Globalisierung

Welt ohne Grenzen? Eine "Fehlvorstellung"

Udo Di Fabio, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht.
Udo Di Fabio, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht. © picture alliance / dpa / Rainer Jensen
Udo di Fabio im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 26.04.2016
Trotz Globalisierung bleiben Grenzen bestehen, wenn sie auch nicht mehr so hermetisch wirken wie früher, meint der frühere Verfassungsrichter Udo di Fabio. Allerdings müsse diskutiert werden, wer sich auf das Schutzversprechen des Artikel 1 GG berufen dürfe.
In einer globalisierten Welt, in der Nationalstaaten immer mehr Macht an übernationale Instanzen wie die EU abtreten, sind Grenzen überholt und ohne Bedeutung - so wird jedenfalls häufig argumentiert. Nach Ansicht des früheren Bundesverfassungrichters Udo di Fabio ist diese Annahme jedoch eine "Fehlvorstellung".

Schwanken zwischen vollständiger Grenzschließung und -öffnung

"Die Grenzen wandeln sich, sie wirken nicht mehr so hermetisch, sie können nicht mehr vollständig geschlossen werden", sagt di Fabio. "Aber die Grenze zwischen Innen und Außen bleibt bestehen, sogar in Europa, wie wir sehen."
Derzeit schwanke Europa zwischen Konzepten der vollständigen Grenzschließung einerseits und einer "fast ebenso vollständigen Grenzöffnung" andererseits.
"Was sich jetzt auspendelt in Europa, ist einerseits die Rückgewinnung der Kontrolle über Grenzen, andererseits aber auch eine abgeschichtete internationale Schutzverantwortung."

Für wen gilt das Schutzversprechen des Art. 1 GG?

Di Fabio zufolge besteht vor dem Hintergrund von Globalisierung und Internationalisierung außerdem Bedarf, die Würde des Menschen neu zu diskutieren:
"Wer kann sich auf das Schutzversprechen des zweiten Satzes dieser Vorschrift [Art. 1 GG] berufen? Gilt das weltweit für alle Menschen oder ist das abhängig von der Institution des Verfassungsstaates, der auch seine Identität und Funktionsfähigkeit schützen muss?"

Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: In der Charta der Vereinten Nationen und im Grundgesetz stehen sie ganz vorn, die Menschenrechte. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Dieser Schutz ist die Basis unseres Zusammenlebens, und dennoch zeigt ja die Realität, dass dieser Satz beileibe keine Selbstverständlichkeit ist. Immer wieder werden Menschen angegriffen, einfach weil sie anders sind.
Wie lassen sich eigentlich Freiheit und Selbstbestimmung bewahren in diesen Zeiten, da sich viele Flüchtlinge zu uns retten? Im Rahmen der Berliner Stiftungswoche hält heute der einstige Verfassungsrichter Udo Di Fabio eine Rede: "Die Würde des Menschen in einer offenen Welt" ist deren Titel. Di Fabio hat sich ja schon immer in die Politik eingemischt, auch mit einem Gutachten im Auftrag der CSU zur Flüchtlingspolitik. Er ist jetzt am Telefon, schönen guten Morgen.
Udo Di Fabio: Schönen guten Morgen, Frau von Billerbeck!

Schutz der Menschenwürde Grundrecht und programmatische Norm zugleich

von Billerbeck: Zieht man das Grundgesetz heran, dann könnte das eine ziemlich kurze Rede werden. Denn da steht ja schon alles: Die Würde des Menschen ist unantastbar, ich habe es eben gesagt. Aber es muss ja Gesprächsbedarf bestehen, sonst wären die Veranstalter schließlich nicht an Sie herangetreten. Worauf richten Sie denn Ihren Blick?
Di Fabio: Ja, die Juristen wissen: Je einfacher und klarer die Sätze sind, desto größer ist der Interpretationsbedarf. Das ist natürlich auch so bei Artikel eins des Grundgesetzes. Gerade diese Verbürgung ist in besonderem Maße ambivalent.
Das heißt, sie hat immer zwei Seiten, zwei Gesichter. Das fängt schon damit an, dass diese Vorschrift vor die eigentlichen Grundrechte des Grundgesetzes gestellt ist und zugleich dennoch Grundrecht und programmatische Norm ist, Recht, aber auch Überrecht ist, also eine Art moralische Vergewisserung der Deutschen ist.
Und genauso ist die Frage: Für wen gilt die Menschenwürde, wer kann sich auf das Schutzversprechen des zweiten Satzes dieser Vorschrift berufen? Gilt das weltweit für alle Menschen oder ist das abhängig von der Institution des Verfassungsstaates, der auch seine eigene Identität und Funktionsfähigkeit schützen muss?

