Donnerstag, 28. März 2024

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Patientenmord
Was Krankenhäuser bei einem Verdacht tun können

Niels Högel soll auf Intensivstationen über 90 Menschen getötet haben. Von vielen Seiten würden deshalb Forderungen laut, anonyme Meldesysteme in Krankenhäusern zu etablieren, sagte Journalist Volkart Wildermuth im Dlf. Neue Meldewege könnten in Zukunft verbindlich vorgeschrieben werden.

Volkart Wildermuth im Gespräch mit Christian Floto | 05.09.2017
    Niels Högel beim Prozess vor zwei Jahren
    Niels Högel soll über 90 Menschen auf dem Gewissen haben (dpa/picture alliance)
    Es ist die größte Mordserie in Deutschland. Der Täter: Ein Krankenpfleger. Niels Högel soll auf Intensivstationen über 90 Menschen getötet haben, erst in Osnabrück, dann in Delmenhorst. Mit Medikamenten hat er bei Patienten einen künstlichen Herzstillstand ausgelöst und dann versucht, sie wieder zu reanimieren. Wohl, um als besonders kompetenter Lebensretter dazustehen. Das gelang ihm wohl häufig, häufig aber auch nicht. Die Menschen wurden Opfer seines Drangs zur Selbstdarstellung. Es handelt sich hier um einen besonders extremen, aber nicht um einen Einzelfall.
    Klar ist: Die überwiegende Mehrheit der Pflegekräfte und Mediziner tun alles, um ihre Patienten zu heilen. Aber was können Krankenhäuser tun, um die ganz wenigen, gefährlichen Personen am Krankenbett zu identifizieren?
    Christian Floto: Mein Kollege Volkart Wildermuth ist uns aus Berlin zugeschaltet. Herr Wildermuth, die Morde von Niels Högel liegen zum Teil Jahre zurück, es werden jetzt mehr als hundert Leichen exhumiert und untersucht. Lässt sich nach so langer Zeit noch etwas nachweisen?
    Volkart Wildermuth: Das ist natürlich schwer, aber die Toxikologen haben sehr moderne Analyseverfahren. Wenn tatsächlich noch Gewebe von einem Leichnam vorhanden ist, dann können sie daraus einen Extrakt herstellen, die Bestandteile auftrennen und noch winzigste Spuren mit sogenannten Massenspektrometern nachweisen. Die Befunde werden dann mit Datenbanken vergleichen. Niels Högel hat zum Beispiel Überdosen des Herzmittels Gilurytmal bei seinen Taten verwendet. Der Berliner Toxikologe Fritz Pragst sagt, das lässt sich tatsächlich auch noch nach Jahren nachweisen. Allerdings ist die Mengenbestimmung sehr schwierig. Das heißt, wenn dieser Patient das Medikament sowieso erhalten hat, dann kann niemand mehr sagen, ob es die korrekte Dosis war oder eine tödliche Menge. Wenn in der Krankenakte aber nichts von Gilurytmal steht, dann ist klar: Hier stimmt etwas nicht. Generell gibt es also bei synthetischen Medikamenten, die von Bakterien kaum abgebaute werden, also gute Chancen, sie noch nachzuweisen. Anders sieht es bei Substanzen aus, die sowieso im Körper vorkommen, etwa bei Kalium. Es ist in großen Mengen tödlich und wird auch bei Hinrichtungen in den USA verwandt. Aber nachweisen lässt sich eine Überdosis kaum. Andere Täter am Krankenbett haben große Mengen Luft in die Adern injiziert. So etwas fällt nur bei einer Obduktion direkt nach dem Tod auf.
    Floto: Obduktion, das ist ein wichtiges Stichwort. Denn eine der Forderungen nach der Mordserie war ja, die Obduktionsquote in Krankenhäusern zu erhöhen, auch um so etwas zu entdecken.
    Wildermuth: Da geht es in erster Linie um die ganz allgemeine Qualitätssicherung in den Krankenhäusern, aber tatsächlich wäre ein Nebeneffekt, dass solche Mörder eben schneller auffallen. Das neue Krankenhausstrukturgesetz ist Anfang 2016 in Kraft getreten und fordert eine Mindestobduktionsquote. Die Details werden aber im Rahmen der Selbstverwaltung zwischen den Ärzten, den Krankenhäusern und den Krankenkassen festgelegt. Noch ist da nichts endgültig unterschrieben. Aber es soll in diesem Jahr bei 7,5 Prozent der Todesfälle in jedem Krankenhaus einen Obduktion geben - bis 2019 soll diese Quote dann auch 12,5 Prozent ansteigen. Ganz einfach ist die Umsetzung nicht, weil ja auch die Angehörigen zustimmen müssen, aber hier bewegt sich etwas in die Richtige Richtung.
