Gilt in Deutschland die Scharia?

Mathias Rohe im Gespräch mit Dieter Kassel · 18.10.2010
Im Privatrecht - etwa bei den Thema Familie, Ehe und Erbe - wenden deutsche Gerichte bisweilen die Scharia an, sagt der Jurist und Islamwissenschaftler Mathias Rohe. Allerdings gelte dies nur in solchen Fällen, in denen das fremde Recht für das deutsche Rechtsempfinden "nicht zu anstößig" sei.
Dieter Kassel: Was man nicht weiß, macht einen nicht heiß – deshalb hat sich bis vor Kurzem kaum ein Laie dafür interessiert, ob eigentlich in Deutschland gelegentlich auch ausländisches Recht angewendet wird, und niemand hat ernsthaft die Frage gestellt, ob manchmal in Deutschland auch die Scharia gilt. Seit aber die Bundeskanzlerin im Zusammenhang mit der Integrationsdebatte und der Frage, welche Rolle der Islam in Deutschland spielt, gesagt hat, die Scharia werde bei uns nicht angewendet, seitdem gibt es fast täglich in der Zeitung Gegenbeispiele, wird fast täglich von Experten der Kanzlerin widersprochen. Gilt also islamisches Recht, gilt die Scharia bei uns doch?

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Wir wollen diese Frage, die immer öfter gestellt wird, einem Mann stellen, der sie wirklich aus vielen Gründen beantworten kann, er ist Jurist und Islamwissenschaftler, ehemaliger Richter an einem deutschen Oberlandesgericht und war auch noch Projektgruppenmitglied der zweiten Deutschen Islamkonferenz. All das trifft zu auf Professor Mathias Rohe von der Universität Nürnberg-Erlangen. Schönen guten Tag, Herr Rohe!

Mathias Rohe: Guten Tag, Herr Kassel!

Kassel: Ganz simple Frage, wahrscheinlich keine simple Antwort: Gilt die Scharia unter gewissen Umständen auch in Deutschland?

Rohe: Ja, es ist so, allerdings nur insoweit, als das deutsche Recht das selbst so vorsieht. Also ich denke, man kann verbreitete Ängste widerlegen, indem man darauf hinweist: In Deutschland gilt alleine deutsches Recht, und nur insoweit als unsere Vorschriften das ermöglichen oder gar vorschreiben, können fremde Vorschriften und dann auch solche des islamischen Rechts hier zur Anwendung kommen.

Kassel: Was auch bedeutet: Wir reden hier zwar an Beispielen vermutlich über die Scharia, aber das Phänomen insgesamt bezieht sich generell auf ausländisches Recht?

Rohe: So ist es, und das ist wichtig festzuhalten, es ist also kein Privileg für Muslime in diesem Lande, sondern es geht um ganz allgemeine Fragen, aus welchen Gründen man in bestimmten Fällen ausländisches Recht anwendet, denn dafür gibt es gute Gründe.

Kassel: Sie haben gerade gesagt, es gibt Fälle, in denen deutsche Gesetze sogar vorschreiben, das ausländische Recht anzuwenden. In welchen Fällen und warum?

Rohe: Das beschränkt sich auf den Bereich des sogenannten Privatrechts, also da, wo es um private Rechtsbeziehungen geht, nicht, keinesfalls im Bereich des Strafrechts oder sonstigen öffentlichen Rechts, da entscheidet jeder Staat ganz alleine nach seinen Regeln. Aber im Privatrecht, wo es etwa um Verträge geht, wo es um Familienfragen geht, um Erbrechtsfragen geht, da kann in bestimmten Fällen tatsächlich ausländisches Recht zur Anwendung kommen, weil unser eigenes Gesetz das so vorsieht, übrigens seit über 100 Jahren.

Kassel: Was für Fälle könnten das denn zum Beispiel sein?

Rohe: Das könnte sein zum Beispiel ein Vertrag, der nach Prinzipien islamischen Wirtschaftens aufgesetzt wird, da wird dann zum Beispiel festgelegt, dass nichts investiert werden darf in Pornografisches, in Alkoholproduktion oder ähnliches mehr. Die wahrscheinlich häufigeren Fälle sind tatsächlich Ehen, Familienangelegenheiten, Erbschaftsfälle, denn wir haben sehr viele internationale Ehen hier, also wo unterschiedliche Staatsangehörige etwa beteiligt sind, und in solchen Fällen sieht unser geltendes Recht dann in bestimmtem Umfang die Anwendung ausländischer Vorschriften vor.

