Glaube auch ohne Gott

Rezensiert von Florian Felix Weyh · 03.08.2008
Wer ohne Religion lebt, muss nicht auf Werte, Spiritualität und Trost verzichten. Mit dieser Botschaft trifft André Comte-Sponville den Nerv der heutigen Zeit. In dem Buch "Woran glaubt ein Atheist?" eröffnet er neue Wege des Glaubens jenseits von Gott und Kirche.
Nehmen wir einmal an, Sie - Hörerin oder Hörer - seien gläubiger Christ, und jemand wolle Sie vom Gegenteil überzeugen, also von den Vorteilen des Atheismus. Dann kann er es Ihnen leicht oder schwer machen. Schwer, wenn er den Finger in die Wunde aller Religionen legt und auf die Differenz zwischen erlebter Welt und verkündeter Glaubensgewissheit hinweist. Leicht hingegen ist die Flucht in billige Polemik.

"Schalten Sie einmal einen Privatsender ein, sehen Sie einen Tag lang fern, und dann fragen Sie sich angesichts all dieser Dummheit, Brutalität und Gemeinheit: Wie hätte ein allmächtiges und allwissendes Wesen das wollen können? Sie werden einwenden, dass die Fernsehprogramme nicht von Gott gemacht sind. Ja. Aber die Menschen, die für Quoten und Programme verantwortlich sind... Kann man bei diesen mittelmäßigen Geschöpfen noch an die unendliche Vollkommenheit des Schöpfers glauben?"

Zugegeben: Das ist ein perfide gewähltes Zitat aus André Comte-Sponvilles Verteidigung atheistischer Lebensweise. Der französische Philosoph gehört nämlich ausdrücklich nicht zu jener Fraktion, die ihre Glaubensverweigerung mit demselben Fanatismus betreibt wie andere ihre Bejahung. Im Gegenteil, Comte-Sponville fühlt sich mit der Etikettierung eines Freundes, er sei ein "atheistischer Christ", ganz wohl. Sein Buch ist kein Abrisskommando Abendland, sondern eine Selbstvergewisserung ohne missionarischen Drang. So bleibt die zitierte Stelle die einzig schiefe Polemik, der er mit Hinweis auf den freien Willen des Menschen sogar selbst widerspricht; ihn räumen ja auch die Theologen ein, Gott lässt dem Menschen Handlungsfreiheit. Aber es gibt ja noch andere Einwände:

"Sechs Hauptargumente habe ich. Die drei ersten bringen mich dazu, nicht an Gott zu glauben, die drei folgenden, zu glauben, dass er nicht existiert: Da ist die Schwäche der Gegenargumente (der angeblichen 'Gottesbeweise'); die mangelnde Erfahrung; meine Weigerung, etwas, das ich nicht verstehe, durch etwas zu erklären, was ich noch weniger verstehe; das Übermaß des Bösen; das Mittelmaß des Menschen; und schließlich die Tatsache, dass Gott so sehr unseren Wünschen entspricht, dass man allen Grund zu denken hat, er sei nur erfunden worden, um sie - wenigstens in der Phantasie - zu erfüllen."

Dass Gottesbeweise eine Abteilung des Denkgewerbes sind, in der sich jenseits kirchlicher Dogmenseminare keine Meriten mehr erwerben lassen, weiß heute jeder Primaner. Spaß macht es dennoch, sie vorgeführt und geistvoll zerpflückt zu sehen; auf dem Gebiet der Logik zeigte sich die Philosophie schon immer jeglicher Theologie überlegen. Doch das ist nicht der springende Punkt, wie André Comte-Sponville einräumt:

"Gott ist kein Theorem. Es geht nicht darum, ihn zu beweisen oder abzuleiten, sondern darum, an ihn zu glauben oder nicht."

Und da fällt dem persönlichen Erleben die Hauptlast zu:

"Einer meiner prinzipiellen Gründe, nicht an Gott zu glauben, ist, dass ich keine entsprechenden Erfahrungen habe. Das ist das einfachste Argument. Und eines der stärksten. Keiner wird mich von der Vorstellung abbringen, dass Gott, so es ihn denn gäbe, sichtbarer, fühlbarer wäre. Es müsste doch reichen, Augen und Seele auf zutun. Ich versuche es. Und je besser es mir gelingt, desto mehr sehe ich die Welt, und desto mehr liebe ich die Menschen."

