Gott in Wien

Von Gerd Brendel · 23.07.2011
Der Katholizismus ist nicht die einzige Religion, die in Wien ihre Spuren hinterlassen hat. Im 19. Jahrhundert erlebte das Wiener Judentum eine einzigartige Blüte. Und der Islam wandelte sich im Laufe der Geschichte von der Religion der Belagerer zur Religion vieler Mitbürger.
Sonntagmorgen im ersten Bezirk, der Innenstadt von Wien. Vor dem Stephansdom stehen die Touristen in Trauben und staunen die gotische Pracht an. Im Kircheninneren zelebriert der Erzbischof der Stadt das wöchentliche Hochamt mit dem Domchor.

"Zunächst kann man den Eindruck gewinnen, es gibt so eine kulturelle Katholizität,"

sagt der Religionssoziologe und katholische Theologe Paul Zulehner

"Das scheint tief hineingewachsen zu sein über das Habsburgerreich."

Zwischen Stephansdom und Hofburg ist sie mit Händen greifbar, die "kulturelle Katholizität." Vom Dom ist es nur eine Viertelstunde bis zur alten Habsburger Residenz. Hier werden im Dämmerlicht der Schatzkammer die so genannten "Reichskleinodien" ausgestellt: Reliquien, Zepter, Reichsapfel, das angebliche Schwert Karls des Großen und seine angebliche Krone: heilige Gegenstände, mit denen die Habsburger ihren Herrschaftsanspruch als Kaiser des heiligen römischen Reichs deutscher Nation und als Stellvertreter Christi legitimierten, erklärt der Kunsthistoriker Franz Kirchweger.

"Die Habsburger haben sich immer als katholische Fürsten definiert, und dadurch blieb für sie die Symbolkraft dieser ganzen Insignien und Zeichen etwas Essenzielles."

Für die nichtkatholischen Untertanen blieb da nur Platz in den Seitengassen. Als Ende des 18. Jahrhundert der aufgeklärte Kaiser Josef II. Protestanten und Juden die Ausübung ihrer Religion gestattete, geschah das unter strengen Auflagen: Ihre Gotteshäuser durften von außen nicht erkennbar sein. So verbirgt sich auch die Synagoge in der Seitenstettengasse hinter einem klassizistischen Wohnhaus. Die diskriminierende Bauvorschriften rettete die Synagoge 1938 vor der Zerstörung durch die Nazis: Ein Feuer hätte die angrenzenden Häuser mit zerstört.

Dieser Teil der jüdischen Geschichte Wiens wird vor der Hofburg erzählt: Seit einem Vierteljahrhundert schrubbt hier ein steinerner Mann auf Knien das Straßenpflaster, so wie 1938 als jüdische Wiener nach dem Einmarsch der Nazis zur Straßenreinigung mit Zahnbürsten gezwungen wurden. Das Mahnmal gegen Krieg und Faschismus von Alfred Hrdlicka war damals in der Öffentlichkeit umstritten, heute fehlt es in keinem Besucherprogramm.

"Wir werden nicht loskommen 70 Jahre nach der Shoah, dass wir darüber auch sprechen."

Es ist auch die Geschichte von Oberrabiner Paul Eisenberg, dessen Eltern den Holocaust in Ungarn überlebten. Ihr Sohn leitet seit fast 30 Jahren die Wiener Gemeinde.

"Wir werden nicht loskommen, Fragen zu beantworten, die uns immer wieder in Bezug auf Israel gestellt werden. Aber es muss eine Komponente geben, wo jüdische Gemeinden sich auch zu Themen äußern, die nicht spezifisch nur jüdische sind, sondern wo es um Menschlichkeit geht, um soziale Belange geht, wo es um Frieden geht."

Zum Beispiel um die allgemeine Wehrpflicht. Die hält der Oberrabiner für überflüssig. Aber wenn der rundliche Gottesmann, der zum Anzug statt Hut gerne auch Basecap trägt, mal wieder als Talkshowgast oder Referent auftritt, wird er kaum auf solche Themen angesprochen.

