Gibt es einen ostdeutschen Rassismus?

"Hitler war ein Westler"

Menschenmenge mit Deutschlandfahnen vor der Dresdner Frauenkirche bei Dunkelheit.
Pegida hat nicht in Dortmund oder Düsseldorf massenhaften Zulauf bekommen, sondern in Dresden. © dpa / Arno Burgi
Von Regina Voss · 01.06.2016
Islamophobe Montagsmarschierer, Bürgerattacken auf einen Flüchtlingsbus, Ausschreitungen gegen Ausländer - Alltagsrassismus scheint im Osten anders verbreitet zu sein als in Westdeutschland. Aber warum ist das so und was hat das mit der DDR zu tun?
"Wir sind das Volk!"
Ich mochte diesen Spruch noch nie, sagt eine Freundin, zeigt auf ein Plakat mit dem Satz "Wir sind das Volk!" Ich zucke kurz und denke: "Du bist ja nicht dabei gewesen!" 2009 ist unsere gemeinsame Zeit im wiedervereinigten Deutschland länger als unsere Kindheit und Jugend in Ost und West. Doch diesen Satz verstehen wir vor dem Hintergrund unserer Geschichte grundverschieden.
Naumann: "Ja, 'Wir sind das Volk'... - ich bin ja im Osten geboren und habe da meine ersten Lebensjahre verbracht und das war immer für mich früher ein sehr positiver Ausdruck und ein Ausdruck, wo es um Zusammengehörigkeit ging, Zusammenhalt und Inklusion und ich habe das Gefühl, der hat sich jetzt sehr gewandelt hin zu einer Exklusion und da sind wir auch bei der ostdeutschen Identitätssuche."
"Wir sind das Volk!" schleudern rund hundert Menschen im sächsischen Dorf Clausnitz im Februar 2016 aggressiv einem Bus entgegen, der geflüchtete Menschen in ihre Unterkünfte bringen soll.
"Reisegenuss"? Flüchtlinge werden in Clausnitz von einem Mob bedrängt (18.02.2016)
"Reisegenuss"? Flüchtlinge werden in Clausnitz von einem Mob bedrängt (18.02.2016)© Screenshot Youtube
1989 war "Wir sind das Volk" ein trotziger Satz: die Souveränitätserklärung der DDR-Bürgerinnen und Bürger an ihre Regierung, an die Volksvertreter.
Erdmann: "Das war ja vorher für mich wie ein Schlachtruf, um sich selbst ein Gesicht zu geben und auf die Straße zu gehen und sich zu artikulieren."
Im Herbst 89 wurde aus "Wir sind das Volk" bald "Wir sind ein Volk" - und in den Kundgebungen wurden große Deutschlandfahnen geschwenkt. Die Mauer fiel und der DDR-Staat in seinen Grenzen wurde Geschichte.
Naumann: "Ich merke auch, dass meine Wahrnehmung von 'Wir sind das Volk' 1990 natürlich vermutlich ein bisschen blauäugig war, weil da war das auch schon so, dass viele Leute Probleme hatten mit dem aufkeimenden Nationalismus oder dass es Leute gab, die gesagt haben: Jetzt soll Deutschland wieder ganz groß werden."
Rathke: "Für mich ist das entsetzlich, dass dieser Satz jetzt plötzlich dafür steht: Die Ossis sind Rassisten."
Warum immer wieder der Osten? Man kann Statistiken unterschiedlich lesen - es gibt auch Mölln, Solingen, Stadtteile von Dortmund - aber es ist offensichtlich, dass Rassismus in Teilen Ostdeutschlands zum Alltag gehört, "Rechts sein" zum Mainstream unter Jugendlichen geworden ist und gar nicht mehr als Rassismus wahrgenommen wird.
Und die älteren Generationen? Warum immer wieder der Osten? Hat das alles noch mit "DDR" zu tun? Und wenn ja: Was hat das mit "DDR" zu tun?
