"Gleichheit ist kein Mechanismus"

Winfried Hassemer im Gespräch mit Dieter Kassel · 30.10.2009
Die kulturellen Hintergründe von Menschen dürften vor Gericht nicht ignoriert werden, sagt Winfried Hassemer, ehemaliger Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts. Er begrüße, dass die Justiz zunehmend differenziere.
Dieter Kassel: Das Urteil eines Berliner Gerichts, das einem muslimischen Jugendlichen das Recht zubilligte, einmal am Tag an seinem Gymnasium regelmäßig zu beten, hat vor knapp einem Monat wieder mal zu heftigen Reaktionen in der Öffentlichkeit geführt. Mit solchen Reaktionen müssen Gerichte immer öfter rechnen, denn Verfahren, bei denen sich die Frage stellt, ob Regeln und Gebräuche anderer Religionen und Kulturen eine Rolle spielen müssen, sind nicht mehr selten. In Frankfurt am Main findet deshalb gerade eine Tagung statt zum Thema "Der Einfluss der Weltreligionen auf die Rechtssysteme der Länder". Einen der Vorträge dort, ein Vortrag zum Thema "Religiöse Toleranz im Rechtsstaat" hält der Strafrechtsexperte und ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Winfried Hassemer. Und der ist jetzt am Telefon. Schönen guten Tag, Herr Hassemer!

Winfried Hassemer: Tag Herr Kassel!

Kassel: Ich möchte mal zitieren aus dieser Einladung der Frankfurter Anwaltskammer. Da steht: "Die Rechtspraxis erfordert immer öfter Wissens- und Verstehenskompetenz anderer Kulturen." An anderer Stelle steht noch: "Selbst im inländischen Rechtsverkehr wird es immer wichtiger, das Recht anderer Länder nicht nur kennenzulernen, sondern deren religiöse Grundlagen mit zu berücksichtigen." Widerspricht das nicht dem Grundsatz, dass vor dem Gesetz alle Menschen gleich sind?

Hassemer: Das glaube ich nicht. Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich in Bezug auf die Eigenschaften, die sie haben, in Bezug auf das, was sie getan haben, in Bezug, wenn man mal so will, auf Objektives. Die Gleichheit vor dem Gesetz bedingt aber auch, dass man Unterschiede macht. Wenn es so ist, dass Leute aus anderen Kulturen da sind, wenn es so ist, dass es um Kinder geht, um Jugendliche, um Alte, dann sind diese Bedingungen gewissermaßen Gleichheitsbedingungen. Und wenn man nicht darauf achtet, ob das ein Jugendlicher oder ein Mensch in vollem Bewusstsein ist, kann man keine Gleichheit herstellen. Gleichheit ist kein Mechanismus, sondern Gleichheit setzt schon Hingucken voraus.

Kassel: Aber was bedeutet das in letzter Konsequenz? Bedeutet das auch zum Beispiel bei einem Prozess, wo es um schwere Körperverletzung, Totschlag, vielleicht sogar Mord geht, dass man da in Deutschland gucken muss, wie wird Mord in einer anderen Kultur definiert?

Hassemer: Man muss in Deutschland, wenn es um Mord geht oder um Raub oder um sonst irgendwas, man muss immer gucken, was waren die besonderen Bedingungen dieser Tat, was hat zu dieser Tat geführt, wer hat beispielsweise in der Situation wie gehandelt – das Opfer handelt ja sehr oft auch –, und wie kann man den Täter, der das alles gemacht hat, wie kann man den beschreiben, wie kann man ihm näherkommen? Der Strafrichter muss, soweit er das kann, die persönliche Situation des Betroffenen aufklären. Und dazu gehört dann möglicherweise auch der kulturelle Hintergrund.

Kassel: Ich finde das manchmal etwas schwierig. Denken wir zum Beispiel an den Fall, das war in Frankfurt, inzwischen zweieinhalb, knapp drei Jahre her, einer Richterin in einem Scheidungsprozess, da ging es um eine deutsche Staatsbürgerin, die aber aus Marokko stammte, und ihren Mann in einem Scheidungsprozess auch festgestellt hat, man muss Rücksicht nehmen auf kulturelle Eigenarten. Einfach ausgedrückt hat die damals die Ansicht vertreten, es gehört zu den kulturellen Gepflogenheiten der marokkanischen, der muslimischen Kultur, dass Männer ihre Frauen schlagen, das müsste die doch wissen. Damals gab es einen großen Aufschrei, und eins finde ich im Nachhinein, ich hab mal die Reaktionen noch mal nachgelesen, bemerkenswert: Es gab nicht nur in der deutschen Presse einen großen Aufschrei, sondern auch in zum Beispiel der türkischen Presse, in vielen arabischen Ländern. Das heißt, ich hatte den Eindruck, das, was die Frau damals gemeint hat, das will eigentlich keiner.

