Golem-Legende

Symbol unserer eigenen Ängste und Sorgen

Golem-Statue auf dem Rathausplatz in Prag
Der Rabbi Löw soll der Legende nach einen Lehmklumpen zum Leben erweckt und so den Golem erschaffen haben. © imago/CTK Photo
Von Kirsten Serup-Bilfeldt · 27.11.2015
Vor allem in politischen und sozialen Krisenzeiten tauchte er immer wieder auf: der Golem. Seine Überreste sollen auf dem Dachboden der Altneusynagoge in Prag aufbewahrt werden. Und in Prag spielt auch der vor 100 Jahren erschienene Golem-Roman von Gustav Meyrinks.
"Zwischen den Gräberzeilen hinten an der Mauer geht jemand suchend umher. Vor einem Grab bleibt er stehen, beugt sich darüber. Vielleicht legt er ein Steinchen darauf, dem Toten zum ehrenden Angedenken."
Vielleicht aber, so vermutet der Schriftsteller Gustav Meyrink, schiebt er auch in einen Riss des Grabsteins ein Zettelchen mit einem geheimen Wunsch; denn den Glauben an die Wunderkräfte des hier Bestatteten, konnten auch die Jahrhunderte nicht erschüttern:
"Schon streicht der Nebel um das Grab des berühmten Rabbis. Die Umrisse der Grabmale verschwimmen. Nahes entfernt sich, und Entferntes ist nah. Der Schritt des letzten Friedhofbesuchers verhallt. Dann nur noch Stille und Dämmer. Es ist die Stunde, da Sagen und Märchen zum Leben erwachen. Hören wir ihnen zu."
Und gehen dazu vom alten jüdischen Friedhof in Prag zur ältesten Synagoge Europas – der Altneusynagoge.
"Ein Rabbiner soll da einen künstlichen Menschen geschaffen haben, eben den Golem, ein dumpfes halbbewusstes Lebewesen. Und einmal habe ihn die Tobsucht befallen, da ist er durch die Gassen gerast und hat alles zertrampelt, was sich ihm in den Weg gestellt hat. Da hat der Rabbiner den Golem erschlagen. Der Golem ist zusammengeschrumpft und nichts blieb von ihm übrig als eine verkrüppelte Lehmfigur, die noch heute in der Altneusynagoge gezeigt wird."
Die Synagoge und der Friedhof, der Rabbiner und der Unbekannte – all das sind Facetten, die sich um den Rabbi Löw und um die Sagenfigur des Golems ranken. Und die Kulisse für all diese Geschehnisse, ist das jüdische Prag:
"Prag war bis ins 18. Jahrhundert hinein die größte jüdische Gemeinde in Europa und die gelehrteste Gemeinde – voll mit Geschichten … In diesem Zentrum – böhmisch, mährisch, südpolnisch, deutsch – spielt sich das dann ab …"
Der Judaist Michael Brocke.
"Es ist also eine Mischung aus den Mysterien des noch nicht sanierten Paris und Dickens‘ Londoner Slums …"
Der Literaturwissenschaftler Volker Neuhaus:
"In diesem Roman, der ja für ihn der große Durchbruch war, in dem renommierten Expressionistenverlag Kurt Wolff erschienen, gibt es eine unglaublich spannende und hochbrisant Mixtur aus Okkultismus, Kabbalah, eine Mordgeschichte und vor allem eine Beschwörung des untergegangenen Prager Judenghettos in expressionistischer Verzerrung … Das ist eben hier ins Prager Judenviertel verlegt und sehr dicht und sehr schauerlich …"
Bei Meyrinks erwacht der Golem alle 33 Jahre
In Meyrinks Buch, das der Prager Künstler Hugo Steiner mit seinen düsteren Lithografien illustrierte, erwacht der Golem alle 33 Jahre – der Zeitraum umfasst die Lebensspanne Jesu und erinnert gleichzeitig an die Legende von Ahasver – zu neuem Leben und zeigt sich den Ghettobewohnern als Phantom, das für Angst und Schrecken sorgt:
"Ein fremdartiger Mensch in altmodischer verschossener Kleidung kommt aus der Richtung Altschulgasse her, geht hier durch die Gassen und verschwindet dann wieder im Nirgendwo. Alle, die ihn sehen sind wie gelähmt."
"Gustav Meyrink beschäftigte sich mit Mystizismus und Spiritismus, was damals eine Modewelle war als Reaktion auf das materialistische Zeitalter …
Da lag das quasi in der Luft und Meyrink ist damit ein Bestseller gelungen."
Sein "Golem" erscheint 1915 und gilt als der populärste Roman aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Das Buch wird ein solcher Erfolg, dass es sofort in preiswerter Sonderausgabe als Frontliteratur in die Schützengräben wandert.
Berichtet wird darin von den unheimlichen Erlebnissen – oder auch Träumen, das wird nie so ganz klar – des Gemmenschneiders Athanasius Pernath im Prager Ghetto. Kunstvoll verbindet Meyrink die Elemente einer Kriminalgeschichte mit denen eines Schauerromans. So entsteht ein düsteres Stimmungsbild, das eine untergehende Epoche mit ihrem gesellschaftlichen Verfall und dem Zerbrechen menschlicher Beziehungen spiegelt.
Volker Neuhaus hat dieser Roman immer fasziniert:
"Als äußerst vielschichtiges Buch. Gustav Meyrink, der Verfasser hatte selbst ein etwas abenteuerliches Leben. Von Haus aus war er Bankier, geriet dann als Bankier in einen Betrugsverdacht, kam in Untersuchungshaft und danach konnte er in dem Beruf nicht mehr tätig werden obwohl er rehabilitiert war."