Wiens: "Ich wundere mich, warum gerade in einem Land, das sich den Antifaschismus auf die Fahne geschrieben hat, jetzt solche Probleme oder genau da, das Problem viel größer ist als im Rest des Landes."

Gründungsmythos Antifaschismus

1949 wurde die DDR als "erster antifaschistischer Staat auf deutschem Boden" gegründet. Dem jungen Staat wurde damit schon im Titel ein schillernder Gründungsmythos mit auf den Weg gegeben: antifaschistisch - nicht der Nationalsozialismus ist das Erbe des neuen deutschen Staates, sondern der Widerstandskampf der Kommunisten. In dieser Tradition sahen sich die kommunistischen Führungseliten - und ihre DDR.
Ich suche das Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam auf. Dort arbeitet der Historiker Christoph Classen. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist der Umgang mit dem Nationalsozialismus in beiden deutschen Staaten. Die DDR - ein Staat in der Tradition des Antifaschismus?
Classen: "Das war insofern auch ideologisch stimmig, als dass ja in der kommunistischen Vorstellung der Faschismus eine - nach dieser berühmten Dimitroff-Formel - eine gesteigerte Form des Kapitalismus und des Klassenkampfes war. Das heißt, wenn der Kapitalismus so stark unter Druck gerät, dann zeigt er sein wahres Gesicht und dann schlägt er um in den Faschismus. Und da die Wirtschaftsordnung in der Bundesrepublik ja kapitalistisch war, war auch klar, dass der Faschismus nur dort fortexistieren konnte. Unter kommunistischen und sozialistischen Verhältnissen war dem Faschismus die Grundlage entzogen."
Christoph Classen betont, dass der Wunsch, einen antifaschistischen Staat zu gründen, natürlich auch aus den biografischen Erfahrungen der ersten Führungsgruppe der DDR entstanden war. Ein Wunsch, erwachsen aus den Erlebnissen der Kommunisten im Exil, im Widerstandskampf und im Konzentrationslager.
Gleichzeitig war der Antifaschismus das Integrationsangebot an die Bevölkerung. Es ging, wie auch im westlichen Teil Deutschlands, um Wiederaufbau und Staatsgründung. Ohne Ärzte und ohne Krankenschwestern, ohne Bauarbeiter, ohne Juristen, ohne Lehrerinnen - ohne eine wirkliche Beteiligung der Bevölkerung war das nicht zu leisten.
Classen: "Für mich ist der Antifaschismus eine historisch-politische Doppelkategorie und damit meine ich, dass er zum einen schon immer auf die Vergangenheit, den Nationalsozialismus, Bezug nimmt, und die Legitimation der neuen Ordnung aus der Katastrophe von 1945 ableitet, gleichzeitig ist das aber immer auch eine gegenwartsbezogene politische Kategorie, d.h. Du kannst früher ruhig Nationalsozialist gewesen sein, wenn Du jetzt mitmachst beim Aufbau des Sozialismus, dann kannst Du trotzdem ein guter Antifaschist sein. Und das ist attraktiv für einen Großteil der Deutschen, die in der Tat mitgemacht hatten."
Schulalltag in der DDR - Schüler im Unterricht an der 6. Polytechnischen Oberschule Karl-Friedrich-Schinkel in Berlin
Schulalltag in der DDR: Antifaschismus gehörte zum Selbstverständnis des Staates.© Imago / Seeliger
Wie nahtlos dieser Übergang oft war, verrät ein Schreiben der SED-Kreisleitung von 1946 aus Sonnenberg, einer kleinen Gemeinde im Norden von Berlin. Recht ungeniert wirbt die Partei um Stimmen ehemaliger Nationalsozialisten:
"Die SED ruft Dich zur Mithilfe am Neuaufbau Deutschlands! Sie ruft dich dann, wenn Du nicht aus materiell-egoistischen Gründen, sondern aus Überzeugung und Idealismus einstmals zur NSDAP gegangen bist, wenn Du dorthin gingst im Glauben, das Gute, den Sozialismus zu finden. Dann komme zu uns! Denn was Hitler dir versprochen hat und niemals hielt, das wird die SED dir gegeben: Verstaatlichung der Banken, Abschaffung des Bildungsprivilegs, Gleichberechtigung aller Schaffenden, Bodenreform, ... Schutz der friedlichen Entwicklung und des Friedens überhaupt. Die SED hat es verwirklicht! Wenn Du Hitler gefolgt bist, um Deutschland zu dienen, dann bist du unser Mann."
