Global Village

Von Walter van Rossum · 25.03.2009
Vor 20 Jahren, neun Jahre nach seinem Tod, erschien aus dem Nachlass von Marshall McLuhan ein Buch, in dem noch einmal ein zentraler Begriff des kanadischen Medientheoretikers aufscheint: "The Global Village - der Weg der Mediengesellschaft ins 21. Jahrhundert". Wie kein anderer hat dieser Denker, der bis zuletzt die enormen Veränderungen der Welt durch die elektronischen Medien zu ergründen suchte, das Wesen von Fernsehen, Computer und Internet antizipiert. Marshall McLuhans Überlegungen stehen bis heute als Unikat in den Theorieentwürfen zur medialen Transformation unseres Zeitalters.
"McLuhan ist wahrscheinlich die entspannteste umstrittene Figur in Amerika heute. Das mag mit seinem kanadischen Hintergrund zu tun haben. Es ist mir eine Freude, Ihnen den Autor von Gutenberg Galaxy und von Understanding Media vorzustellen: Marshall McLuhan!"

Marshall McLuhan: "Lassen Sie mich erst etwas sagen, bevor ich zu ihnen spreche...Satelliten umkreisen die Erde in einer Geschwindigkeit, bei der die Erde nicht mithalten kann, und sie haben nicht ein gobal village, ein globales Dorf, produziert, sondern ein globales Theater.

Wir leben heute im Echoland. In einer simultanen, unmittelbar gleichzeitigen Welt - das ist Echoland. Und das ist der Hörraum. Der hat eine ganz besondere Eigenschaft: Er bildet eine perfekte Sphäre, deren Zentrum überall ist und deren Grenzen nirgendwo sind. Er ist total unsichtbar und nicht visualisierbar."

Martin Baltes: "Man muss ihn sich als einen sehr freundlichen Menschen vorstellen, der sehr viel für seine Studenten getan hat, der aber an jeder Ecke angeeckt ist, der keiner akademischen Diskussion aus dem Wege ging und dabei vor allem immer aus seiner sehr exzentrischen Position argumentiert hat, weil er sich sehr schnell geweigert hat, aus einer inhaltlichen Position, sondern ausschließlich aus einer medial fundierten Ebene heraus zu argumentieren.
Und er ist ja zum Katholizismus konvertiert. Er ist auch jeden Sonntag in die Kirche gegangen."

Marshall McLuhan: "Mit dem Telegraphen entwickelte sich eine völlig neue Art des Schreibens: Symbolismus. Symbolismus meint einfach: die Verbindung zwischen Teilen des Satzes auszulassen. Ich schreibe: Symbolismus. Ich halte meine Sätze für Telegramme nach Australien - 50 Cent das Wort."

Wahrscheinlich war der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan der wildeste Denker des 20. Jahrhunderts - und ist es bis heute geblieben. Kein Wunder, dass er mittlerweile - in Zeiten eines weitgehend zurückgelehnten und institutionalisierten Denkens - eher als Sonderling gilt. Der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit sieht das etwas anders:

"Es gibt nach wie vor sehr viele europäische Intellektuelle, die in einer Art von Überlegenheitsgefühl gegenüber diesem Medientheoretiker leben, der ihnen gar so viel weggenommen hat. McLuhan hat den üblichen Intellektuellen hier einen Faustschlag versetzt, wie damals Freud mit seiner Konstruktion, dass das Ich nicht Herr im eigenen Haus ist und dass der Mensch vom Unbewussten gesteuert würde."

Marshall McLuhan: "Die Welt der Hexen ist das Buch der Zukunft, die innere Reise, die äußere Reise geht zu Ende durch diese Entwicklung."

Klaus Theweleit: "McLuhan nimmt denen das Buchstabenwesen weg, das hier dominant war, die ganze Aura der Wahrheit und der Wahrheitsspeicherung. Seit der Einführung des Alphabets so um 700 vor Christus bis ungefähr um 1900 sind die Buchstaben konkurrenzlos. Mit seinem 'Gutenberg Galaxis'-Buch macht McLuhan das kaputt, indem er die Schrift als ein Medium unter anderen sieht, nämlich zu Radio, Film, Schallplatte in Konkurrenz stellt, und dieses Medium wird zunehmend durch die anderen entwertet. Das hat ihm das europäische Denken bis heute nicht verziehen."

