Gott, Gebet und Politik

Von Andreas Boueke · 19.05.2010
Keine religiöse Vereinigung wächst derzeit so schnell wie die der Pfingstkirchen. Gerade die Armen der Welt suchen ihr Heil in individuellen Glaubenserfahrungen, die den Pfingstlern weit mehr bedeuten als intellektuelle Glaubenslehren. Auch in Guatemala gehören die meisten Pfingstler der Unterschicht an.
Die holprige Straße ohne Asphalt führt bis zu einer Ansammlung wackliger Bretterhütten, schäbiger Lehmhäuser und weniger Bauten aus unverputzten Steinen. Die Siedlung Las Huertas liegt in einer karsten Einöde im Nordosten von Guatemala-Stadt. Es gibt keine Abwasserkanäle, keine Straßenbeleuchtung, keine Gesundheitsstation und keine Rechtssicherheit.

Zweimal im Monat kommt die junge Frau Esther Raxón in diesen verstaubten Ort. Sie besucht den örtlichen Ableger der größten Pfingstkirche auf dem amerikanischen Kontinent, die Asambleas de Dios. Als Koordinatorin des Jugendbereichs unterstützt Ester Raxón in Las Huertas den Aufbau eines Kinderprogramms.

Sie sitzt auf einer Lehmstufe am Eingang der Kirche und beobachtet zwei Jungen, die im Staub des Vorplatzes mit selbst gebastelten Autos aus Draht spielen. Neben ihr grunzt ein Schwein, hinter ihr piepsen Küken.

"Die Armut hier ist extrem. Gerade die Kinder haben viele Probleme, auch mit sexuellen und psychologischen Misshandlungen. Viele der Kleinsten sind deutlich unterernährt. Manchmal kommen sie allein zu uns in die Kirche ohne ihre Eltern. Dann unterstützen wir sie."

Die Asambleas de Diso sprechen Themen wie sexueller Missbrauch und Inzest offen an. Esther Raxón versucht, den Opfern beizustehen. Ob es aber auch innerhalb der Kirche zu solchen Fällen kommt, wird bisher nicht diskutiert.

Ein Dutzend eifriger Gemeindemitglieder ist damit beschäftigt, den sonntäglichen Gottesdienst vorzubereiten. Sie verzieren die Wellblechwände des Andachtraums mit Palmenblättern. Über den blanken Erdboden verteilen sie Fichtennadeln, auf die dann Holzbänke und Plastikstühle gestellt werden. Inmitten der Geschäftigkeit spielen einige Kinder Fangen. Esther Raxón ist zufrieden.

"Viele der Kinder in den Orten, an die wir kommen, erleben nie einen Moment der Freude. Sie leben in sehr schwierigen Verhältnissen. Mit unserer Arbeit muntern wir sie auf. Sie lernen Gott kennen und seine Liebe. Darum geht es uns."

Die Asambleas de Dios zählen weltweit annähernd 60 Millionen Mitglieder. In Guatemala existieren über zweitausend Gemeinden, vorwiegend in ländlichen Gegenden. Bis in die 70er-Jahre war das Land erzkatholisch. Es gab nur wenige Protestanten. Doch die aggressiven Missionsbemühungen insbesondere der charismatischen Pfingstkirchen waren sehr erfolgreich. Heute bezeichnen sich annähernd die Hälfte der Christen in Guatemala als Mitglieder einer evangelikalen Kirche.

Der Vorgesetzte von Esther Raxón, Samuel Regalado, arbeitet in der Kirchenverwaltung der Asambleas de Dios. Er sitzt in einem spartanisch ausgestatteten Büro der Zone 3 von Guatemala-Stadt - keine besonders exklusive Adresse. An manchen Tagen trägt der Wind den Gestank der nahe gelegenen Müllhalde herüber.

"Unsere Kirche wurde im Jahr 1937 von Bauern in den USA gegründet, Leute aus kleinen Dörfern. Dort liegen unsere Wurzeln, auch wenn wir heute viele sehr unterschiedliche Gemeinden haben. Es gibt jetzt auch Akademiker unter uns. Wir wollen Leute, die das Evangelium studiert haben. Zudem sollen sie ein soziales Bewusstsein entwickeln, um auch anderen helfen zu können."

