Gottfried Wilhelm Leibniz - 300. Todestag

Der Multitasker

Er hatte es drauf: Gottfried Wilhelm Leibniz überblickte und beherrschte zahlreiche Wissensgebiete.
Er hatte es drauf: Gottfried Wilhelm Leibniz überblickte und beherrschte zahlreiche Wissensgebiete. © picture alliance / dpa / Peter Endig
Horst Bredekamp im Gespräch mit Dieter Kassel  · 14.11.2016
Einen Kopf wie ihn wird es wohl nie wieder geben. Gottfried Wilhelm Leibniz war Philosoph, Physiker, Mathematiker, Jurist, Historiker, Ingenieur, Diplomat und Erfinder in einer Person. Eine phänomenale Persönlichkeit, sagt der Kunsthistoriker Horst Bredekamp.
Am 14. November 2016 jährt sich der Todestag von Gottfried Wilhelm Leibniz zum 300. Mal. Er war einer der letzten, der das gesamte Wissen seiner Zeit überblickte - einer, der alles wusste und der nahezu jede Disziplin beherrschte. Ein Mensch, dessen Tagesablauf deshalb gespickt mit den verschiedensten Themen und Aufgaben war, sagt Horst Bredekamp, Professor für Kunstgeschichte an der Berliner Humboldt-Universität.
So habe Leibniz vor dem Frühstück schon mathematischen Gleichungen entwickelt, danach sei er zur Arbeit in den diplomatischen Dienst gegangen, habe später Ingenieure getroffen, sich dann noch mit Geologie beschäftigt und außerdem zwei Stunden Briefe geschrieben. Bredekamp: "Er hat die allerverschiedensten Dinge betrieben, fast gleichzeitig - das ist das Phänomenale."

Das Gespräch im Wortlaut:
Dieter Kassel: Stellen Sie sich mal vor, ein Mann, ein Wissenschaftler würde heute erst mal anfangen, Jura zu studieren, sich parallel schon intensiv mit Mathematik zu beschäftigen, dann wird er erst mal Bibliothekar, auf die Art und Weise auch noch Historiker, er überlegt sich, wie man zum Beispiel eine Feuerversicherung besonders sinnvoll gestalten könnte, erfindet ein paar Dinge im technischen Bereich, geht dann noch der Frage nach, welche Rolle Gott auf dieser Welt spielt, wird so auch zum Philosophen und noch einiges mehr. Was würde man heute machen: Man würde diesem Mann vorwerfen, dass er sich nicht entscheiden könnte und dass er wahrscheinlich von nichts so richtig Ahnung hat, weil er sich mit viel zu viel verschiedenen Dingen beschäftigt.
Aber ungefähr das, was ich gerade beschrieben habe und auch noch sehr, sehr viel mehr tat Gottfried Wilhelm Leibniz, der vor genau 300 Jahren starb, und dem wirft man zu Recht gar nichts vor, sondern den bezeichnet man als den letzten großen Universalgelehrten. Wir wollen über Leibniz sprechen jetzt mit Horst Bredekamp. Er ist Professor für Kunstgeschichte an der Berliner Humboldt-Universität, und er ist einer der drei Gründungsintendanten des Humboldt-Forums und Autor unter anderem übrigens eines Buches über Leibniz und die Revolution der Gartenkunst. Schönen guten Morgen, Herr Bredekamp!
Horst Bredekamp: Guten Morgen!
Kassel: Man denkt ja so leicht bei Universalgelehrten, das wird ein Mensch, weil er sich einfach mit ganz viel verschiedenen Dingen beschäftigt, aber ist es so einfach, war Leibniz einer, der einfach nur ganz viel auf einmal gemacht hat?
Bredekamp: Das hat er zweifelsohne. Wir kennen seinen Tagesablauf: Er hat vor dem Frühstück um sieben begonnen, zum Beispiel, Mathematik zu machen, Gleichungen zu entwickeln, dann hat er gefrühstückt, dann ging er in seinen diplomatischen Dienst, Verwaltungsaufgaben, traf Ingenieure - das ist im Jahr 1696 -, dann wieder Verwaltungsaufgaben, dann hat er sich mit Geologie beschäftigt, Briefe geschrieben zwei Stunden lang, und so ging der Tag hindurch.
Ja, er hat die allerverschiedensten Dinge betrieben und fast gleichzeitig, das ist das Phänomenale – bei der Gelegenheit übrigens auch eine Lichttheorie entwickelt am selben Tag, also sich zumindest damit beschäftigt. Das ist so: gleichzeitig, aber zugleich mit einer Gesamttheorie, die die Spezialgebiete dann auch verbunden hat.