Kassel: Gibt es da nicht oft Konflikte? Nehmen wir das simple Beispiel, dass eine deutsche Staatsbürgerin verheiratet ist mit einem meinetwegen ägyptischen Staatsbürger. Wenn die einen Streit miteinander vor einem Zivilgericht ausfechten müssen, welches Recht gilt denn dann?

Rohe: Das kommt dann sehr darauf an, wo sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Es kann aber im Einzelnen passieren, dass wir beispielsweise dann ägyptisch, islamisch geprägtes Recht anwenden müssen, aber das tun wir nur in bestimmten Grenzen. Wir öffnen unsere Rechtsgrenzen dort, wo wir das für sinnvoll halten, aber wir behalten uns auch vor, die Tür wieder zu schließen.

Der Mechanismus heißt Ordre Public, das heißt: Wo die Anwendung fremden Rechts zu einem Ergebnis führen würde, die mit unseren grundlegenden Vorstellungen nicht vereinbar ist, dann wenden wir dieses fremde Recht selbstverständlich nicht an, beispielsweise Vorschriften des islamischen Rechts, die die Geschlechter ungleich behandeln, die die Religionen ungleich behandeln. Je stärker wir da einen Bezug zum Inland haben, desto eher sagen wir: Das können wir hier im Inland nicht hinnehmen.

Kassel: Ich finde die Grenzen da teilweise sehr schwierig, Professor Rohe. Sie haben ja vorhin schon das Beispiel gebracht, in der islamischen Welt sind die berühmten sogenannten zinsbasierten Finanzdienstleistungen nicht zulässig, und es gibt zum Beispiel einen Fall in Berlin relativ aktuell, da hat ein arabischer Investor ein Gebäude gekauft, das soll gewerblich genutzt werden, man kann es gewerblich mieten, und der sagt zum Beispiel: Zinsbasierte Finanzdienstleistungen können da nicht hinein. Klingt kompliziert, heißt simpel: Geldautomat der Berliner Sparkasse wäre nicht denkbar, Schweinefleisch darf in dem Haus nicht gegessen werden, und, und, und. Jetzt haben wir zum Beispiel die Gleichbehandlung der Religionen, wir haben ein Antidiskriminierungsgesetz. Könnte ich zum Beispiel in so einem Fall sagen, ich klage jetzt und kann dann doch einen Geldautomaten in dem Haus aufstellen?

Rohe: Das dürfte schwierig werden. In diesen Fällen müssen wir sicher dann noch unterscheiden, ob es um private Vermietung geht, da hat der Vermieter den Leuten normalerweise nicht reinzureden, wie sie da ihr Leben führen möchten. Bei gewerblichen Immobilien sieht es schon anders aus. Da haben wir auch ganz andere Verträge – jetzt nicht im Hinblick auf Islam oder Ähnliches –, wo versucht wird, eine bestimmte Niveaupflege zu betreiben, und ich muss gestehen: Ich wundere mich ein bisschen über diese Debatte. Es ist eine Gewerbeimmobilie in Berlin, und es klingt fast so, als ob der aufgeklärte Originaldeutsche das Recht habe, in jeder Gewerbeimmobilie eine Bank, eine Bar und ein Bordell vorzufinden. Ich glaube nicht, dass das zum Grundbestand des deutschen Rechts zu zählen ist.

Kassel: Nehmen wir ein anderes Beispiel, das durch die Presse immer geistert, ein Urteil eines Kölner Gerichts, wo wirklich ein geschiedener türkischer Ehemann dazu verpflichtet wurde, ich glaube, 600 Golddukaten Morgengabe an seine geschiedene Frau zu zahlen. Allein der Begriff Morgengabe, gut, wenn man den jetzt gegen Mitgift austauscht, klingt es für uns schon normaler, aber trotzdem: Das wirkt doch wie ein archaisches Ritual, und ein deutsches Gericht sagt trotzdem, nein, nein, das ist ein geltender Vertrag?