Samuel Regalado bezeichnet sich selbst als konservativ, in dem Sinne, dass er christliche Werte bewahren will. Er sieht seine Aufgabe darin, der Jugend klare moralische und ethische Werte zu vermitteln. Politisches Engagement lehnt er für sich ab.

"Unsere Lehre besagt, dass die Kirche unpolitisch sein soll. Aber wir motivieren die Leute dazu, ihr Wahlrecht auszuüben, auch wenn wir nie eine spezifische Partei unterstützen."

Die Missionsarbeit von Menschen wie Samuel Regalado ist Teil des Forschungsinteresses des Bielefelder Religionssoziologen Heinrich Schäfer. Für Feldforschungen über die Pfingstbewegung reist der Professor durch ganz Lateinamerika. Die Asambleas de Dios in Guatemala hat er schon mehrfach besucht.

"Der Kirchenfunktionär, der für Jugend zuständig ist, das ist ein unglaublich interessanter Mann. Auf der einen Seite spielt er vollkommen mit in dieser ganzen Frömmigkeit, aber der interpretiert diese Frömmigkeit links und macht mit seinen Jugendgruppen alle möglichen Dinge, die so mit sozialpolitischem Engagement zu tun haben, oder mit sozialem Engagement so im Sinne von Hilfsprojekten in den Barrios."

Samuel Regalado würde sich wohl nie einer Gruppe radikaler Revolutionäre anschließen. Aber den Menschen in den verarmten Gemeinden vermittelt er eine Botschaft, die den gesellschaftlichen Status quo infrage stellt.

"Wir müssen den Jugendlichen und den Kindern beibringen, dass es an der Zeit ist, aufzuwachen, dass sie nicht dieselbe Mentalität ihrer Großeltern und ihrer Eltern haben sollen. Die sind meist apathisch geblieben. Die Jugend soll aufstreben und eine Front bilden, um der Welt Veränderung zu bringen."

Gerade in Lateinamerika gehören die meisten Pfingstler der Unterschicht an. Sie sind die Leidtragenden des neoliberalen Wirtschaftsmodells, Verlierer im Wettstreit um soziale Privilegien, weitgehend teilnahmslose Beobachter der politischen Entscheidungsprozesse. Trotzdem beobachtet Professor Heinrich Schäfer immer wieder, dass sich Pfingstgemeinden bevorzugt um diejenigen Menschen kümmern, die noch weniger haben als sie selbst.

"Die haben ja alle relativ starke ethische Ansprüche, und die lesen die Bibel. Und wenn sie in der Bibel zum Beispiel um die Propheten lesen, dann werden sie ganz schlichte und einfache Dinge da finden, nämlich dass die schreiben, die Witwen und Waisen, auf die kommt es an, wie es den Witwen und Waisen geht. Und dann gucken die sich um und sehen, dass in Guatemala oder Bolivien ... den Witwen und den Waisen es ganz, ganz schlecht geht, weil sich nämlich keiner drum kümmert. Und dann sagen die: 'Das kann ja so nicht gehen.' Und dann machen die, fangen die an son' kleines Sozialwerk zu machen, so eine kleine Suppenküche, und lernen dann dabei, dass die Suppenküche ja ganz schön ist, aber dass es politisch nichts nützt, und auf diese Weise entwickeln die dann die Bestrebung, politisch was zu verändern."

Die Vorbereitungen für den Gottesdienst in dem kleinen Ort Las Huertas sind abgeschlossen. Eben noch stand Pastor Carlos Morales am Eingang der Kirche und hat die ankommenden Gemeindemitglieder mit einem herzlichen Händedruck und einigen persönlichen Worten begrüßt. Dann aber hat er sich zurückgezogen, um zur Ruhe kommen zu können. Er sitzt auf einem alten Baumstumpf hinter den Wellblechplatten der Rückwand der Kirche. Gleich wird er darüber predigen, welche Veränderungen er sich für das Leben der Menschen in diesem Ort wünscht.

