Glauben

Beten zu einem Gott, der für jeden anders ist

Eine Frau in einer Moskauer Kirche.
Christen beten heutzutage sehr individuell - so wie hier eine Frau in einer Moskauer Kirche. © picture alliance / dpa
Von Norbert Copray · 01.06.2014
Der christliche Glaube lässt sich nicht aus der Gesellschaft drängen. Diese Meinung vertritt Friedrich W. Graf in seinem neuen Buch und spricht von einer "Vielfalt der Christentümer". Mittlerweile verfolge jeder eine andere Interpretation seiner Religion und des Gottes, zu dem er betet.
Hat sich das Thema Religion in der modernen Gesellschaft erledigt? Manche denken so. Moderne und Religion geht für etliche Menschen nicht zusammen. Doch die zähe These, dass die Religion im Verschwinden sei, wurde inzwischen durch die These von der Rückkehr der Religion abgelöst - unter dem Eindruck der islamischen Entwicklungen, dem Erstarken christlich-fundamentalistischer Gruppen sowie dem Comeback von Religion in profanen Medien. Es ist relativ schwierig, den heutigen Status von Religion einzuschätzen. Besonders im Blick auf die weltweite Lage.
Dieser Herausforderung hat sich Friedrich Wilhelm Graf, gestellt. Und überzeugend gelöst. Seine Beschreibung und Analyse der religiösen Lage in Deutschland und der globalen Lage der Religionen bilden die Komplexität, Widersprüche, Frontlinien und Arrangements eines "Supermarkts der Religionen" fundiert ab.
Seine Betrachtung scheut nicht klare Setzungen und Einschätzungen. Daher liegt ein spannendes Buch des Professors für Systematische Theologie und Ethik an der Universität München vor, das die weltweiten Spannungen und Brüche in den religiösen Szenarien spürbar macht.
"Mord aus Glaubenshass, Dauerstreit um Kopftücher, Kirchenkampf um homosexuelle Priester, Blasphemie durch einen Burka-Comic, ein Papst der Armen als Fußballfan, die theologische Schwäche der EKD - alles gehört zur religiösen Signatur der Gegenwart. Gerade politisierte Religion führt in vielen Ländern der Welt zu ganz harten Kulturkämpfen und immer neuem Streit um die Grundlagen der politischen Ordnung."
Anspruchsvoller Aufwand an wissenschaftlichen Zugängen
Der liberal-protestantische Religionsdeuter hilft mit seinem globalen Überblick besser zu begreifen, wie die Konflikt-, Konkurrenz- und Kooperationstendenzen in den Religionen, Konfessionen und in religiös-gesellschaftlichen Kontexten verlaufen. Auch was sich neben der deutschen in der europäischen und in der außereuropäischen Religionslandschaft tut.
Dabei treibt Friedrich Wilhelm Graf einen anspruchsvollen Aufwand an wissenschaftlichen Zugängen, Fakten und Begriffen, so dass historische und zeitgeschichtliche, soziopsychologische und kulturelle, politische und ökonomische Aspekte miteinander ins Spiel kommen. Das bringt notgedrungen einen akademisch-wissenschaftlichen Sprachstil mit, dem sicher nicht alle folgen können, die das Buch verstehen sollten. Der es aber auch den Gegnern der Grafschen Deutung schwer machen dürfte.
Das Christentum dünnt in Europa aus - sowohl, was die zahlenmäßige Anhängerschaft als auch die Ausstrahlungskraft angeht. Bisher konnte Südamerika die meisten Christen aufweisen. Afrika schickt sich an, Südamerika zu überholen.
Zeitgleich sind die Religionen "in neuer Intensität in den öffentlichen Raum zurückgekehrt. Die alte liberale Vorstellung, dass Gottesglaube primär eine private Angelegenheit des Individuums ist, hat sich als Illusion erwiesen".
Sie demonstrieren ihren Anspruch. Bei gleichzeitiger wechselseitiger Durchdringung mit religiösen Gehalten und Ritualen, was zu synkretistischen Religionen führt, wie es das Christentum ist. Was wiederum mehr Konflikte nach sich zieht. Denn es braucht Abgrenzung, um die eigene Reichweite und Anhängerschaft zu erweitern, und für bestimmte Ziele mobilisieren zu können.
"Je durchlässiger die Grenzen zwischen unterschiedlichen Religionen mit Blick auf sinnhafte Symbole, theologische Ideen, lebensbestimmende Kulte sind, desto heftiger entsteht erneut das Bedürfnis nach scharf markanter Distinktion und harter Exklusionspraxis."
Vielfalt der christlichen Gruppen und Szenen
Im Kampf um Anhängerschaft, Privilegien und Beachtung sind die fundamentalistischen Religionsgruppen derzeit im Vorteil, weil sie scharf konturiert die Komplexität der Welt für Einzelne reduzieren und so Entlastung und eine stabile Orientierung bieten. Das gilt für alle Varianten, seien sie christlich, islamisch, buddhistisch, hinduistisch oder jüdisch. Der papstzentrierte Katholizismus hat dabei durchaus Vorteile in "Märkten und Medien".
Und "vieles spricht dafür, dass unter den Gegenwartsbedingungen religiöser Globalisierung der Kampf konkurrierender politisierter Wertegötter" auf der Tagesordnung internationaler Politik bleiben wird."
Dabei schreibt Graf immer mehr statt von Christentum vom "der Vielfalt der Christentümer", die die derzeit größte Religionsfamilie ausmacht. Ein Begriff, den er schon früher prägte, um die Vielfalt christlicher Strömungen, Konfessionen, Kirchen, Gruppen und Szenen anzuzeigen. Sie sind nicht mehr mit einem einheitlichen Begriff zu fassen, der Einheitlichkeit nur vortäuscht. Analog gilt dies auch für die anderen Weltreligionen.
In der Auseinandersetzung mit Kritikern des Monotheismus prägte Graf einst auch den Begriff "Polymonotheismus". So nimmt Gott für Menschen Gestalt an:
"Alle beten zu dem einen Gott, aber jeder und jede nur zu seinem, ihrem bestimmten Gott."
So ist die Lage der Religion.

Friedrich Wilhelm Graf: Götter Global. Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird
C.H. Beck Verlag München, März 2014
286 Seiten, 16,95 Euro