Was zählt, ist ein klares Bekenntnis zum jungen antifaschistischen Staat. Ein Bekenntnis, das das Versprechen beinhaltete, sich der eigenen Vergangenheit zu entledigen. Zum Preis, dass das bereinigte Gewissen an die Loyalität zum Staat gebunden war.
Aber ist die DDR nicht ein Land, das mit der Vergangenheit aufräumte, das gründlich "entnazifizierte"? Zumindest bin ich mit diesem Bild aufgewachsen: Das Image meiner vergangenen Heimat, das mich auch ein wenig mit Stolz erfüllte: Zumindest an diesem Punkt waren wir endlich mal überlegen, moralisch überlegen den Menschen jenseits der Mauer.

"Die Nazis leben im Westen"

Die zunächst sehr konsequente Entnazifizierung, die in der Sowjetischen Besatzungszone durchgeführt wurde, wurde vor allem auch sehr öffentlichkeitswirksam durchgeführt. Doch schon Ende der 50er-Jahre galt sie im Einvernehmen mit den sowjetischen Stellen als abgeschlossen. In groß angelegten Kampagnen konzentrierte man sich lieber darauf, die Existenz von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern im Westteil Deutschlands publik zu machen. Denn mit einem äußeren Feindbild - ähnlich wie auch im Westen Deutschlands - gelang die Integration der eigenen Bevölkerung besser.
"Die Nazis leben im Westen" - dieser Mythos fruchtete in den nachfolgenden Generationen, die keine Erinnerungen an Krieg und Nachkriegszeit hatten. Stefanie Fiebrig, geboren 1975, aufgewachsen nahe Frankfurt (Oder), beschreibt das Geschichtsbild ihrer Kindheit.
Fiebrig: "Die persönliche Schuld hatten die Leute im Westen, wenn überhaupt irgendjemand die hatte, wenn überhaupt irgendjemand die hatte. Aber wir ganz sicher nicht. Wir hatten damit ja nichts zu tun. Ich weiß, dass das Quatsch ist, nur um das dazu zu sagen."
Classen: "Es gibt diese These der Externalisierung des Nationalsozialismus. Das ist auch, glaube ich, ein Stück weit wirklich richtig. Indem man eben selber sich dieses Prädikat des Antifaschistischen verliehen hat, war klar, das Faschistische muss das Andere sein. Und das war der "Sowieso-Gegner" Bundesrepublik."
Wiens: "Na, Hitler war Westler, ganz klar."
Die Kriegs- und Nachkriegsgeneration lebte in einem Zwiespalt. Renate Beneke, geboren 1946:
Beneke: "Es wurde ummantelt. In den 50er-Jahren wurde ein Zukunftsdenken aufgebaut: Der Sozialismus siegt, wir sind die Besseren, wir machen es anders als die Generation davor - und im Alltag unterschwellig kam immer die ganze Lebensphilosophie der Leute, die sie durch den Krieg getragen hat, wieder hervor und damit war eine Schizophrenie gegeben.
Man konnte ja gar nicht als Einzelperson entscheiden: Ich bin jetzt gegen den, weil ich meine, das ist ein alter Faschist, sondern es war eine Doktrin, die allen übergestülpt wurde. Die viele gar nicht verstanden haben, aber die schon nachher massentauglich war, weil viele das Denken eingestellt haben."
