Gorny: Publikum will Authentizität statt "theatralisch aufgemotzten Standardpop"

Dieter Gorny im Gespräch Gabi Wuttke · 31.05.2010
Der Vorsitzende des Bundesverbandes Musikindustrie, Dieter Gorny, sieht im Sieg von Lena Meyer-Landrut beim Eurovision-Song-Contest einen Beleg dafür, dass sich der Publikumsgeschmack gewandelt hat. Es gebe ein Interesse an "ungekünstelter Darbietung".
Gabi Wuttke: Selbst Hape Kerkeling war die Spucke weggeblieben, was Einiges heißen will, als Lena Meyer-Landrut den Eurovision Song Contest für Deutschland abräumte. Optimisten hatten auf so ein Ergebnis gehofft, Pessimisten vor einem weiteren Reinfall gewarnt, war der Medienrummel doch unvergleichlich. Von Dieter Gorny, einem der erfahrensten und einflussreichsten Musikmanager Deutschlands, wollte ich wissen, wer denn in Oslo eigentlich gewonnen hat – Lena oder Stefan Raab?

Dieter Gorny: Oh ich denke, das ist Lena. Stefan hat gesucht und gefunden, Stefan hat sicherlich im positiven Sinne eine Welle erzeugt, die weit über das Interesse am Song hinaus ging, aber am Ende stand dann da eine Person auf der Bühne, die ich denke mit ihrer Authentizität überzeugt hat. Sie hat sich selber einfach nur dargeboten und insofern muss man summa summarum sagen: Lena hat gewonnen!

Wuttke: Also eine gutaussehende junge Frau mit einer gehörigen Portion Charme ist das, was sie ausmacht, aber nicht, dass sie unbedingt singen kann?

Gorny: Na ja, das Phänomen bei der Popmusik ist ja nicht, dass Sie wie im klassischen Sinne eine ausgebildete Stimme haben müssen, sondern das Phänomen ist, dass man Eindruck machen muss, sich selbst herüberbringen muss, und dass Musik, Stimme, Person möglichst eine Einheit sind. Und das hat bei ihr geklappt.

Wuttke: Hat das geklappt, hätte es in jedem Fall geklappt oder hat das auch was mit der Konkurrenz in diesem Jahr zu tun gehabt?

Gorny: Also ich glaube, es hat was damit zu tun, dass das Publikum – das scheint wohl vielleicht ein Trend zu sein – Interesse hatte, so jemanden zu finden, Interesse hatte an relativ ungekünstelter Darbietung, eben an einer Persönlichkeit und nicht, wie das ja leider gerade beim Grand Prix oft so üblich ist, an sehr viel theatralisch aufgemotztem Standardpop. Und da scheint sich wohl eine Trendwende vollzogen zu haben, ohne dass die anderen das gemerkt haben und insofern war sie genau zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle mit dem richtigen Song und der richtigen Persönlichkeit.

Wuttke: Na ja, nur ein relativ martialisches Auftreten hatte Griechenland, hat immerhin einen der vorderen Plätze erreicht, was ich sehr, sehr erstaunlich fand, denn es ist doch eigentlich genau das gewesen, was Sie gesagt haben, was gar nicht mehr so angesagt ist?

Gorny: Na ja, aber das heißt ja nicht, dass so eine Trendwende dann sofort vollständig erfolgt, zumal ich auch immer wieder warnen würde, jetzt hinter den Votings und douze points oder Ähnlichem mehr großartige musikalische Geschmackswellen zu vermuten. Auch das ist eine große Fernsehshow, ein Riesenspektakel mit Musik. Es lebt von der Musik, aber es ist eben nicht nur Musik und insofern spielt das ganze Drumherum, ob bei der privaten Konkurrenz, bei DSDS oder hier, beim Eurovision Song Contest, also dieses theatralische Moment, um immer einen großen Antreiber, es soll halt auch ein spannender, schöner Fernsehabend sein.

Wuttke: Sagen uns noch mal, gehörten Sie zu den Optimisten oder zu den Pessimisten?