Geist und Materie als Einheit

Kassel: Aber das ist vielleicht das Entscheidende: Man hat ja oft das Gefühl, na ja, der hat einfach viel gewusst, viel gekonnt und so viel unterschiedliche Dinge getan. Waren das für Leibniz selber tatsächlich so viel unterschiedliche Dinge? War er nicht eher der Meinung, alles hängt mit allem zusammen?
Bredekamp: Ja, das ist seine Grundüberzeugung. Ihm wird immer wieder unterstellt, dass er bestimmte Dinge allein als Gesamttheorie genommen hat, wie zum Beispiel der sehr wichtige Spruch "Calculemus", lasst uns rechnen, und da heraus hat die frühe Computerwissenschaft Leibniz als einen Gründungsvater genommen – mit vollem Recht.
Das stimmt, ohne Frage, aber Leibniz hat dieses eingebunden in einen größeren Zusammenhang, in dem es eben Dinge gibt, die nicht zu berechnen sind, wie zum Beispiel, er hat es an einem Beispiel genannt: Die Ermordung Cäsars ist mathematisch nicht darzustellen, zu komplex, zu vielschichtig, und so hat er, beispielsweise, im Bereich der Mathematik den Gedanken des Visos, mit einem Schlag alles zu überblicken, also den Blick als zum Beispiel eine übergeordnete Instanz genommen und damit auch das sinnliche Denken mit in seinen Blick genommen.
Kassel: Aber wenn wir das mit heute vergleichen: Heute ist ja zum Beispiel ein Physiker nicht einfach Physiker. Er hat ein Fachgebiet, er ist Astrophysiker oder Teilchenphysiker. Gerade in den Naturwissenschaften gibt es diese Grundunterscheidung zwischen Grundlagenforschung und der Suche nach praktischen Anwendungen, und der, der das eine macht, findet meistens die anderen, die das andere machen, nicht so wichtig. Hat Leibniz noch eine Weltanschauung quasi gehabt, die es heute gar nicht mehr gibt?
Bredekamp: Ja, die cartesische Weltsicht "ich denke, also bin ich", der externe Körper hat nichts mit meinem inneren Denken zu tun, ist dem geradezu entgegengesetzt. Das hat Leibniz nicht nur nicht nachvollzogen, sondern er hat dagegen argumentiert. Für ihn ist Geist und Materie allein als eine Einheit zu denken und in allem, also von nicht nur den organischen Gebilden, sondern auch den Dingen geht er aus, dass sie über beides verfügen, und dies ist die alles umschließende Theorie, die ihn vor allen Extremen, die nur eine Lösung erlauben, dieses anzunehmen, verhindert hat.
Er denkt die Extreme zusammen, weil er eine umfassende Sicht von Welt hat, in der Geist und Materie nicht getrennt sind, und das ist ein fundamentaler Widerspruch gegenüber dem, was sich in großen Teilen der Naturwissenschaft, auch der Philosophie, in allen Entwürfen, allen Großentwürfen, bis heute hat halten können.
Kassel: Aber glauben Sie denn, man könnte in den Naturwissenschaften – es klingt mehr nach man sollte, aber könnte man wirklich zurück zu diesem Forschungs- und Weltbild von Leibniz, denn heute ist es ja so kompliziert, dass ja oft Wissenschaftler sagen, selbst wenn wir im Team arbeiten, ich verstehe eigentlich schon das nicht mehr, was mein Kollege macht, ich muss mich auf meine Sache konzentrieren?

Leibniz hat Theorie und Praxis nicht getrennt

Bredekamp: Leibniz war der größte Teamarbeiter. Er hat mit der gesamten Welt korrespondiert. Aus diesem Grund wird es wohl noch 80 Jahre brauchen, damit seine Briefe überhaupt ediert sind. Er hat strikt mit allen Kollegen auf Latein natürlich – so ging das ohne Problem –, aber auch auf Französisch, auch auf Deutsch selbstverständlich, korrespondiert, die Ideen ausgetauscht.
Vor allem gilt sein Spruch – darauf zielt ihre Sprache – "theoria cum praxi": nicht etwa additiv, also nacheinander, erst die Theorie und dann die Praxis, sondern Theoretisieren durch Praxis. Das ist ein ganz anderer Entwurf, der natürlich die Spezialisierung erlaubt, aber zugleich verhindert, dass man nicht abstrahiert und aus der Spezialisierung herauskommt, um den großen Fetisch, der bei uns teils Fetisch ist, in der Disziplinarität auch wirklich zu realisieren. Das hat er in seinem Ansatz vermocht.
Kassel: Der Kunsthistoriker und Gründungsintendant des Berliner Humboldt-Forums Professor Horst Bredekamp über den wahrscheinlich doch tatsächlich letzten Universalgelehrten unserer Geschichte, Gottfried Wilhelm Leibniz, der vor genau 300 Jahren am 14. November 1716 gestorben ist. Herr Bredekamp, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Bredekamp: Bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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