Gott ins Handwerk pfuschen? Im Gegenteil!

Von Gerald Beyrodt · 25.05.2012
Paare, die sich auf mögliche Erbkrankheiten testen lassen wollen, gehen zum Facharzt für Humangenetik - zum Beispiel zu Dr. Chayim Schell-Apacik in Berlin-Charlottenburg. Obwohl die meisten seiner Patienten nicht jüdisch sind, wissen Rabbiner und jüdische Paare Schell-Apaciks Kompetenz zu schätzen, weil er auch zum jüdischen Gesetz der Halacha berät.
Sein Vorname bedeutet ausgerechnet "Leben". Chayim Schell-Apacik betreibt in Berlin-Charlottenburg eine Arztpraxis für Humangenetik. Er berät Patienten zu Fragen der Erbanlagen, und dabei geht es häufig um Leben und Tod: Zu ihm kommen Paare, die bislang keine Kinder bekommen konnten, aber auch Paare, die die tödliche Erbkrankheit Tay-Sachs ausschließen möchten.

Eine Besonderheit seiner Praxis: Chayim Schell-Apacik berät zum jüdischen Gesetz oder jüdischen Lebenswandel: der Halacha. Wie in jeder deutschen Arztpraxis sind die meisten Patienten keine Juden, doch Juden kommen aus der ganzen Bundesrepublik, um sich beraten zu lassen.

Denn einen Humangenetiker, der auch noch etwas von der Halacha versteht, findet man in Deutschland selten. Zudem gibt es speziell jüdische Krankheitsrisiken, sagt der Arzt:

"Ein jüdisches Gen gibt es nicht. Es gibt die Genetik, und die Genetik ist von Population zu Population auch verschieden. Das hat biologische Gründe. Das ist völlig wertneutral."

In bestimmten Bevölkerungsgruppen seien bestimmte Erbkrankheiten besonders häufig, sagt Schell-Apacik. So gebe es Mittelmeerfieber besonders häufig in Anatolien, Georgien und Armenien.

Unter Juden ist das Tay-Sachs-Syndrom verbreitet – eine Krankheit mit schrecklichen Folgen: Kinder mit dieser Erbkrankheit können ab dem dritten Lebensmonat unter Muskelschwäche leiden. Häufig können sie kaum noch sitzen oder stehen. Nach anderthalb Lebensjahren werden sie oft schwerhörig oder blind. Sie erschrecken sich bei Geräuschen, leiden unter Krämpfen. Fast immer sterben die Kinder an Tay-Sachs. Heilen lässt sich die Krankheit bis heute nicht. Den Ärzten bleibt nur, die Symptome zu mildern.
So liegt es nahe, prüfen zu lassen, wie groß das Risiko ist, bevor man Kinder bekommt.

"Die Hauptfrage ist: Wir wollen heiraten, oder wir sind jetzt schwanger, wir sind beide jüdisch, welche Risiken haben wir, gibt es Anlageträgertests, die in Deutschland angeboten werden? Die meisten Patienten gehen davon aus, dass man dafür ins Ausland gehen muss und die meisten denken, sie müssten dafür nach Israel. Es ist dann ein Aha-Effekt, eine Neuentdeckung, dass das auch hier geht und auch bei mir geht."

Fachärzte können anhand von Blutproben untersuchen, wie wahrscheinlich Erbkrankeiten sind. Aber andere Humangenetiker in Deutschland seien geneigt, die speziell jüdischen Risiken zu übersehen:

"Wenn jetzt ein jüdischer Patient in eine ganz normale andere genetische Beratungsstelle geht, wird er behandelt wie ein nicht jüdischer Patient, die sehen nicht unbedingt sofort, dass es da eine Besonderheit gibt."

In der Tat ist das Tay-Sachs-Risiko bei Juden weitaus höher als in anderen Bevölkerungsgruppen. In Israel lassen sich Paare anhand darauf fast standardmäßig untersuchen.

In der orthodoxen jüdischen Bevölkerung in New York ist das Risiko besonders hoch: 16 Prozent sind Anlageträger. Dort klären orthodoxe Paare vor der Eheschließung, wie groß die Tay-Sachs-Gefahr ist. Wenn beide Anlageträger sind, raten orthodoxe Rabbiner von einer Heirat ab. Denn eine Ehe ohne Kinder ist in der Orthodoxie keine Alternative.