Gorny: Ich mache mir überhaupt nichts aus solchen Wettbewerben, aber ich habe das ja natürlich mitgekriegt, auch aus professionellen Gründen, und hab geschwankt. Ich habe gesagt, es könnte tatsächlich sein, weil sich dieser Hype ja fortsetzte, dass da auf einmal jemand kommt, der einfach nur er selber ist, und das mit sehr viel Talent – also in diesem Fall sie selber ist – und dass das tatsächlich die Leute beeindruckt, wenn sie es schafft (und das war für mich der Schlüssel), das in dieser gigantischen Räumlichkeit, in der sie ja fast einsam wirkte, trotzdem authentisch beizubehalten. Und als sie das dann getan hatte, dachte ich, da könnte was anlaufen, mit dem wir alle nicht gerechnet haben. Dass das dann allerdings so rauschend durchs Ziel lief, hat mich selbst überrascht, hat vielleicht – das ist jetzt ein bisschen böse – vielleicht auch etwas damit zu tun, dass die Leute bei allem Hingucken diesen wagnerianischen Theatralikpop einfach überdrüssig sind und dann umso dankbarer sich mal etwas schnappen, was das genaue Gegenteil ist.

Wuttke: Hat nach dem, was Sie sagen, Lena, also bei professioneller Betreuung das Zeug für eine dauerhafte Karriere, oder wird man diesen Sieg und die Person jetzt schockfrieren und dann kriegt sie einen hübschen Sockel und wird als das neue, sympathische Deutschland nach Nicole auf einen Sockel gestellt?

Gorny: Ja das ist natürlich eine sehr, sehr spannende und alles entscheidende Frage, weil das Mädchen ja ganz bewusst nicht angetreten ist, um zu sagen: Ich will Popstar sein. Weil das Ganze, was wir jetzt erlebt haben, ganz bewusst nicht geschehen ist, um auf langfristig angelegt zu sein. Ich habe danach auch so spontan gedacht, ich würde dem Mädchen zutrauen, dass sie sagen würde, so ich höre jetzt erst mal auf zu singen und mache eine Ausbildung, Abitur oder Ähnliches mehr, oder studiere erst mal fertig. Das wird jetzt sehr davon abhängen, wie man das Ereignisbezogene dann so sehr transformiert in die Person, dass am Ende nur gute Musik übrig bleibt, und da leider entscheidet sich ja immer die Spreu vom Weizen und das wird sehr davon abhängen, ob sie das, was jetzt kommt, wirklich will, und ob sie wirklich in ihren Plänen hat, eigenständig und auch durchaus eigenwillig, wie sie ja rüberkommt mit all ihrem Charme, ob sie wirklich da als Zielvorgabe für sich selber hat: Ich werde jetzt Popstar!

Wuttke: Raabs Konzept ist aufgegangen und damit die erste Kooperation von öffentlich-rechtlichem und privatem Rundfunk. Steht da jetzt ein Scheunentor offen?

Gorny: Das ist natürlich ein wirklich spannender Aspekt, den Sie da gerade berühren! Es ist natürlich Stefan Raab selber als Multitalent, nicht nur als großer Entertainer, sondern auch als großer Musiker, der es dann hingekriegt hat, einen Kontrapunkt zu setzen, indem man sich wirklich sehr ernsthaft um die Musik gekümmert hat und damit auch gleichzeitig eine Brücke gebaut hat zwischen Privat und Öffentlich-Rechtlich. Ich glaube, das Scheunentor ist da grundsätzlich nicht offen, da muss ein Link her. Und so viele Links wie Stefan, also so viele Bindeglieder zwischen den Systemen gibt es dann doch nicht, muss ich so sagen ...

Wuttke: Aber ein Link reicht ja manchmal.

Gorny: Ja natürlich, das wird, denke ich, wird sich auch fortsetzen. Das wird aber keine grundsätzliche Öffnung der Systeme bedeuten, denn dazu sind sie sich, wenn sie sich gegenseitig ernst nehmen, die eine öffentlich-rechtliche Seite, die ja aus bewussten Gründen Gebühren bekommt, und die andere private, dann doch glücklicherweise doch nicht ganz so nah und ganz so ähnlich.

Wuttke: Im Interview der "Ortszeit" von Deutschlandradio Kultur der Musikmanager und Vorstandschef des Bundesverbandes Musik, Dieter Gorny. Ich danke Ihnen schön, schönen Tag!

Gorny: Danke Ihnen auch!
Mehr zum Thema