McLuhan wurde 1911 in Edmonton, Kanada, als Sohn irischstämmiger Einwanderer in der dritten Generation geboren. Er studierte unter anderem in Cambridge Literaturwissenschaften und wurde Professor an verschiedenen kanadischen und amerikanischen Universitäten. McLuhans erstes Buch erschien 1951 und bewies bereits die Leuchtkraft seines Denkens.

Klaus Theweleit: "'The mecanical bride' - auf deutsch: 'Die mechanische Braut' - das ist eine ganz neue Art Buch gewesen. Da hat McLuhan immer ein Bild genommen aus der Werbung oder ein Kinobild oder so was und hat dann dazu eine Seite geschrieben. Ganz streng: eine Seite Bild, eine Seite Text und geht dann von Büstenhaltern über Tarzan zu Autolacken die ganze amerikanische Öffentlichkeitsoberfläche durch. Also das Werk von Andy Warhol etwa ist ohne McLuhan gar nicht vorstellbar."

Marshall McLuhan: "Jedes Zeitalter schafft ein utopisches Bild von sich, ein nostalgisches Bild im Rückspiegel - wodurch es bedauerlicherweise die Nähe zur Gegenwart verpasst. Die Gegenwart ist das Ende. In jedem Zeitalter wird die Gegenwart nur vom Künstler erfasst."

Klaus Theweleit: "Und McLuhan ist da unentschieden. Er sieht die Werbung auch als Verführung, aber der Untertitel des Buches lautet: 'Die Volkskultur des industriellen Menschen'. Also das, was im 19. Jahrhundert die Grimms gesammelt haben, die Märchenkultur, das ist für McLuhan in die Werbung, in den Film und in diese Art von Öffentlichkeitsbildern gewandert. Und das ist - in Anführungszeichen - unsere 'Volkskultur'."

In seinem ersten Buch "Die mechanische Braut" manifestieren sich bereits die betörenden Gesten seines Denkens: einerseits die Eleganz des Überblicks, andererseits die Anschaulichkeit des Konkreten. In den 50er Jahren entwickelt er in verschiedenen Aufsätzen und Vorträgen seine zentrale These:

Marshall McLuhan: "Das Medium ist die Botschaft."
McLuhan versteht unter Medien aber nicht bloße Übermittlungstechniken, sondern...

"Alle Medien sind Ausdehnung menschlicher Fähigkeiten - seien sie psychisch oder physisch. - Das Rad ist eine Ausdehnung des Fußes. Das Buch ist eine Ausdehnung des Auges, Kleider sind eine Ausdehnung der Haut, die Medien unserer Zeit sind eine Ausdehnung des Zentralnervensystems. Indem Medien die Umwelt verändern, schaffen sie in uns eine ganz bestimmte Konstellation sinnlicher Wahrnehmung. Die Ausdehnung nur eines Sinnes verändert die Art, wie wir denken und handeln, die Art, wie wir unsere Körper wahrnehmen. Wenn diese Verhältnisse sich wandeln, wandelt sich der Mensch."

Die Geschichte der westlichen Zivilisation beginnt für Marshall McLuhan mit der Einführung des phonetischen Alphabets. Im Medium dieses Alphabets entwickelt sich die spezifisch abendländische Vernunft:

"Schriftlichkeit bedeutet die Trennung des Auges von den anderen Sinnen, sie schafft den Euklidischen Raum und produziert alle die Illusionen von Rationalität und Uniformität - das Kontinuum des Existierenden. Das ist eine Illusion, die wir der griechisch-römischen Welt verdanken, sonst kennt niemand auf der Welt diesen visuellen Raum, den das phonetische Alphabet bildet."