"Wenn die Leute in die Kirche kommen, dann erkennen sie, dass sie in der Welt diskriminiert werden, dass sie als unbedeutend angesehen werden. Für sie ist die Kirche ein Ort, der sie motiviert. Das ändert ihre Vision. Sie sagen: 'Wauw.! All die Jahre über habe ich vereinzelt gelebt. Ich habe mich selbst als eine Person angesehen, die nicht wichtig ist, die nichts leisten kann. Aber hier finde ich einen Ort, an dem ich geschätzt werde.' Diese Erfahrung stimuliert und ändert das Bewusstsein der Leute."

Pastor Carlos Morales legt großen Wert darauf, dass sich seine Kirche primär um diejenigen Menschen kümmert, die am Rand der Gesellschaft leben.

"Sie sollen würdevollen Wohnraum haben, in dem sie nicht auf der Erde schlafen. Es soll zumindest einen ordentlichen Fußboden geben und Toiletten. Die Kinder sollen in die Schule gehen können, und es soll Arbeit geben, für die ein angemessener Lohn gezahlt wird. Die Leute sollen Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung haben. Sie sollen sich kleiden können mit Schuhen. Früher haben die Revolutionäre versucht, diese Veränderungen mit Waffengewalt durchzusetzen. Aber das hat nicht funktioniert. Ich glaube, dass die Pfingstkirchen diese Veränderungen erreichen werden - durch Gottes Wort und durch das Evangelium von Jesus Christus."#

Mit der Zeit wird die Musik lauter, dröhnender. Rund hundert Menschen haben sich in dem klapprigen Kirchengebäude zusammengefunden. Einzelne heben beide Arme Richtung Himmel, gefolgt von einem verklärten Blick, der auf die Unterseite der rostigen Wellblechplatten des Dachs schaut.

In einer Ecke hat ein junger Mann in Clownskostüm die Kinder um sich geschart. Die langen Haare seiner bunten Perücke wirbeln durch die Luft. Er dreht sich um die eigene Achse, beide Hände auf die Brust gedrückt. Mit vollem Körpereinsatz schwingt er im Rhythmus der Musik. Dass die längst ohrenbetäubend laut aus den Lautsprechern dröhnt, scheint niemanden zu stören, auch nicht die kleinen Kinder auf den Armen ihrer tanzenden Mütter. Sie sind daran gewöhnt.

Südöstlich der guatemaltekischen Hauptstadt liegt Villa Nueva, eine Stadt, die als besonders gefährlich gilt. Dem Bürgermeister werden freundschaftliche Kontakte zu einflussreichen Gangstern des organisierten Verbrechens nachgesagt. Deren Handlanger, Mitglieder von Jugendbanden, kontrollieren zahlreiche Siedlungen. Die örtliche Mordrate liegt weitaus höher als der nationale Durchschnitt. Guatemala hat knapp 14 Millionen Einwohner, rund 16 Menschen werden täglich ermordet. Nicht zuletzt deshalb bemüht sich die Christliche Kirche des Lebens, "la Iglesia Cristiana Vida" in ihrer Missionsarbeit um ein Programm, das Jugendlichen aus den Armenvierteln Alternativen zum gewalttätigen Leben in den Banden bieten soll. Die Pfingstlergemeinde trifft sich in einer ehemaligen Lagerhalle, durch deren großes Tor früher Lastwagen gefahren sind.
Jeden Donnerstagnachmittag stapelt eine Gruppe junger Männer die Stühle des Gottesdienstraums übereinander. Auf einem Podium aus Brettern steht der Sprecherpult des Pastors. Auf den Boden davor stellen sie mehrere Rampen, nachgeahmte Treppengeländer aus Metall und Plastikhütchen für Zickzackfahrten. So entsteht ein kleiner Parcours für Skateboardtricks, auf dem die jungen Skater üben können.

Manchmal stürzen die Jungen spektakulär. Dann reiben sie sich kurz übers Knie, zeigen aber keinen Schmerz. Das ist Ehrensache. Der 16-jährige Antonio sitzt auf der Kante des Podiums und macht Pause. Er trinkt ein paar Schluck Wasser aus einem weißen Plastikbecher. Vor wenigen Monaten hat er in dieser Kirche seine ersten Rollversuche gemacht.