Auch im offenen Staat werden nicht alle Grenzen niedergerissen

von Billerbeck: Man könnte also sagen: Die Menschenwürde ist der Anfang von allem, aber trotzdem muss man Menschenwürde irgendwie neu denken, weil sich die Gesellschaften eben seit den 50er-Jahren massiv verändert haben. Inwieweit braucht es da eine neue gesellschaftliche Debatte?
Di Fabio: Ja, ich glaube in der Tat, das, was wir Globalisierung nennen, aber auch die fortschreitende Europäisierung, also die Verschiebung politischer Herrschaftsmechanismen auf die überstaatliche Ebene, dass das einen Bedarf erzeugt, über die Würde des Menschen neu zu diskutieren.
Wir haben lange Zeit gesagt: Die Unterscheidung zwischen Innen und Außen, also im Inneren eines Staates und dem Außen, der internationalen Welt, die sei überholt, das gebe es so nicht mehr, die Grenzen würden verschwinden. Das habe ich immer für eine Fehlvorstellung gehalten. Die Grenzen wandeln sich, sie wirken nicht mehr so hermetisch, sie können nicht mehr vollständig geschlossen werden; aber die Grenze zwischen Innen und Außen bleibt bestehen, sogar in Europa, wie wir sehen.
Es kommt darauf an, mit der Grenzvorstellung eines Staates umzugehen. Das Grundgesetz geht von der Konzeption eines offenen Staates aus, das heißt aber nicht, dass alle Grenzen niedergerissen werden, sondern dass man intelligent, kooperativ und eben auch immer im Hinblick auf die überragende Rechtstellung des Einzelnen im Mittelpunkt der Rechtsordnung umgeht. Da kann …

Europa versucht die Kontrolle über seine Grenzen zurückzugewinnen

von Billerbeck: Wo kollidieren dann aber nun die Würde des Menschen und das Recht des Staats auf zum Beispiel die Herrschaft über seine Grenzen?
Di Fabio: Das ist genau das Problem, das wir heute ja in Europa erleben, dass ein gewisses Schwanken zu beobachten ist zwischen Konzepten der vollständigen Grenzschließung, um mit Migrationsbewegung umzugehen, und der fast ebenso vollständigen Grenzöffnung, jedenfalls für einen vorübergehenden Zeitraum.
Was sich jetzt auspendelt in Europa, ist einerseits die Rückgewinnung der Kontrolle über Grenzen, andererseits aber auch eine abgeschichtete internationale Schutzverantwortung, die nicht nur darin besteht, sagen wir mal, jetzt Grenzländer wie die Türkei auch zu Grenzsicherungsmaßnahmen zu bewegen, sondern auch Schutzverantwortung in der Nähe von Krisenräumen, von Bürgerkriegsgebieten zu übernehmen und dann sogar auch Fluchtursachen zu bekämpfen.

Mehr internationale Schutzverantwortung

Das ist eigentlich das Konzept eines Staates, der sich ja ausweislich der Präambel des Grundgesetzes in eine internationale Friedensordnung einfügen will, letztlich immer zum Schutz der Menschenrechte. Also, Diplomatie und stärkere internationale Schutzverantwortung gehören zum Konzept auch einer Grenzsicherung, Grenzkontrolle, die möglich und nötig ist. Man muss eben beides zusammen denken und dann merkt man, dass dieses Innen und Außen zwar noch da ist, aber viel näher rückt und damit konzeptionell auch anderes politisches Denken erfordert.
von Billerbeck: Der einstige Verfassungsrichter Udo Di Fabio, danke an Sie! Heute Abend hält er im Rahmen der Berliner Stiftungswoche eine Rede über die Würde des Menschen in Zeiten offener Grenzen. Herzlichen Dank für das Gespräch!
Di Fabio: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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