    Es ist nicht möglich, jede Leiche zu obduzieren, das ist auch nicht sinnvoll. Meistens gibt es nur eine Leichenschau, bei der die Ärzte die Todesursache feststellen. In Delmenhorst ist man dazu übergegangen, nach der hausinternen Leichenschau jede Leiche noch von einem externen Rechtsmediziner begutachten zu lassen. Wie gesagt, das ist keine Obduktion, aber Rechtsmediziner sind speziell für die Leichenschau ausgebildet. Der Sonderausschuss des Niedersächsischen Landtages zur "Stärkung der Patientensicherheit und des Patientenschutzes", der nach der Mordserie in Delmenhorst und Oldenburg eingerichtet wurde, fordert im Übrigen, dass bei jeder Leichenschau auch das Blut untersucht werden sollte. Aber dafür müssten die Angehörigen zustimmen und es ist unklar, wer diese ganze Blutproben dann analysieren würde.
    Floto: Welche weiteren Vorschläge gab es da?
    Wildermuth: Eine ganze Reihe. Zum Beispiel sollte es an jeder Klink eine Arzneimittelkommission geben, der es auffällt, wenn auf einer Station besonders viele problematische Substanzen eingesetzt werden. Die gibt es im Übrigen schon an vielen Kliniken betont die Deutsche Krankenhausgesellschaft. Etabliert sind auch sogenannte Todesfallbesprechungen, bei denen Fälle von unerwartet verstorbenen Personen diskutiert werden. Viele Krankenhäuser erheben auch Statistiken zu einzelnen Stationen, die Todesfälle und Komplikationen registrieren. Entscheidend ist aber, was macht man mit solchen Informationen? In Oldenburg war aufgefallen, dass es in den Schichten von Niels Högel besonders häufig zu Reanimationen kam. Aber statt die Polizei zu informieren, versprach man dem Mann ein gutes Zeugnis, wenn er nur ginge. Und so konnte er in Delmenhorst einfach weitermachen. Das wird auch noch strafrechtliche Konsequenzen haben. Generell wird aber von vielen Seiten gefordert, anonyme Meldesysteme zu etablieren, an die sich Kollegen wenden können, wenn ihnen etwas auffällt. Das bestehende "Berichtssystem für sicherheitsrelevante Ereignisse im Krankenhaus" ist dafür bislang nicht ausgelegt. Nach dem Fall der mordenden Krankenschwester Irene B. hat die Berliner Charité zusätzlich einen externen Anwalt beauftragt, an den sich die Mitarbeiter auch anonym wenden können. Derzeit wird die "Richtlinie zum Risikomanagement in Krankenhäusern" überarbeitet, da könnten solche neuen Meldewege auch verbindlich vorgeschrieben werden.
    Floto: Piloten haben wie die Heilberufe eine besondere Verantwortung und werden deshalb bei der Einstellung psychologisch untersucht. Müsste es so etwas auch für Ärzte und Pfleger geben?
    Wildermuth: Mit dieser Frage hat sich auch der Sonderausschuss in Niedersachsen beschäftigt und sie am Ende verneint. Einmal aus praktischen Gründen, es gibt einfach viel mehr Pfleger als Piloten, aber auch, um hier keinen Generalverdacht auszusprechen. Die Krankhäuser in Deutschland haben über eine Million Mitarbeiter, die alles tun, um Menschen gesund zu machen. Und meistens gelingt es ihnen ja auch. Bei den mordenden Pflegern handelt es sich um extreme Ausnahmen. Der Psychiater Karl Beine von der Universität Witten Herdecke hat diese Fälle systematisch untersucht. Ihm ist aufgefallen, dass die Täter oft sehr unsicher sind. Von den heilenden Berufen erhoffen sie sich Prestige. Sie arbeiten sehr engagiert, sind aber gleichzeitig, vielleicht auch gerade deswegen, überfordert und sehr verschlossen. Das trifft aber auf viele Menschen zu. Diese Einsichten helfen, die Taten im Nachhinein zu verstehen, aber sind zu unspezifisch, um problematische Bewerber im Vorfeld zu erkennen. Generell plädiert Beine dafür, die Arbeitsbelastung im Krankenhaus nicht noch weiter zu erhöhen. Und bei Hinweisen schnell zu reagieren. Fehlerkultur ist ja generell ein wichtiges Stichwort im Krankenhaus, problematische Dinge nicht vertuschen, sondern ihnen offen nachgehen. Das dürfte der wichtigste Schutz sein, gegen die ganz, ganz wenigen gefährlichen Pfleger und Mediziner.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.