Doch die Geschichte des Golems ist viel älter als die Legenden und Sagen, die sich in vielen europäischen Ländern um diese Figur ranken. Der Name "Golem" findet sich bereits im Alten Testament – im Psalm 139 und bezeichnet im Hebräischen eine "noch ungeformte" Masse. Und auch in der talmudischen Haggadah, einer Sammlung von Erzähltexten, Sagen und Geschichten, wird "golem" oder "gelem" als eine Art unvollendete Materie definiert:
"Und diese Materie wartet darauf, geformt zu werden, und daraus entspringen dann allerlei Überlegungen, die schon sehr früh eingesetzt haben, was denn das Verhältnis dieser Materie zum Schöpfer, zur Schöpfungskraft, zur Zeugungskraft und zur Kraft des Menschen ist, und wie sich das zueinander verhält."
Aus dieser "Grundsubstanz" der Sage entwickelt sich im Lauf der Jahrhunderte eine Fülle unterschiedlichster Versionen. Erste Bruchstücke der Volkssage vom Golem tauchen im 12. Jahrhundert auf, als in Worms ein hebräischer Kommentar zu einem Traktat der frühen jüdischen Mystik erscheint. Dieses Werk "Sefer Jezirah", das "Buch der Schöpfung", gehört zu den ältesten und geheimnisvollsten Texten der Kabbalah:
"Er band ihm die zweiundzwanzig Buchstaben der Torah an die Zunge und der Heilige, gesegnet sei er, offenbarte ihm ihre Geheimnisse. Und er machte sie zur Zugkraft des Wassers, zum Brennen des Feuers und zum Rauschen des Windes, er machte sie zur Leuchtkraft der sieben Sterne und zur Führungskraft der zwölf Sternbilder."
"Wir sind mit der Exegese dieses kleinen, in wunderbarem Hebräisch geschriebenen Büchleins noch nicht so weit; es herrscht ein Streit zwischen den Gelehrten darüber, wann es genau entstanden ist, ob es etwas ursprünglich Jüdisches ist oder aus einer anderen Welt und hebraisiert wurde."
Der Golem als Projektion gesellschaftlicher Krisen
Von Worms aus findet die Legende ihren Weg in viele europäische Regionen und kommt irgendwann in Prag an. Dort in der mystisch-alchemistischen Atmosphäre am Hof Kaiser Rudolfs II., der eine ausgewiesene Schwäche für Geheimwissenschaften besitzt, vermischt sie sich mit der Figur des Rabbi Jehuda Löw. Der gelehrte Rabbiner, der 1609 starb und auf dem jüdischen Friedhof in Prag begraben liegt, wird zur zentralen Figur der Golem-Legende, obwohl er ursprünglich in keinerlei Zusammenhang mit Düster-Dämonischem und auch nicht mit der Golem-Sage gebracht werden kann.
Dennoch: Der Rabbi Löw geht als der Mann in die Geschichte ein, der einen Lehmklumpen zum Leben erweckt und so den Golem erschaffen hat. Und der immer wieder die Fantasie des abendländischen Menschen beflügelt hat:
"In Dramen, Opern, einem der berühmtesten Stummfilme der zwanziger Jahre – Paul Wegeners 'Golem'. Dadurch wird das multipliziert und trifft auf offene Ohren, sodass eine ganz breite populäre, weit über den Kreis jüdischer Gelehrter hinausgehende Welle entsteht, die sich des Golems bemächtigt – zum Guten und zum weniger Guten."
Die Gestalt des Golems tritt kaum persönlich auf; sie scheint vielmehr ein Phantom, eine Art Symbol des jüdischen Viertels und seiner Bewohner zu sein. Die Grenzen zwischen Fantasie, Traum und Wirklichkeit sind durch den virtuosen Aufbau des Romans geheimnisvoll verwischt. So, wie Pernath beispielsweise von dem verborgenem Zimmer erfährt, in das der Golem einst verschwunden sein soll, so ist auch er auf der Suche nach dem Raum, in dem seine eigenen Erinnerungen eingeschlossen sind:
"So, wie man zurückwandern kann in die Tage der Vergangenheit, so muss man auch wandern können in die andere ferne Heimat, die jenseits allen Denkens liegt. Du ziehst an dem Griff der Falltüre bis es gelingt, die schwere Platte zu heben: Zuerst nichts als Dunkelheit, dann sehe ich schmale, steile Stufen, die in die Finsternis hinabführen. Ich steige hinunter, taste mich an den Mauern entlang, tief hinunter – einer jener zahllosen Gänge, die ohne Zweck und Ziel unter dem Ghetto hinführen. Nischen, feucht von Schimmel und Moder, Windungen, Ecken und Gänge nach rechts und nach links, Reste einer alten Holztür."
"Da kommen Doppelgänger vor, Somnambulismus, Fernhypnose, alles, was man sich denken kann. In einem alten Tarockspiel findet der Held sein Leben wieder; auf den Karten seine Doppelgänger. Dass man sich selbst in einem Buch wiederfindet – das alte romantische Motiv ist hier wiederbelebt. Und es ist ein spannendes, sehr gut erzähltes Buch."
Und so wandert der Golem vor allem in Zeiten der Gefahr umher. Als Bedrohung, aber auch als Retter. Als Projektion der gesellschaftlichen Krisen einer Epoche und – als Symbol unserer eigenen Ängste und Sorgen.
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