Dabei müssten solche Paare gar nicht auf eine Heirat und Kinder verzichten, sagt Chayim Schell-Apacik:

"Ich hab jetzt wieder ein orthodoxes Paar, die dann auch jetzt wieder mit den Ergebnissen zu ihrem Rabbiner gehen werden, das haben sie mir auch schon gesagt. Ich hab den beiden eröffnet und gesagt, wenn sie jetzt beide Anlageträger sind, können sie (sich) immer noch entscheiden zu heiraten, weil dann gibt es noch die Möglichkeit der Reproduktionsmedizin, also nicht Schwangerschaftsabbruch, sondern Reproduktionsmedizin, im Reagenzglas Embryonen auszusuchen, die nicht betroffen sein werden. Die Möglichkeit ist aber relativ neu."

Der Fachbegriff für dieses Verfahren lautet Präimplantationsdiagnostik, kurz PID.
Wenn ein Kind mit Tay-Sachs-Krankheit unterwegs ist, darf es nach der Lehre der jüdischen Orthodoxie nicht abgetrieben werden. Schwangerschaftsabbrüche sind im Judentum zwar nicht in jedem Fall tabu, aber orthodoxe Rabbiner würden dem Eingriff nur zustimmen, wenn die Mutter um ihr Leben fürchten müsste.

"Ich kann vorgeburtlich ab der frühestens elften Woche feststellen, ob dieses Kind von einer Tay-Sachs-Erkrankung betroffen sein wird. Nur: Dann ist es im Mutterleib und kann potenziell geboren werden. Dann sagten die streng Orthodoxen, dieses Kind kann geboren werden, es ist eine potenzielle Seele, ein potenzieller Nefesch, wird keine Schwangerschaft abgebrochen. Es ist ja das Leben der Mutter nicht wirklich in Gefahr."

Liberale Juden würden hingegen das Argument gelten lassen: Ein Kind auf die Welt zu bringen und ihm dann beim Sterben zuzusehen, ist eine immense psychische Belastung für die Eltern. Eine Belastung, die ihr Leben beeinträchtigen kann. Für liberale Juden ist ein Abbruch deshalb durchaus zu erwägen.

Deutlich unterscheiden sich die ethischen Fragen von Juden und Nicht-Juden. Das zeigt sich auch an den heftigen Diskussionen, die es in Deutschland um die Präimplantationsdiagnostik PID gab. Dabei spielte die christliche Vorstellung vom Leben eine große Rolle. Für die Kirchen ist schon der Embryo unmittelbar nach der Befruchtung ein Mensch. Dem Talmud zufolge ist er hingegen "bloß Wasser" - bis zum 40. Tag nach der Befruchtung. Sicherlich muss man mit dem Embryo verantwortungsvoll umgehen, weil aus ihm ein Mensch werden kann, aber er hat weniger Rechte als eine Person.

"Bei Nichtjuden sind häufig Probleme: lebensunwertes Leben, der Embryo im Reagenzglas, der dann irgendwie verworfen werden muss, weil er dann nicht transferiert werden kann. Auch das sind Probleme, aber sie sind im Judentum weniger ausgeprägt zu beachten."

Das Judentum sieht die Tätigkeit des Arztes sehr positiv, sagt Chayim Schell-Apacik, anders als etwa das christliche Mittelalter. Große jüdische Gelehrte waren selbst Ärzte.

"Es ist anders als im Christentum, wo einem immer wieder suggeriert wird, man würde eigentlich dem Ewigen, Gott ins Handwerk reinpfuschen. Im Gegenteil. Das Judentum sieht eigentlich einen göttlichen Auftrag darin, menschliches Leid zu lindern. Also, die ärztliche Tätigkeit hat einen hohen Stellenwert und genau darum geht es. Ich bin immer wieder überrascht, wie modern das Judentum mit Dingen umgeht."

Wer die Praxis des Humangenetikers verlässt, läuft durch den Park des Klinikums Berlin-Westend, hört das Laub der hohen Bäume rauschen und die Vögel zwitschern. Und denkt über die vielen Arten des Lebens nach.

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