiktiv ist, doch der Eindruck bleibt: Alles sieht so aus, als ob es real sein könnte. Und das ist auch so gewollt, gibt Jürgen Erdmann zu. Er produziert unter anderem die Serien "Mitten im Leben" und "Die Schulermittler". Das Format habe einige Vorteile, sagt Erdmann:

"Man kann Dinge zeigen, die man in der echten Dokumentation nicht zeigen kann. Also wenn beispielsweise ein Hartz-IV-Sachbearbeiter sexuelle Gefälligkeiten verlangt, damit er ihr Scheine ausstellt, dann kann ich das in einer Doku nie zeigen, in einer Scripted Reality schon und kann gleichzeitig auch für diese Frau über den Weg der Fiction auch Auswege aufzeigen, an wen kann sich diese Frau wenden, was kann man tun, damit sowas nicht weiter passiert."

"Scriped Reality" als Sozialarbeiter-Fernsehen? Das eher nicht. Im Gegenteil: Der Vorwurf des "Sozialporno" wird immer wieder angeführt – und dass diese Sendungen es eben permanent krachen ließen – für leise Töne oder gar Hintergründiges ist da kein Platz. Quote schlägt alles – da biegt man sich die Wirklichkeit schon mal so zurecht, dass es passt. Bei den Öffentlich-Rechtlichen von ARD und ZDF reagiert man auf den Trend der "Scripted Reality" mit einer gewissen Ratlosigkeit: Man müsse das erst mal so hinnehmen, aber dann auch entsprechend darauf reagieren, meint die Programmdirektorin des Rundfunks Berlin-Brandenburg, Claudia Nothelle:

"Das müssen wir wenigstens erst mal kennen als Öffentlich-Rechtliche, und gucken, wie gestalten wir nun unsere Filme? Die Machart von vor zwanzig Jahren hilft nicht mehr weiter, trotzdem die Frage: Müssen wir alles mitmachen, nein, müssen wir nicht, vor allem wenn es um das Stichwort: Wie kommen die Menschen vor, welches Menschenbild wird vermittelt? Und wer sich die Scripted Reality-Sendungen mal anschaut und sieht, was angeblich dort alles normal ist, und nur im Hinterkopf bei dem einen oder anderen entstehen könnte: Das ist so, das ist normal, dass man so lebt, dass man so miteinander redet, dann ist das erschreckend."

Und in der Tat sind einige Formate hart an der Grenze des Tolerablen: "Berlin bei Tag und Nacht" etwa, eine Soap-Opera um eine fiktive WG in Berlin, hat im Grunde nur drei Hauptmotive: Sex, Eifersucht und Streitereien, die gern in Vulgärsprache ausgetragen werden. Das ist Fernsehen für den Gully. Und doch: Das Format ist sehr erfolgreich und wirft ein bezeichnendes Licht auf die Sehgewohnheiten junger Zuschauer.

Für den evangelischen Landesbischof Ralf Meister kann es bei derartigen neuen TV-Formaten, aber auch manchen Auswüchsen im Internet nicht nur um die Selbstkontrolle der Nutzer und Zuschauer gehen -bei einigen Entwicklungen Dingen müsse man auch eingreifen, etwa wenn es um das Mobbing von Menschen im Netz geht. Es gehe also, sagt Meister, im Grundsatz um die Frage:

"Wo ist diese verantwortliche individuelle Nutzung vielleicht noch nicht gekoppelt mit dem notwendigen Verantwortungsbewusstsein? Und da kann man schon sehen, dass vielleicht manche Menschen, wenn sie die Medien nutzen, diese Freiheit, die sie da haben, auch missbrauchen und ich finde das muss man auch ehrlich benennen und auch darauf hinweisen."

Für die Fernsehproduzenten sind manche dieser Fragen zu theoretisch und zu abgekoppelt von den heutigen Sehgewohnheiten. So sieht es zumindest Jan Kromschröder, Dozent an der HFF und Produzent der Sendung "Dschungelcamp". Diese Sendung sei nichts anderes als gut gemachtes Bauern- oder Kasperletheater - das sei eben unterhaltsam - aber auch nicht mehr, meint Kromschröder. Manches dürfe man daher nicht so ernst nehmen:

"Unsere Gesellschaft, sage ich mal, entwickelt sich einfach weiter. Generell glaube ich, dass es medial mehr Reize gibt, und umso mehr man diesen Reizen ausgesetzt ist, umso mehr erhöht sich die Geschwindigkeit und umso mehr verändern die sich auch. Das bezieht sich aber nicht ausschließlich auf gescripted, sondern auf alles, das beschäftigt unsere Kultur."

Doch die Frage bleibt: Muss man alles machen, was noch nicht gegen Gesetze verstößt? Muss man beispielsweise eine Exhibitionistin ins "Dschungelcamp" einladen, um dann nur darauf zu warten, dass sie sich wieder auszieht? Und welches Menschenbild entsteht, wenn man die Promi-Kandidaten rücksichtslos erniedrigt? Darauf haben die Produzenten keine Antwort - zumindest fühlen sie sich nur bedingt in der Verantwortung. Jan Kromschröder:

"In dem Format ist sicherlich Schadenfreude etwas, was da mitspielt. Als der Kandidat, der da angesprochen wird, kann ich sagen, ich mach da mit oder ich sage dann irgendwann, wenn eine gewisse Grenze überschritten ist: Ich bin ein Star, ich will hier raus."

Als Fazit blieb auf der Konferenz, und das ist ja fast immer so bei derlei Veranstaltungen, nur der Ruf nach mehr Medienkompetenz in den Schulen und in den Elternhäusern. Wohl wahr, denn letztlich sind es die die Zuschauer, die derlei Sendungen möglich machen. Würden sie nicht so intensiv geguckt, würde "Scripted Reality" auch nicht so häufig auf den Bildschirmen auftauchen.