Glaube heute: Wie halten wir es mit der Religion?

23.02.2013
Die Kirchen stecken in der Krise, immer mehr Menschen wenden sich ab. Besonders die katholische Kirche wird auch von ihren eigenen Gläubigen zunehmend infrage gestellt – sie verzeichnet jährlich mehr als 100.000 Austritte. Der Umgang mit dem Missbrauchsskandal, das Festhalten an Zölibat und der Verweigerung des Priestertums für Frauen, die strenge Sexualmoral, werden von vielen als weltfremd, reaktionär und überholt kritisiert.
Welchen Stellenwert haben die Kirchen in unserer heutigen Zeit?
Welche Rolle spielt die Religion?

"Individuen können auf Religion verzichten, aber Gesellschaften scheinen darauf nicht verzichten zu können", sagt der Soziologe Prof. Dr. Armin Nassehi von der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ihn interessiert, wie es die Religionen und die Kirchen geschafft haben, Jahrtausende zu überstehen, ihr Einfluss auf die Menschen, ihre Bindekraft und Inszenierung. "Was mich unglaublich fasziniert ist, was religiöse Rede bewirken kann." Aber auch Fragen wie: Wie gehen die Kirchen mit Kritik, Abweichlern um, wie reformfähig sind sie?

"In der katholischen Kirche ist das organisierte Misstrauen von oben nach unten viel stärker als in allen anderen Großorganisationen. Die Hierarchen verstehen nicht, das kritische Potenzial in der Kirche als besonderes Kapital anzusehen. Nur wem die Kirche wirklich wichtig ist, kritisiert sie von innen. Leute, die sich engagiert aufregen, sind das Wichtigste überhaupt. Wenn das aufhört, ist das kirchliche Leben weg".

Seine Beobachtung: "Religion ist genauso individuell wie Markenbewusstsein." Jeder bastele sich seine Religion, jenseits fester Heilslehren oder Dogmen.

"Religiöse Sätze müssen gar nicht richtig zusammenpassen, sie müssen nur authentisch genug vorgetragen werden können. Sie müssen nicht konfessionell, nicht inhaltlich einheitlich sein, zum Teil sind Motive aus den unterschiedlichen Weltreligionen zusammengesetzt, wenn man sie brauchen kann."

Nassehi provoziert gern, auch mit seinen Betrachtungen zum wachsenden Atheismus: "Eine Gesellschaft, die keinen Atheismus braucht, die hat sich mit ihrer Religion versöhnt. Das wäre die positive Variante. Die negative wäre: Eine Gesellschaft in der es keinen Atheismus gibt, hat ihre Religion verloren."

"Die katholische Kirche hat eine fundamentalistische Grundhaltung, die lehne ich ab", sagt Tanja Dückers. Die Journalistin und Autorin ist aus der katholischen Kirche ausgetreten und bezeichnet sich als "Agnostikerin und anständige atheistische Humanistin".

"Ich habe mich sehr geärgert über den Umgang mit dem Missbrauchsskandal. Das hat mal wieder gezeigt, dass es der Kirche mehr darum geht, ihre Reputation aufrecht zu erhalten, als Aufklärung zu betreiben." Die Kirche reiche in viel zu weitreichender Form in den Alltag der Menschen hinein. "Im Grunde finde ich, dass die katholische Kirche nicht mit der Demokratie in Einklang zu bringen ist." Man müsse sich nur die Kirchenrechtsbarkeit anschauen, "wie sie sich unserer Justiziabilität entzieht, ist antiquiert und zutiefst antidemokratisch."

Sie respektiere die Gläubigkeit anderer Menschen, vermisst umgekehrt aber eine ähnliche Toleranz seitens der Gläubigen:

"Der Religiöse hat die sogenannten `Werte´ für sich gepachtet. Atheisten werden hingegen oft als Gottlose bezeichnet, meist mit dem Vorwurf, sie hätten auch keine Moral. Das ist aber falsch – eine Haltung, bei der die Moral abgelehnt wird, bezeichnet man als Nihilismus oder Amoralismus. Auch die meisten Atheisten folgen einer Moral, nur berufen sie sich hierbei nicht auf Gott", schreibt sie im "Politischen Feuilleton" vom 17.12.1012.

Ihr Fazit: "Ohne Kirchen keine Werte, keine Moral? Das wäre doch ein Armutszeugnis für uns denkende und fühlende Menschen."

Glaube heute: Wie halten wir es mit der Religion?
Darüber diskutiert Matthias Hanselmann heute von 9:05 bis 11 Uhr mit Tanja Dückers und Armin Nassehi. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der Telefonnummer 00800 2254 2254 und per E-Mail unter gespraech@dradio.de.

Informationen im Internet
Über Tanja Dückers
Prof. Dr. Armin Nassehi