Die Einführung des phonetischen Alphabets bedeutet zunächst, dass semantisch bedeutungslose Buchstaben in semantisch bedeutungslose Klänge verwandelt werden. Auf diese Weise konnte man mit ein paar Dutzend Lauten sämtliche Bedeutungen in sämtlichen Sprachen hervorbringen. Das war eine große Abstraktionsleistung, die zugleich aber auch mit sich brachte, dass Mensch und Ding getrennt wurden.

"Vor der Erfindung des Alphabets lebte der Mensch in einer Welt, in der alle Sinne ausbalanciert und gleichzeitig präsent waren, in einer Stammeswelt voller Tiefe und Resonanz, einer oralen Kultur, in der das Leben vom Gehörsinn dominiert wurde."

Das phonetische Alphabet trieb den Menschen aus seiner archaischen Stammeskultur. Und der Sehsinn, der durch diese Neuerung dominant wurde, schuf nicht nur Abstand zwischen den Menschen und den Dingen, er schuf so etwas wie den Euklidischen Raum, in dem sich die Dinge als linear, sequentiell, gleichförmig und miteinander verbunden darstellen, kurz, das Auge schafft die Welt als rationalen Raum.

"Nur Alphabetkulturen haben es geschafft, logische miteinander verbundene lineare Sequenzen als Mittel sozialer und psychischer Organisationen einzusetzen. Das Geheimnis der Macht des westlichen Menschen über andere und seine eigene Umwelt war, dass er in der Lage war, alle Arten von Erfahrungen in uniforme und kontinuierliche Einheiten zu unterteilen, und dadurch schneller handeln sowie Zustände verändern konnte - also mit andern Worten: über angewandtes Wissen verfügte."

Die These vom Medium als Botschaft beschreibt McLuhan zum ersten Male systematisch in seinem Werk Die Gutenberg Galaxie, das 1962 in den Vereinigten Staaten erscheint. Die Erfindung des Buchdrucks durch den Mainzer Drucker Johannes Gutenberg verschärft den Prozess, den das phonetische Alphabet Jahrhunderte zuvor angestoßen hatte, noch einmal erheblich.

Bernhard Siegert: "Der Buchdruck verändert die Handschrift-Kultur in der Weise, dass sie das Lesen, das im Mittelalter eine Sache war, die den ganzen Körper in Anspruch nahm, vom Körper trennt, den Körper still stellt gegenüber dem gedruckten Buch, dessen Seiten bedeckt sind mit gleichförmigen typographischen Einheiten, die alle eine Standard-Größe haben und dann in Standard-Einheiten zerlegt sind und Standard-Seiten bilden, die wiederum Standard-Kapitel bilden, und die Standard-Kapitel bilden Standard-Bücher. Dieses Prinzip - das ist McLuhan These - überträgt das Medium Buchdruck auf seine Inhalte: The medium is the message."

So der Medienwissenschaftler Bernhard Siegert.

Bernhard Siegert: "Also gedruckte Bücher neigen dazu, das, was sie beschreiben, in gleichförmige Einheiten zu zerlegen, die Welt zu klassifizieren, die Welt zu analysieren, mit Zahlen zu versehen, mit Indices zu versehen, mit Überschriften, Standard-Überschriften wie ein Buch."

Der Buchdruck schafft ein Weltbild, das direkt ins mechanische Zeitalter führt:

Marshall McLuhan: "Das viktorianische Zeitalter war der Triumph des mechanischen Zeitalters, das Zeitalter der Fragmentierungen und Spezialisierungen. Auf dem Höhepunkt des mechanischen Zeitalters kam der elektrische Kreislauf, die Überflutung mit der elektrischen Welt und ihren Bildern."

Der McLuhan-Experte Martin Baltes:

"In seiner Darstellung geht es in der Regel um den Umbruch vom Schriftzeitalter zum elektronischen Zeitalter, das ist die Zäsur, mit der er sich eigentlich sein Leben lang befasst hat, die er ausgiebig studiert hat und die eigentlich auch schon die Titel der beiden Bücher signalisieren: Das eine ist die Gutenberg Galaxis, wo er sich vornehmlich noch mit dem am Ende befindlichen Zeitalter der Schrift befasst, und 'Understanding Media', das sich bereits schwerpunktmäßig mit den neuen Medien beschäftigt."