Ein gläubiger Mensch hätte kaum Mühe, in diesen Sätzen einen Zirkelschluss zu entdecken. Denn wenn mit offenem Blick auf die Welt die Liebe zu den Menschen wächst - die doch eigentlich, eines der Contra-Argumente, so grauenvoll mittelmäßig sind - dann verbirgt sich Gott hinter dieser Liebe. Genauer: Er ist identisch mit ihr und wird damit erfahrbar. Übrigens taugt auch die irdische Liebe als klassische Entgegnung an Atheisten, die immer darauf pochen, Gott müsse sich jedem persönlich offenbaren, um als vorhanden gelten zu dürfen.

Ein Mensch, der keine Liebe kennt, widerlegt ja keineswegs die Tatsache, dass unermesslich viel Liebe auf der Welt besteht. Trotz vieler Millionen individueller Erlebnisse dieser Art bleibt die Liebe für denjenigen unbeweisbar, der sie lebenslang entbehren muss - ganz analog funktioniert das Glaubenserlebnis. So lässt sich an vielen Stellen wider den Autor argumentieren und die Freude geistiger Auseinandersetzung erfahren. Das Schöne an André Comte-Sponvilles Denken ist die Zwanglosigkeit, mit der es sich aller Volten und Tricks bedient, wie man sie sonst nur von den Jesuiten kennt; nur eben mit umgekehrten Vorzeichen. Zum Schluss allerdings - das deutet der Titel "Woran glaubt ein Atheist?" bereits an -, kippt das argumentative Patt zugunsten der Religion um.

Die atheistische Spiritualität, die Comte-Sponville als Kniefall vor der Erhabenheit der Natur anempfiehlt, ist nichts weiter als eine kirchenlose Religiosität. Sie beruht wie das Gotteserleben kirchlich gebundener Menschen auf subjektiver Erfahrung. Man merkt dem Buch deutlich an, wie sehr der Autor seine transzendentalen Bedürfnisse zu bewahren sucht, während er in einen inneren Abwehrkampf gegen Amtskirchen jeder Couleur verstrickt ist, weil er durch die Fundamentalismen der Gegenwart das Erbe der Aufklärung gefährdet sieht, vor allem die Trennung von Staat und Kirche. Aber er stellt keineswegs die Kulturleistungen der Weltreligionen in Frage, vor allem nicht die Werte des Christentums:

"Was bleibt vom christlichen Abendland, wenn es nicht mehr christlich ist? Darauf gibt es zwei Antworten: Entweder Sie denken, dass nichts davon bleibt. Dann gute Nacht. In diesem Fall haben wir dem Fanatismus im Äußeren und dem Nihilismus im Inneren nichts mehr entgegenzusetzen - und der Nihilismus ist, anders als anscheinend viele glauben, die bei weitem größere Gefahr. Reichtum hat noch nie genügt, eine Zivilisation zu begründen. Elend noch weniger. Es bedarf auch der Kultur, der Phantasie, der Begeisterung, der Kreativität, und nichts von alldem ist ohne Mut, ohne Arbeit, ohne Mühe zu haben. "Europas größte Gefahr ist die Müdigkeit", meinte Husserl. Gute Nacht, Kinder: Der Okzident hat seinen Glauben verloren, und die Müdigkeit sucht ihn heim."

Bei Lichte betrachtet, ist das kleine Brevier ein trojanisches Pferd, mit dem man zwar keine Glaubensburg zu schleifen vermag, doch so manchem Atheisten den Rückweg in eine Religion ohne Kirche eröffnet. In Wahrheit nämlich liebt der Philosoph die Chuzpe des Sowohl-Als-Auch, bei der man sich festlegt und doch wieder nicht, um auf jeden Fall auf der sicheren Seite zu sein. Wie im berühmten jüdischen Witz:

"Es gibt keinen Gott, aber wir sind sein auserwähltes Volk."

André Comte-Sponville: Woran glaubt ein Atheist?
Aus dem Französischen von Brigitte Große
Diogenes Verlag, Zürich 2008
Coverausschnitt: André Comte-Sponville: Woran glaubt ein Atheist? Spiritualität ohne Gott
Coverausschnitt: André Comte-Sponville: Woran glaubt ein Atheist? Spiritualität ohne Gott© Diogenes Verlag Zürich