"Die Gemeinde hat uns ihre Türen geöffnet. Das ist fast unglaublich. Aber mit Gott sind viele Dinge möglich. An anderen Orten werden wir vertrieben, oft mit obzönen Worten. Aber hierher kommen wir gern. Wir sind glücklich, dass es diesen Ort gibt. Hier bekommen wir die Unterstützung, die wir brauchen."

Marvin Martinez, der Jugendpastor der Iglesia Cristiana Vida, sitzt vor seinem Computer in einem düsteren Büro im hinteren Teil der ehemaligen Lagehalle, nur ein paar Meter von dem Skateboardparcours entfernt. Fenster gibt es hier nicht, dafür aber ein Gemälde mit grellen Farben. Eine leuchtende Jesusgestalt trägt stark und liebevolle einen schmutzigen Trinker auf den Armen, dem gerade eine Bierflasche aus der Hand gefallen ist. Auch Marvin Martinez ist ein kräftiger Typ mit freundlichen Augen. Er freut sich, dass die Jugendlichen das Angebot seiner Kirche annehmen.


"Die Jungs sind uns wichtig. Manche Christen, die unsere Kirche besuchen, wundern sich, dass manchmal auf der Plattform neben dem Podium drei Tische stehen, Ping Pong, Tischfußball und Billard. Für einen Teil der Gemeinde war das anfangs schockierend. Aber mit der Zeit haben sie verstanden, dass das Evangelium gerade die Personen einlädt, die besonders bedürftig sind."

Noch vor wenigen Jahren wäre eine solche Skateboardbahn in einer guatemaltekischen Pfingstkirche undenkbar gewesen. Auch heute muss Marvin Martinez dieses Projekt gegen viele Widerstände verteidigen.

"Bei den Pfarrkonferenzen höre ich oft Kommentare von Kollegen. Sie sagen, unsere Gemeinde sei so schnell gewachsen, weil wir unsere Türen für jeden öffnen, für Gangster, für Langhaarige, für Mädchen in engen Hosen. Wir können solchen Druck aushalten, weil es uns befriedigt, das zu tun, was Gott möchte."

Marvin Martinez beteiligt sich nur am Rande an der konkreten Durchführung des Projekts. Die eigentliche Verantwortung hat er einem jungen Gemeindemitglied übergeben, Kevin Alvarado, 21 Jahre alt, begeisterter Skater seit seiner Kindheit.

"Du brauchst nichts außer deinem Brett. Es ist eine sonderbare Kultur. Die Jungs kleiden sich anders, enge Hosen mit Piercings. Sie sprechen auch anders. Es ist schwer vorstellbar, dass sich die traditionellen Kirchen in Villa Nueva für die Jungs öffnen, dass sie sie wie Menschen behandeln, die Gott brauchen. Aber diese Kirche hier hat uns gezeigt, dass sie uns liebt. Viele Leute sagen, die Skater seinen Drogenabhängige und Kriminelle. So sieht sie die Gesellschaft. Aber wenn du es schaffst, ihr Vertrauen zu gewinnen, dann sind sie loyal. Und wenn du ihnen eine gute Botschaft vermittelst, dann nehmen sie sie an."

Kevin hat seine langen Haare im Nacken zu einem Zopf gebunden. Er ist klein, schlank aber athletisch. Unter seinem engen, schwarzen T-Shirt sind deutlich die Muskeln seiner Schultern zu erkennen.

"Viele der Jungs, die als Drogenabhängige hierher gekommen sind, haben sich verändert. Sie sind heute andere Menschen. Einige gehen wieder zur Schule, andere arbeiten."

Einer der besseren Skater der Gruppe ist der 17-jährige Diego. Er kommt leichtfüßig daher, macht elegante Drehungen, geht weit in die Knie, um für seine Sprünge Schwung zu holen. Sein Körper ist dürr, sein Lächeln charmant.

"Ich wohne in einem Viertel, in dem es viele Kriminelle gibt. Da kann ich nicht rausgehen zum Skaten. Ich würde riskieren, überfallen zu werden. Deshalb komme ich hierher zu Kevin. Er hat uns eingeladen. Hier fühle ich mich sicher."