Allerdings sieht McLuhan in diesem Umbruch auch die Chance einer Befreiung, denn die Welt des Buchdrucks hat zwar zu grandiosen Fortschritten geführt, aber auch zu einer radikalen Verarmung des Menschen.

Martin Baltes: " Die Befreiung, (...) die McLuhan den neuen Medien unterstellt, die bezieht sich vor allem auf eine historische Verengung, wie sie über die Schrift in die Kulturen hinein gekommen ist. Da geht er von einer Prädominanz des Auges aus - bis dahin, dass wir unsere Sozialsysteme in Subjekt und Objekte aufteilen, nicht anders, als das die Grammatik tut."

Marshall McLuhan: "Alles, was das phonetische Alphabet in seiner Dominanz untergräbt, in seiner Macht, das Auge zum dominierenden Organ zu machen, beendet diese Zivilisation."

Martin Baltes: "Und hier sind es zwei sehr entscheidende Punkte, die zu einer sehr starken Veränderung führen in seinen Augen: Denn er sagt, wenn die Schrift nicht mehr alles dominiert, dann werden andere Sinne in den Vordergrund rücken, dann wird der Hörsinn wieder stärker betont werden. Der Hörsinn ist aber ein Sinn, der verbindet und der nicht trennt, er ist ein Nähesinn und kein Distanzsinn. Und wir werden wieder in so etwas wie in einer Stammeskultur leben. Wir werden keine Geschichte mehr haben, weil die Geschichte nicht mehr aufgeschrieben, sondern erzählt wird, sich in einem fort transformiert durch das Erzählen selber. Und damit werden wir zweifelsohne auch die Vorstellungen von einem Subjekt, die wir uns im Laufe der Geschichte angeeignet haben, verlieren. Und das sieht er als Befreiung."

Eine Befreiung, deren Bedingungen wir allerdings kaum kontrollieren können.

McLuhan: "Die enormen Steigerungen von Energie durch unser Technologie konfrontieren uns mit erheblichen Folgen. Stellen wir uns einen Bomberpiloten einige hundert Meter über einer Stadt vor. Er wird ohne Unterschiede auch Frauen und Kinder umbringen. Dieser Bomberpilot entspricht ziemlich genau jemandem, der irgendeine neue Technologie einführt. Niemand von diesen Leuten fragt sich je, was wird die Wirkung, die Konsequenz sein. Wir können uns bei der Einführung solcher Sachen nicht auf unsere natürlichen Instinkte verlassen. Sie werden uns zerstören. Wie kommen wir aus der Falle, die wir uns selbst geschaffen haben? Edgar Allan Poe hat einmal..."

Martin Baltes: "Einer der Texte, auf die er immer wieder zurückgreift, ist ein Text von Edgar Allan Poe: 'The dissent in a maelstream'. Die Geschichte eines Fischers, der in einem Boot zusammen mit seinem Bruder in einen Strudel gerät. Und er erkennt, dass dieser Strudel das Boot mit ihm und seinem Bruder verschlingen wird. In diesem Moment bindet er sich an ein Fass, das sich auf dem Boot befindet, und stürzt sich in den Strudel, weil er sich sagt, die Masse des Schiffes wird uns herunterziehen, die vermeintliche Sicherheit wird uns in den sicheren Tod führen.

Der Bruder bleibt an Bord, wird in den Tod gesogen, und der Fischermann, der sich in die Fluten stürzt, überlebt. Das ist McLuhans Haltung zu den elektronischen Medien. Wer sich mit den elektronischen Medien nicht befasst, nicht aktiv einsetzt, der wird, wenn er sich krampfhaft an den alten Medien festhält und insbesondere an den Umgangsformen, die wir einstudiert haben beispielsweise am Leitmedium Schrift, der wird vielleicht nicht direkt umkommen, aber sein Unternehmen und seine Strahlkraft leiden darunter."