"Juden haben sogar von dem Propheten Jeremia und auch vom Talmud her die Aufgabe, das Wohl der Stadt zu suchen und mitzuarbeiten."

Zum Wohle des Landes schwammen und kickten die Sportler des jüdischen Sportvereins Hakoah, "die Kraft", in den 20er Jahren auf internationalen Wettkämpfen. Seit drei Jahren hat der Verein wieder sein eigenes Sportzentrum, draußen vor der Stadt zwischen Praterwald und Donau, da wo die Wiener seit Generationen Sport treiben und sich erholen. In der Halle trainieren die Basketballer, draußen planschen die Schüler der jüdischen Schule von nebenan im Schwimmbecken.

Im Foyer erinnern vergilbte Mannschaftsfotos, Zeitungsausschnitte und Pokale an die Vereinsgeschichte. 1925 gewannen die Hakoah-Fußballer sogar den österreichischen Meistertitel, aber ihr Erfolg schützte sie nicht vor der Verfolgung und Ermordung durch die Nazis. Der Clubpräsident und Sportmediziner Paul Haber hatte Glück. Sein Vater Karl Haber, ein bekannter Leistungsschwimmer, konnte mit der Familie in die Schweiz emigrieren.

"Und er hat nach dem Krieg die Hakoah wieder aufgebaut. Es gab Zeiten bei Schwimmwettkämpfen, wo mein Vater der Funktionär war, und meine Schwester und ich sind geschwommen. Und in dieser Zeit bin ich trotzdem österreichischer Meister im Schwimmen geworden."

Die Zeiten sind vorbei, mittlerweile hat der Verein wieder knapp 1.000 Mitglieder. Auch Nichtjuden sind darunter und viele zugewanderte Juden aus Osteuropa. "Suchet der Stadt Bestes"? Haber sieht seinen Club auch als Integrationsmotor:

"Im Jahr 1848 hat es in Wien einige Tausend Juden gegeben. 50 Jahre später hat es in Wien 100.000 Juden gegeben. Daraus hat sich das besondere Wiener Judentum entwickelt, aus dem auch die "Hakoah" entstanden. Jetzt sind wieder 20.000 hier, zum Teil aus Gebieten der Monarchie oder aus Südeuropa. Die kommen nach Wien und werden wieder ein Wiener Judentum entwickeln. Ich glaub', dass wir hier durchaus eine Funktion haben, das Zusammenwachsen dieser Gruppen zu fördern."

Besonders fromm müsse man als Präsident der Hakoah übrigens nicht sein, meint der Clubpräsident, Wiener dagegen schon:

"Die Wiener Geschichte ist meine Geschichte. 1983 war das '300 Jahre Türkenbelagerung', und das war meine Stadt, die da belagert wurde."

Die Türken und Wien: Zweimal belagerte das Heer der osmanischen Herrscher vergeblich die alte Reichshauptstadt. Die Erinnerungen an den Feind von damals lassen sich noch in der Stadt finden. Auf halbem Weg zwischen Stefansdom und Hofburg steht das Haus "Zum Heidenschuss". Ein grimmiger Krieger mit Turban und Bart erinnert hier an die Rettung der Stadt durch einen Bäckergesellen. Der entdeckte der Sage nach während der ersten Belagerung 1529 einen unterirdischen Minengang der Belagerer und rettete so die Wiener.

Sucht man nach den Nachfahren der Belagerer von damals, muss man vom ersten Bezirk mit der Straßenbahn nach Ottakring fahren. Der Kleine-Leute-Bezirk heißt mittlerweile im Volksmund Klein-Istanbul und entlang der Stände auf dem Brunnenmarkt hört man ein Stimmengewirr aus türkisch, arabisch und bosnisch. Nach den Katholiken stellen die Muslime mit acht Prozent die zweitgrößte Religionsgruppe in Wien. Seit einem Jahr ist Senad Kusur einer von ihnen. Der Imam aus Sarajewo leitet die bosnische Gemeinde in Ottakring. Studiert hat er an der islamischen Fakultät seiner Heimatstadt, einer Gründung der katholischen Habsburger und ehemaligen Landesherren von Bosnien-Herzegowina.

