Goslarer Kaiserring

Wiebke Siem trägt goldenen Ring

Goslarer Kaiserring 2014 im Mönchehaus Museum in Goslar (Niedersachsen). Der Kaiserring wird am 11.10.2014 an die Berliner Bildhauerin und Objektkünstlerin Wiebke Siem verliehen.
Goslarer Kaiserring 2014 mit dem Bild von Kaiser Heinrich IV. © picture-alliance / dpa / Holger Hollemann
Von Jochen Stöckmann · 10.10.2014
Ein kleiner goldener Ring mit dem Bildnis des Kaisers Heinrich IV. – so sieht einer der wichtigsten deutschen Kunstpreise aus. In diesem Jahr darf die Künstlerin Wiebke Siem den Goslarer Kaiserring tragen – nach illustren Vorgängern wie Max Ernst, Gerhard Richter und Cindy Sherman. Zum Preis gehört zwar kein Geld, aber eine Ausstellung im Mönchehaus Goslar.
Hände, immer wieder Hände: sie ragen aus beiden Seiten eines Schranks hervor, wickeln sich ab von einer veritablen Kabeltrommel. Und dann baumeln diese Hände auch noch an einer überdimensionalen Weintraube, die Wiebke Siem aus prall gepolstertem Nadelstreifen genäht und im Goslarer Mönchehaus an die Decke gehängt hat. Solche Skulpturen erinnern auf den ersten Blick an Louise Bourgeois. Aber Zeichnungen beweisen, dass die diesjährige Kaiserring-Preisträgerin durchaus ihre eigenen Ideen hat.
Wiebke Siem: "Ich sammle die Zeichnungen, ich hefte die immer in Leitz-Ordnern ab. Und dann blättere ich wieder rückwärts und finde manchmal eine Idee und arbeite weiter daran. Aber der Anfang ist immer: Ich mache eine Planung und dann erst ist die Überlegung: Was für ein Material?"
Nicht das Material, sondern das Sujet leitet die Künstlerin bei ihrer Arbeit. Es sind ins Auge springende Motive – populär und kunstgeschichtlich verbürgt zugleich: Da stechen aus dem braunen Plüschfell eines Fabelwesens muskulöser Solarplexus und nackte Frauenbrüste obszön hervor. Die geometrisch-abstrakte Holzmaske scheint Oskar Schlemmers Gemälden der Bauhaus-Ära entsprungen, andere Gesichter sind in die Länge gezogen wie bei Modigliani. Bei der Wirthausszene mit einem kopflosen, über dem Tisch zusammengesunkenen Zecher und dem umgestürzten Stuhl stand der Zeitgenosse Reiner Ruthenbeck ebenso Pate wie die altmeisterliche holländische Genremalerei.
Archetypisch für diese Arbeitsweise ist ein Teppichklopfer, üblicherweise aus Rattan, hier nun als schwarzes, viereinhalb Meter hohes Gummimonstrum. Was für Wiebke Siem noch bis in die Siebziger hinein ganz konkreter Ausdruck typisch deutscher Erziehungsmethoden war, verwandelt sich in ihrem Kosmos in ein Zeichen, ein Emblem, ein Symbol häuslicher Gewalt. Und dadurch, so ihr fester Glaube, erfährt das ursprüngliche Objekt eine Art kulturhistorischer Wertschätzung.
Wiebke Siem: "Ja, der Teppichklopfer ist natürlich ganz besonders aufgeladen. Natürlich durch die Kunstgeschichte, durch die Verwendung bei Hans Bellmer. Wenn ich bei ebay nach diesem Modell des Teppichklopfers suche, dann ist der immer besonders teuer. Und das muss irgendwie damit zusammenhängen, dass man das eben kennt aus diesen Darstellungen von Bellmer."
Über die erotischen Fotografien des Surrealisten Bellmer hinaus setzt Wiebke Siem eher auf kunstgeschichtliche Vorbilder, die dem Publikum lieb oder geläufig sind, als aktuellen Trends und Zwängen des Kunstmarktes zu folgen.
Wiebke Siem: "Das liegt sicherlich auch daran, dass ich sehr zurückgezogen bin und wenig unterwegs bin im Kunstbetrieb. Wenn man auf jeder Eröffnung und auf jeder Party ist, dann fallen die Kontakte natürlich leichter."
Geschwätzige Kunstvermittlung en vogue
Und mit diesen Kontakten – so die Klage der Künstlerin – ziehen ihre Kollegen auch die gesamte Aufmerksamkeit der Kuratoren auf sich. Damit aber, so meinte die Jury des Kaiserrings, sollte jetzt Schluss sein.
Juryvorsitzender Wulf Herzogenrath: "Die Kunst für Kuratoren muss schwarzweiß und verkopft und diskursfähig sein – um darüber einen großen Essay zu schreiben, der sich abheben kann vom Werk. Bei ihr ist es genau umgekehrt: Ihr Werk ist so kraftvoll, so mächtig, bohrt sich so banal in die Realität ein, dass ich erst einmal zurückschrecke."
Diese Schrecksekunde hätte ein Moment der Erkenntnis sein können: Festzustellen bleibt, dass diese Preisträgerin nicht nur keinen großen Namen hat – sondern auch keinerlei Konzept verfolgt, keine "Position" besetzt.
Wiebke Siem: "Mein Gott, ich arbeite an Skulpturen und suche immer wieder neue Motive für meine Skulpturen. Also: ein strategisches Interesse? Ich weiß gar nicht, ob man als Künstler ein strategisches Interesse verfolgen kann. Wenn ich Wissenschaftler wäre und würde mich an der Moderne abarbeiten, als Wissenschaftler, da könnte oder: müsste ich strategisch vorgehen. Aber als Künstler geht man nicht strategisch vor."
In der Nachfolge Marcel Duchamps gab es allerdings Künstler, deren Werke mit strategischem Geschick die Paradoxien der Moderne zum Ausdruck brachten, die zugleich Kunst und Nicht-Kunst waren, abstrakte und figurative Malerei, Skulptur und ready made.
Wiebke Siem: "Die lassen das offen, während ich sehr viel darüber rede. Aber ich bin wieder und wieder missverstanden worden. Das hat eben auch damit zu tun, dass mein Werk noch nicht so selbstverständlich im allgemeinen Bewusstsein ist. Irgendwann kann ich wahrscheinlich aufhören darüber zu reden und die Leute wissen, wie es gemeint ist."
Solange aber die Betrachter wissen müssen, was gemeint war, statt selber zu sehen, was sich möglicherweise gegen den Willen der Künstlerin ins Werk eingeschlichen hat – solange darf diese Entscheidung der Kaiserring-Jury als ungewöhnlich gelten, ein Wagnis aber war sie gewiss nicht. Denn längst ist diese Verdrängung des scharfsichtigen und scharfsinnigen Kunsturteils durch eine allzu geschwätzige Kunstvermittlung en vogue – und sie hat auch einen Namen: "Betreutes Sehen".
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