Marshall McLuhan: "Die enormen Veränderungen durch unsere Medien konfrontieren uns mit ähnlichen Möglichkeiten von Ausweg und Zerstörungen. Wenn wir die Muster der Wirkungen dieses enormen Einsatzes von Energie, mit denen wir es zu tun haben, genau studieren, mag es möglich sein, eine Strategie der Vermeidung oder des Überlebens zu entwerfen."

Man könnte es natürlich auch so sagen:

"Statt sich in eine Ecke zu verkriechen und darüber zu jammern, was die Medien mit uns anstellen, sollte man zur Attacke blasen und ihnen in die Elektroden treten."

Dazu muss man zunächst einmal verstanden haben, in welcher Weise die elektronischen Medien uns umprogrammieren.

Marshall McLuhan: "Als um 1920 das Radio aufkam, einte der amerikanische Neger zum ersten Mal alle Kulturen der Welt im Zeichen einer neuen Form: dem Jazz. Er war eine universelle Sprache und ist es noch heute. Wir sprechen von der Integration der Neger, die Neger haben den ganzen blühenden Planeten durch Jazz integriert und es geht weiter. Es war eine Sprache der Gesten und nicht der Worte.

Fernsehen geht direkt durch ins Nervensystem. Es geht direkt ins Zwerchfell. Es ist eine innere Reise. Der Fernsehzuschauer ist high."

Bernhard Siegert: "Medien sind nicht auf Distanz, und auch unsere Sinne halten die Realitäten, die ja erst durch die Medien geschaffen werden, nicht auf Distanz, sondern wir sind eingetaucht - im Zeitalter der elektronischen Medien. Die elektronischen Medien sind allesamt taktil, weil sie ja, wie wir wissen, eine Erweiterung des Zentralnervensystems sind, und damit den Körper selbst als Außenwelt betrachten, the inside is out and the outside is in. Und in dieser Weise werden wir von den Medien eben immer ständig von innen nach außen massiert."

Und so wird aus der Botschaft: the medium is the message, die elektronischen Medien sind Massage.

Bernhard Siegert: "Die Sinne werden durch sich selbst hypnotisiert. Im Fernsehen begegnet das Auge einer objektivierten Form seiner selbst, des Sehens. Dieses Sehen ist hypnotisiertes Sehen und an diesem Sehen des Sehens vergnügt sich das Auge, vergnügt sich der Sehsinn, empfindet der Sehsinn Lust."

Der Medienwissenschaftler Bernhard Siegert.

Marshall McLuhan: "Das Fernsehen ist kein visuelles Medium - es ist taktil."

Bernhard Siegert: "Daher rührt nach McLuhan die Sucht fernzusehen. Fernsehen macht deswegen süchtig, weil es ein Sehen ist, dass das Sehen hypnotisiert. Eine mediatisierte Selbsterregung, die ein geschlossenes System bildet, dessen Inhalt nicht nur ist, immer weiter zu funktionieren, sondern dessen Inhalt ist, den Zuschauer als Gesamtperson am Mediensystem zu beteiligen. Das ist die Botschaft des Mediums Fernsehen."

Marshall McLuhan: "Unsere Zeit ist eine brandneue Welt der Gleichzeitigkeit. 'Zeit' hat aufgehört, 'Raum' ist verschwunden ... Wir leben jetzt in einem globalen Dorf ... ein simultanes happening. Wir sind zurück im akustischen Raum. Wir haben wieder damit begonnen, das ursprüngliche Fühlen zu errichten, die Stammesemotionen, von denen wir während einiger Jahrhunderte der Schriftlichkeit getrennt waren. Der Prozess der Tribalisierung, der innere Trip, die tiefe Beteiligung bei der Erfahrung einer vereinigten Menschenfamilie - das ist etwas, wovon wir Jahrhunderte lang keine Erfahrungen hatten."

Unsere Gesellschaft nennt sich zwar Mediengesellschaft, aber sie weigert sich standhaft darüber nachzudenken, was denn unsere mediale Verfassung mit uns macht.