Rohe: Wir müssen nüchtern feststellen, dass es Lebensverhältnisse gibt, die sich nicht nur auf Deutschland beschränken, Leute, die mal hier wohnen, die mal andernorts wohnen, und gerade diese Brautgabe des traditionellen islamischen Rechts hat ja einen sehr guten Sinn für Frauen, die zum Beispiel nach einer Scheidung nur sehr kurz nacheheliche Unterhaltsansprüche haben. Also ein solcher Vertrag hilft der Frau, wenn sie beispielsweise in einem islamrechtlich geprägten Land dann lebt und der Ehemann sich da ja sehr leicht von ihr scheiden lassen kann. Da muss man sich die Frage stellen: Warum soll man nicht in einen Ehevertrag reinschreiben, dass im Falle zum Beispiel einer Scheidung eine Frau 600 Goldstücke bekommt? Ich sehe da kein Diskriminierungsproblem, und deswegen haben unsere Gerichte das auch nicht als anstößig angesehen.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur gerade mit dem Juristen und Islamwissenschaftler Mathias Rohe von der Universität Nürnberg-Erlangen, und Sie haben so fast sein bisschen nebenbei schon erwähnt, dass diese Regel, dass ausländisches Recht unter gewissen Umständen anzuwenden ist, ja nicht neu ist. Wie alt ist sie denn und warum ist sie überhaupt entstanden?

Rohe: Also die konkreten Regelungen, die wir da haben, sind zum 1.1.1900 in Kraft getreten in Deutschland. Die Idee, in bestimmten Fällen ausländisches Recht anzuwenden, ist allerdings sehr viel älter, wir finden Ursprünge schon im römischen Recht. Der Grundlagengedanke hier ist: In manchen internationalen Lebensverhältnissen ist ein fremdes Recht einfach sachnäher als das eigene Recht, deswegen, weil die Beteiligten ihre Lebensverhältnisse auf die Geltung dieses fremden Rechts aufgebaut haben.

Wenn dieses fremde Recht für uns nicht zu anstößig ist, dann nehmen wir hin, dass es auf der Welt ein bisschen unterschiedliche Rechtsvorstellungen gibt. Aber noch mal: Es geht immer um die Frage des sachnächsten Rechts, es geht nur um die Frage des Privatrechts, private Rechtsbeziehungen, und wir behalten uns auch vor, wenn die Ergebnisse allzu sehr auseinanderdriften, dann doch zu sagen: Hier gelten unsere Standards alleine, und wir wenden dann das anstößige fremde Recht eben nicht an.

Kassel: Nun wird im Moment – das ist ja auch einer der Gründe, warum auch diese, wie Sie gerade beschrieben haben, uralten Regelungen so viel diskutiert werden zurzeit –, nun wird im Moment in Deutschland viel über Integration, über vielleicht nicht immer ganz gelungene Integration gesprochen. Ist es denn mal jenseits alles Juristischen unter diesem Gesichtspunkt eigentlich sinnvoll, in Deutschland lebenden Muslimen zu sagen: Wir verlangen von dir einerseits, dass du endlich komplett ankommst und ein Mensch des westlichen Abendlandes bist, andererseits, juristisch gesehen können wir dich auch mal anders behandeln?

Rohe: In der Tat ist da eine gewisse Diskrepanz zu sehen, wobei man auch sagen muss: Muslime, die deutsche Staatsangehörige sind, unterliegen ohnehin von vornherein nur dem deutschen Recht. Aber es ist schon wahr: Wir haben im Recht noch nicht wahrgenommen, dass wir ein Einwanderungsland geworden sind, und dass wir das sind, glaube ich, sollte eigentlich unstreitig sein. Alles andere ist Realitätsverweigerung. Und wir sollten deswegen auch unser Recht in diesem Punkt auf den Standard von Einwanderungsländern umstellen. Typische Einwanderungsländer knüpfen diese Dinge an eine Form des verfestigten gewöhnlichen Aufenthalts, das heißt: Wer auf Dauer hier ist, der wird eben nur nach dem hier geltenden Sachrecht beurteilt, und nur in den echten internationalen Fällen, wo die Leute mal kürzer hier sind, dann wieder in ein anderes Land gehen, wenden wir fremde Rechtsvorschriften an.

Das wäre eigentlich die gute Lösung, dann könnten wir unsere Gerichte entlasten, unsere Verwaltungen entlasten, die heute noch massenhaft und ohne tiefere Gründe fremdes Recht anwenden müssen. Manchmal rechnen die Leute überhaupt nicht damit, dass sie da am Recht ihrer Staatsangehörigkeit festgehalten werden, aber das wäre die Aufgabe des Gesetzgebers, von dieser Staatsangehörigkeitsorientierung auf eine Orientierung in Richtung Aufenthaltsland umzuschwenken.

Kassel: Sagt Professor Mathias Rohe von der Universität Nürnberg-Erlangen, Jurist und Islamwissenschaftler. Herr Rohe, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Rohe: Danke Ihnen für Ihr Interesse, Herr Kassel!