Hassemer: Meine Antwort darauf ist: Wenn man – was man von Rechts wegen muss als Richter –, wenn man in die besonderen kulturellen Erfahrungen von Leuten hinein muss, dann ist die Möglichkeit, Fehler zu machen, sehr naheliegend. Und ich würde sogar noch eins draufsetzen und würde sagen, diese Möglichkeit, Fehler zu machen, ist besonders bei uns besonders naheliegend, aus Gründen, die ich gut verstehe – Fehler zu machen, andere zu beleidigen, den sicheren Weg der Political Correctness zu verlassen und dann gewissermaßen auch in eine öffentliche Falle zu tappen. Ich denke mir, wir sollten weniger ängstlich sein. Also ich habe das bei dieser Sarrazin-Debatte jetzt wieder registriert, dass viele ängstlich sind, dass viele auch aggressiv werden, was ja auch eine Form von Ängstlichkeit ist. Mir wäre es jedenfalls recht, wir wären etwas weniger aggressiv, etwas weniger ängstlich, etwas mutiger und würden solche Sachen, wie Sie sie jetzt gerade von der Richterin erzählt haben, eher zulassen.

Kassel: Das heißt, Moment, das möchte ich jetzt noch mal klarstellen, Herr Hassemer, Sie finden also, dass es eine von vielen Möglichkeiten, eine von vielen legitimen Möglichkeiten ist, so zu denken und so zu handeln wie diese Richterin?

Hassemer: Ja natürlich, natürlich. Diese Richterin war innerhalb des Rechts. Die hat ja keinen Mist gemacht, die hat ja nicht das Recht falsch angewendet oder so etwas, sondern sie hat nur einen Grundsatz vertreten, von dem die allermeisten anderen sagen, unmöglich. Ich bin nicht dieser Meinung, was die Richterin gesagt hat, ich bin der Meinung, dass sie das sagen durfte. Aber mein Punkt ist der, dass wir gerade in Bezug fremder Kulturen, dass wir gerade besonders empfindlich sind.

Kassel: Wenn ich Sie richtig verstehe, korrigieren Sie mich sofort, wenn falsch, dann meinen Sie vermutlich diese besondere Empfindlichkeit gerade in Deutschland natürlich auch bezogen auf unsere Vergangenheit.

Hassemer: Exakt.

Kassel: Aber kann man das nicht sogar umdrehen? Vergessen wir nicht auch die andere Seite. Es gibt ja Menschen so wie damals aus Deutschland vor 1945, so sie es geschafft haben, viele, viele Menschen geflüchtet sind, so kommen heute doch auch Leute aus nicht demokratischen, nicht freien Staaten nach Deutschland. Vielleicht ist einer von vielen Gründen, dass sie das tun, auch dass wir ein Rechtssystem haben, das eigentlich, na ja, wie ich es vorhin erwähnte, jeden gleich anguckt und jedem gleiche Rechte einräumt. Ist das nicht vielleicht gefährlich zu sagen, das tun wir gar nicht mehr, wir gucken, wo ein Mensch herkommt?

Hassemer: Nein, nein, nein, nein, nein, das habe ich nicht gesagt. Also ich bleibe natürlich dabei, dass man jeden Menschen genau angucken muss und dass im Menschen-Angucken die Kultur dieses Menschen eine große Rolle spielt. Wir haben doch etwas zu vertreten. Wir haben eine gute Justiz zu vertreten, wir haben eine Freiheitlichkeit unserer Gesellschaft zu vertreten, wir leben in religiösen Praxen, wo man nicht mehr sagen kann – das konnte man einmal sagen, und zwar mit Ausrufezeichen –, wo man nicht mehr sagen kann, diese Praxen sind aggressiv, diese Praxen sind gewalttätig. Und da meine ich, wir müssen uns nicht verstecken. Wir können sagen, bitte schön, das ist eine Richterin, die hat das und das gemacht, das wird in der nächsten Instanz möglicherweise nicht akzeptiert, aber so ist bei uns der Rechtsweg.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur mit dem Strafrechtsexperten und ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts Winfried Hassemer über notwendigen oder auch nicht immer notwendigen Einfluss von kulturellen und manchmal auch religiösen Eigenheiten, von Menschen, die in Deutschland leben, auf das Rechtssystem in Deutschland. Herr Hassemer, wenn wir darüber reden, nicht nur über kulturelle Einflüsse, sondern eben auch religiöse, dann wird es irgendwann mal schwierig, weil man natürlich bei Religionen nicht so klar nach richtig und falsch fragen kann wie bei anderen Dingen. Das ist nicht ganz leicht. Ich möchte mal den Berliner Innensenator Körting zitieren, der ganz aktuell in einem Interview Folgendes gesagt hat: "Wir müssen einen Konsens finden, der den rationalen Wahrheiten und den Glaubenswahrheiten gleichermaßen gerecht wird." Kann man das? Ich meine, da müsste man vor Gericht eine rationale Wahrheit ja auf die gleiche Stufe stellen mit einer Glaubenswahrheit.