Marshall McLuhan starb 1980 an den Folgen eines Hirntumors. In den letzten Jahren seines Lebens hat er zusammen mit Bruce R. Powers an einem Buch gearbeitet, das erst 1989 erscheint: The gobal village. Der Weg der Mediengesellschaft ins 21. Jahrhundert. Wer wissen will, was in den letzten 20 Jahren mit uns geschehen ist und was in den nächsten 30 Jahren noch mit uns geschehen wird, der sollte sich unbedingt mit den Prognosen dieses Buches auseinandersetzen.

Den Begriff "global village" hatte Marshall McLuhan bereits 1962 in seinem Buch Die Gutenberg Galaxie geprägt - zu einem Zeitpunkt also, wo die Direktübertragung eines Fußballspiels aus Chile fast unmöglich war.

"Der elektronische Mensch verliert seinen Bezug sowohl zu den Vorstellungen eines regelsetzenden Zentrums als auch zu den Zwängen einer Sozialordnung, die auf gegenseitiger Verpflichtung aufbaut. Unablässig lösen sich Hierarchien auf oder bilden sich neu."

Das Internet, das Marshall McLuhan nicht kannte und doch auf verblüffende Weise prognostiziert hat, hat einen neuen Typ von Bewegung kreiert: das Surfen. Dieses Surfen bewegt sich weder in Raum noch Zeit, sondern es ist eine Bewegung auf einer fließenden Benutzeroberfläche.

"Der Computer, der Satellit, die Datenbank und die gerade heranwachsenden MultiDienstUnternehmen der Telekommunikation werden alles zerbrechen, was von dem alten, auf die Schrift gegründeten Ethos übrigbleibt, indem sie die Anzahl der Mitarbeiter am Arbeitsplatz verringern, die übrig gebliebene Privatsphäre zerstören und ganze Nationen durch die allgemeine Übertragung von unzensierten Informationen über Nationalgrenzen hinweg mittels unzähliger Mikrowelleneinheiten und interaktiver Satelliten politisch destabilisieren. Das linkshemisphärische Denken wird untergehen, aufgesogen vom akustischen Raum."

In den letzten 30 Jahren wurde nicht nur die Weltkarte in einem zuvor für unmöglich gehaltenen Maße umgeschrieben, ebenso ist von dem einstmals halbwegs überschaubaren Sozialraum namens Gesellschaft wenig mehr übrig geblieben als ein kakophoner Auflösungsprozess ohne Orientierung. McLuhan kannte die technologischen Entwicklungen natürlich nicht im Detail - gleichwohl hat er die Richtung dieser Entwicklung fast schon prophetisch beschrieben.

Martin Baltes: "Wir befinden uns in einem derartigen Beschleunigungsprozess, dass wenn man sieht, dass mit Marconi überhaupt erst die Leuchtröhre durchgesetzt wurde, die den Fernseher ermöglicht hat. Und der Fernseher, jetzt mal für den europäischen Raum gesprochen, erst so in den 60er Jahren seinen Siegeszug angetreten hat, dann war der nächste Schub eigentlich in den späten 80er Jahren die Erfindung des Personal Computers durch IBM und Apple, der sich dann rasant durchgesetzt hat, innerhalb der nächsten zehn Jahre schon, wo der Fernseher noch 20 Jahre gebraucht hat, brauchte der PC nur noch zehn und der Laptop brauchte nur fünf Jahre und der iPod, der brauchte vielleicht noch ein Jahr."

"Der Satellit in Verbindung mit der Datenbank befähigt solche Organisationen wie Associated Press, Disney Enterprises oder die Citicorps Bank, sämtliche ihrer Operationen weltweit in nur einem Fünftel einer Sekunde abzuwickeln. Die wichtigsten videoverwandten Technologien löschen die Entfernungen aus. Die Aufhebung des Raums geschieht auf einer interaktiven Basis. Diese Kraft der Computer und Datenbanken, Simultaneität herzustellen, wird die literale Implosion von bestimmten Wirtschaftsbereichen und öffentlichen Dienstleistungen verursachen."