"Weil der damalige Staat ein religiöses Gegenüber gebraucht hat, wurde die islamische Gemeinschaft nach demselben Prinzip, wie die katholische Kirche konstruiert."

Mit quasi verbeamteten Gemeinde-Imamen, einem Obermufti und eben einer reform-orientierten islamischen Fakultät.

"Der Islam in Bosnien hat eine Säkularisierung erlebt und dadurch hat es in der islamischen Theologie in Bosnien den Versuch gegeben, den Islam im neuen Kontext zu gestalten."

Eine Erfahrung, die Senad Kusur in Wien hilft:

"Man hat nicht ein Dorf, wo alle Menschen sich untereinander kennen, sondern man hat viele Menschen, die in einer anderen Gesellschaft leben, die sich von der bosnischen sehr unterscheidet und von Zeit zu Zeit haben sie auch das Bedürfnis nach Ritualen, die man halt nur gemeinsam verrichten kann."

Singen zum Beispiel. Der Mädchenchor der Gemeinde ist mittlerweile zur Visitenkarte der Bosnier geworden. Die Chorgründerin Arnela Mesic ist 17, besucht die Handelschule. Wenn sie die Alpen sieht, denkt sie :

"Das ist mein Österreich."

Und sie trägt seit Kurzem Kopftuch:

"Es war kurz vorm Ramadan, ich hab gefastet, und diese Spiritualität, die hat mich so berührt, und danach habe ich mich entschlossen, das Kopftuch ständig zu tragen. Mein Vater war sehr überrascht, er hat als Erstes gemeint: Ich soll erstmal meine Schule fertig machen, Arbeit finden, aber mittlerweile akzeptiert er es auch."

Das hat vielleicht auch mit Imam Senad Kusur zu tun. Der junge Mann mit Brille und schmalem Schnurrbart entspricht nicht nur äußerlich kein bisschen dem Klischeebild des stockkonservativen Islamgelehrten. Er sieht sich vor allem als Seelsorger für alle:

"Mit dem Pfarrer aus dem 14. Bezirk betreue ich gemeinsam eine Gruppe von Misch-Ehe-Familien, und viele haben, obwohl sie früher nicht gläubig waren, zu ihrer Religion zurückgefunden, weil sie gesehen haben: Mein Partner hat eine Religion und gerade das weckt das Interesse an der eigenen Religion."

Dass sich der Imam dabei gegen die eigene Tradition stellt, die Heirat von muslimischen Frauen mit Nichtmuslimen verbietet, ist dem jungen Theologen bewusst:

"Das Einfachste wäre eine religiöse Formel zu verwenden: "Ja,Ihr gehört nicht mehr zum Islam." Aber hilft man dadurch den Menschen? Das ist eine Frage, die sich jeder Seelsorger stellen müsste."

Eine Frage die auch nicht vor der Kindererziehung Halt macht und deswegen hat der Imam mit seinem katholischen Amtsbruder einen ganz neuen Ritus erfunden:

"Vor zwei Monaten haben wir eine gemeinsame Segnung gehabt für ein Kind, wo der Vater ein türkischer Moslem ist und die Mutter eine Katholikin. Und sie haben gesagt: Wir wollen unserem Kind den Glauben nicht aufdrängen, und sie haben sich weder für Taufe, noch für Beschneidung entschieden. So haben der Pfarrer und ich einen gemeinsamen Segen für das Kind gemacht."

Ob Arnela sich vorstellen könnte, einen Christen zu heiraten? Neulich im islamischen Religionsunterricht haben sie über das Thema diskutiert:
"Da gehen die Meinungen schon auseinander. Zum Beispiel ein Mädchen bei mir hat gemeint, sie findet es gut, dass die Eltern den zukünftigen Ehepartner aussuchen. Bei uns in der Familie, da ist das klar, dass das Mädchen oder der Bursche den Partner selber aussucht."