Hassemer: Ich weiß nicht genau, was Herr Körting gemeint hat, ich würde es auch ein bisschen anders formulieren, aber ich glaube, es lässt sich vernünftig anders formulieren. Es gibt eine Glaubenswahrheit, die bei unterschiedlichen Religionen natürlich eine unterschiedliche ist, und es gibt von Rechtsstaats wegen eine Pflicht der Justiz, sich aus einem Streit über Glaubenswahrheiten herauszuhalten. Es gibt eine staatliche Rationalität, die einen bestimmten Weg hat und diesen Weg nicht verlassen darf gegenüber der Glaubensrationalität. Dieser Weg heißt mit einem kurzen Wort: Neutralität. Der Staat muss sich aus allen Dingen heraushalten, es gibt keinen Gottesstaat, es gibt keine Verzwickung von göttlicher Wahrheit, religiöser Wahrheit auf der einen Seite, und dem, was wir für wahr halten. Und das, finde ich, ist ein guter Weg.

Kassel: Aber dieser Weg kann doch im Alltag in diversen Fällen nicht funktionieren. Wenn zum Beispiel jemand innerhalb der Familie einen sogenannten Ehrenmord begeht und das religiös begründet, kann sich doch der Staat nicht raushalten.

Hassemer: Der Staat hält sich raus darüber, welche religiöse Wahrheit die richtige ist, daraus hält er sich raus. Er hält sich natürlich nicht heraus aus der Frage, ist das, was in diesem Fall passiert ist, ein Verbrechen oder ist es kein Verbrechen. Kann er etwas dafür oder kann er dafür nichts und wie viel kann er dafür? Das muss der Staat völlig klar entscheiden. Dabei kann er von Gesetzes wegen auf bestimmte Dinge Rücksicht nehmen, aber er muss natürlich klar sein.

Kassel: Aber kommen wir jetzt nicht fast wieder zum Anfang unseres Gesprächs zurück, denn was wir noch ein bisschen vernachlässigt haben …

Hassemer: Das haben gute Gespräche oft so an sich.

Kassel: Das spricht auch nicht gegen das Gespräch, Herr Hassemer, aber vergessen wir nicht die Veranstaltung in Frankfurt. Was ich ganz wichtig finde, in deren Titel kommt ja vor die "fünf Weltreligionen". Dann kommt natürlich der ewige, oft auch juristisch geführte Streit darüber hinzu, was man sonst noch als Religionsgemeinschaft anerkennt oder auch nicht. Da kann man Stichworte wie Zeugen Jehovas und Scientology nennen und, und, und. Da rollt, glaube ich, in Zukunft noch einiges auf uns zu. Wenn wir das jetzt alles bedenken, bedenken was wir beide besprochen haben, kommen wir nicht am Ende doch zu dem Schluss, vergessen wir das, sollte ein Gericht dann nicht doch anfangen, diese kulturellen Eigenheiten zu ignorieren aus dem ganz simplen Grund, weil doch kein Richter, kein Staatsanwalt und kein Rechtsanwalt all die kulturellen Eigenarten, die wir auch in Deutschland finden, überhaupt kennen kann?

Hassemer: Das ist natürlich bis zu einem gewissen Grade wahr, das Gericht kann nicht in die Seele der am Verfahren Beteiligten hineinkommen. Das ändert aber nichts daran, dass es Konstellationen gibt – denken Sie an das Familienrecht –, in denen das Gericht gar nicht umhin kommt, als festzustellen, hier geht es um durchaus differente religiöse Vorstellungen. Ich würde meinen, solange man das kann, sollte man es probieren. Und wir lernen ja auch. Also wenn ich mir mal überlege, wie das in den 50er-, 60er-Jahren mit der Justiz war, das hat sich erheblich verändert. Also die Sensibilität der Justiz, ihre Neugier und ihre Fähigkeit zu differenzieren, die haben in diesem Bereich erheblich zugenommen, und das ist ja auch gut.

Kassel: Der Jurist Wilfried Hassemer, ehemaliger Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, über den Einfluss von religiösen und kulturellen Eigenheiten auf rechtsstaatliche Systeme und rechtsstaatliche Verfahren. Herr Hassemer, ich glaube, das ist ein Thema, über das wir mit Ihnen und anderen noch viel reden werden, reden werden müssen …

Hassemer: Da können Sie sicher sein.

Kassel: Ich bin es, und für den Moment danke ich Ihnen aber. Danke für heute!

Hassemer: Ja, ich danke auch!