So gesehen, könnte man auch die sogenannte Finanzmarktkrise unserer Tage als mediales Geschehen betrachten. Erst neueste elektronische Medien erlauben, unvorstellbare Summen in Lichtgeschwindigkeit zu verschieben - was nichts anderes heißt, als in immer andere Dateien umzubuchen. Geld ist dann nichts anderes mehr als die digitale Leuchtschrift auf den Bildschirmen von Banken und Finanzmarktakteuren. Während das reale Weltbruttosozialprodukt etwa 50 Billionen Dollar beträgt, zirkulieren in den virtuellen Tresoren der Computer über 1500 Billionen Dollar.

"Das Amerika des 20. Jahrhunderts, das heißt von den 80er Jahren bis ungefähr 2020, wird sich nicht mehr allein damit beschäftigen können, das Land zu bewirtschaften oder Stahlfabriken in die Höhe zu ziehen. Es wird gefordert sein, die Menschen zu ernähren, die zum großen Teil legal oder illegal einwandern werden. Diese Migrationen werden den weißen, angelsächsischen Charakter der amerikanischen Regierungs-, Bildungs- und Wirtschaftsstrukturen zersplittern und eine einem bunten Salatteller gleiche Melange ethnischer Minderheiten erzeugen, ohne dass eine der Ethnien allein vorherrschen könnte."

In Städten wie Los Angeles sprechen über 50 Prozent der Einwohner eher Spanisch als Amerikanisch. Städte wie Los Angeles haben sich längst aufgelöst in "Neighbourhoods" von Mexikanern, Vietnamesen, Chinesen, Schwarzen, die wiederum innerhalb einer Ethnie nach verschiedenen Gesichtspunkten in Ghettos oder eben stammesähnlichen Gruppen gegliedert sind.

"Indem es dem Menschen gelingt, sein zentrales Nervensystem in elektrische Netze zu übertragen, steht er an der Schwelle dazu, sein Bewusstsein an den Computer zu entäußerlichen."

In einer Umfrage wurde kürzlich ermittelt, dass über 80 Prozent der Deutschen unter 50 Jahren sich ein Leben ohne Computer nicht mehr vorstellen können. Ihr Leben ist eng verbunden mit Internet-Communities oder Blogs.

Das Internet hat virtuelle Räume geschaffen, in denen Computernutzer unter verschiedenen Identitäten hypothetisch leben.

Man könnte noch hunderte Stellen aus The gobal village. Der Weg der Mediengesellschaft ins 21. Jahrhundert anführen - jede belegte, dass Marshall McLuhan auf verblüffende Weise unsere Gegenwart vorausgesagt hat. Der Weg ist nicht zu Ende. Es wird vielleicht nicht jedem gefallen, was er für ein gutes Ende hielte, aber wir befinden uns in einem Umbruch, den keiner so treffend, so tiefsinnig beschrieben hat, wie Marshall McLuhan:

"Die Implosion der elektronischen Technologie verwandelt den alphabetisierten, fragmentierten Menschen in ein komplexes und tiefgründiges menschliches Wesen mit einem tiefen emotionalen Gespür dafür, dass er in allen Bereichen mit der gesamten Menschheit verflochten ist."
Der Buchstabe A
Der Buchstabe A© Stock.XCHNG / Andrew Beierle
Aufgeschlagenes Buch
Der Buchdruck führt zu Standardisierungen.© Deutschlandradio / Bettina Straub
Flachbildschirme hängen in Berlin am Tag vor der offiziellen Eröffnung der Messe "IFA 2008" an einem Stand eines Herstellers für Fernsehgeräte.
Fernsehen als verlängertes Zentralnervensystem.© AP
Hypertext Transfer Protocol (HTTP), auf deutsch: Hypertext-Übertragungsprotokoll
McLuhan: Die neuen Technologien sorgen dafür, dass der Mensch "in allen Bereichen mit der gesamten Menschheit verflochten ist".© Stock.XCHNG / Vince Varga