Den islamischen Religionsunterricht als ordentliches Schulfach, in dem Arnela mit ihrer afghanischen Glaubensschwester diskutiert, gibt es in Österreich seit fast 30 Jahren - Auch das ein spätes Erbe der k. und k. Monarchie, denn 1912 wurde der Islam als offizielle Religion nicht nur in Bosnien anerkannt. Darauf konnten sich die Muslime berufen, als sie sich Ende der 70er Jahre in der islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich organisierten und vom Staat als offizieller Verhandlungs- und Vertragspartner anerkannt wurden.

Die für Europa einmalige Situation kam allerdings vor ein paar Jahren in die Kritik: In einer Studie wurde den Religionslehrern Fundamentalismus und Demokratiefeindlichkeit vorgeworfen. Die meisten Lehrer kamen nicht aus Österreich und beherrschten die Sprache nur mangelhaft. Mittlerweile hat sich das geändert: Das Studium wurde neu organisiert, und die Ausbildung zum Religionslehrer an höheren Schulen findet jetzt an einem eigenen Institut der Universität Wien statt.

"Ich meine, wenn die Muslime ihre Zukunft in Europa gestalten möchten, dann muss diese Religion auch eine europäische Gestaltung nehmen,"

definiert dessen Leiter Ednan Aslan das "Ausbildungsziel". Sollte hier neben "kultureller Katholizität" und "Wiener Judentum" etwas Drittes entstehen?

"Wir haben in der Geschichte eine "Bagdader Schule", eine "Kairoer Schule". Wir haben verschiedene Rechtsschulen, die versucht haben, gesellschaftlichen Herausforderungen zu entsprechen. Wenn eine "Bagdader Schule" möglich war, warum soll eine "Wiener Schule" nicht möglich sein?"

Und vielleicht entsteht ja noch etwas Viertes: Da wo sich katholisches und islamisches Wien begegnen. Um die Ecke vom Ottakringer Brunnenmarkt steht die Kirche "Maria Namen", ein wuchtiger Barockbau, der von außen ziemlich herunter gekommen aussieht. Hier wurde Wolfgang Bartsch getauft. Der Beamte hat sein ganzes Leben in Ottakring verbracht. Irgendwann begann er, sich für seine muslimischen Nachbarn zu interessieren, nahm Kontakt auf und organisierte ein Besuchsprogramm.

"Wir haben so einen Kirche- und Moscheetag gemacht, wo wir gemeinsam in die Moschee gegangen sind und dann gemeinsam in die Kirche."

Das nächste große Projekt ist schon in Planung: Nächstes Jahr ist es 100 Jahre her, dass in Österreich der Islam offiziell anerkannt wurde, Ein Grund für eine besondere Reise, fanden Wolfgang Bartsch und Imam Senad Kusur.

"Wir haben im nächsten Jahr 2012 eine Fahrt nach Bosnien geplant, wo wir 40 junge Menschen christlichen Hintergrunds, muslimischen Hintergrunds, mit Wurzeln aus der Türkei, aus Bosnien und aus Österreich gemeinsam auf eine interreligiöse Fahrt bringen wollen."

Vom Hochamt im Stephansdom zum Mahnmal vor der Hofburg, vom jüdischen Sportverein zur bosnischen Moschee in Ottakring – das fromme Wien hat viele Facetten.

"Man hat immer gesagt, wenn die Stadt modern wird, dann wird sie gottlos, das ist nicht der Fall , die Welt wird nicht gottlos, sondern weltanschaulich bunt, farbig,"

sagt der Religionssoziologe Paul Zulehner. Das fromme Wien als bunter Flickenteppich. Ein paar Farben sind über die Jahrhunderte verblasst, ein paar Löcher wurden mühsam geflickt. Ein paar neue Flicken sind dazu gekommen.

In einem alten Wienerlied, das beim Heurigen in den Straußwirtschaften am Stadtrand gesungen wird, heißt es: "Der Herrgott muss ein Wiener sein." Aktuelle Tonaufnahmen gibt es nicht. Vielleicht wird es Zeit für eine Neuaufnahme. Nicht in einer Heurigenwirtschaft, sondern auf dem "Brunnenmarkt" von Ottakring. Der Chor von Arnela Mesic könnte die Umsetzung übernehmen.