Classen: "Und jeder, der persönliche Erinnerungen, abweichende Meinungen zu diesem Thema äußern wollte, hatte ein großes Problem, gerade weil der Antifaschismus zur Staatslegitimation so zentral war in der DDR, deshalb konnte darüber nicht offen geredet und darüber gestritten werden. Und deshalb fand eben keine kontroverse Auseinandersetzung zu diesem Thema in der DDR statt."
Gespräche über Schuld und die damit verbundene Verantwortung für die Gegenwart fanden im offiziellen Rahmen nicht statt. Nur in der Literatur konnte man immer wieder abweichende Erzählungen finden. Offiziell war der Faschismus eine historische Kategorie.
Fiebrig: "Aus Kinderperspektive sind Hitler und die Nazis zu der Zeit einfach Vergangenheit gewesen. Dass die in diesem Staatsgebiet, in dem wir lebten, auch nur ansatzweise gewesen sein sollten, diese Verbindung hat man nicht hergestellt. Das hat man auch gepflegt wegignoriert, ein bisschen so, als würde man über Neandertaler reden, wo man sich irgendwie klar macht, das gab es irgendwie mal, aber wo war das eigentlich und was war das eigentlich?"
Was heißt es, wenn ein Staat die Deutungshoheit über die eigene Vergangenheit übernimmt? Was heißt es, wenn es auch für die nachfolgenden Generationen kaum Möglichkeiten gibt, sich konkret mit dem, was vor 1945 geschehen ist, auseinanderzusetzen und im persönlichen Umfeld danach zu fragen, wer hat eigentlich damals welche Rolle gespielt?
Classen: "Der Umgang mit der NS-Vergangenheit in der DDR war ein Problem, aber es war oder es ist nur ein Faktor, der heute eine Rolle spielt. Natürlich war es ein Problem, dass man diese Vergangenheit in der Gesellschaft nicht offen thematisieren konnte und sich darüber nicht streiten konnte, dass man sich intergenerational nicht auseinander setzen konnte. Das ist eine Hypothek, die wahrscheinlich in Teilen des Landes bis heute eine Rolle spielt."
Mein Gesprächspartner Christoph Classen ist skeptisch gegenüber Ansätzen, die die Gründe für Fremdenfeindlichkeit und antiliberale Haltungen in Ostdeutschland ausschließlich in der DDR-Geschichte suchen. Trotzdem verweist er auf die feinen Verflechtungen zwischen der DDR-Geschichte und den Auswirkungen, die bis in die Gegenwart reichen. Er zieht eine Linie zwischen dem oft als verordnet bezeichneten Antifaschismus und den dadurch konservierten Mentalitäten.
Konnten gerade durch den offiziellen Antifaschismus und der dadurch fehlenden konkreten Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Stereotypen aus der NS-Zeit überleben?
Nach unserem Gespräch in Potsdam finde ich einen Beitrag, den Classen in einem Buch veröffentlicht hat. Der Titel: "Fremdheit gegenüber der eigenen Geschichte":
"Vielmehr scheint mir die kaum anzuzweifelnde breite Zustimmung zu so einem stark homogenisierten, auf inneren Konsens und äußere Abgrenzung zielenden, vorwiegend moralisch fundierten Konstrukt, wie es der staatsoffizielle Antifaschismus war, selbst Beleg für die Kontinuität jener anti-liberalen Mentalitäten und Werteorientierungen zu sein."
Der Antifaschismus als ein Konstrukt, mit dem die SED die Bevölkerung moralisch an sich binden konnte: War das das Erfolgsgeheimnis? Wie gelang es der DDR-Führung, den Antifaschismus in ihrer Gesellschaft zu verankern - in einer Gesellschaft, in der nicht weniger NS-Geschichte steckte als in der westdeutschen Gesellschaft?
Wenn ich Menschen verschiedener Generationen im Osten frage: was verbindest Du mit Antifaschismus? - dann bekomme ich ein Bündel von Erinnerungen als Antwort: Lieder, Texte, an die man sich genau erinnert. Lieder und Geschichten, die den Widerstandskampf gegen den Faschismus besingen. Gedenkfeiern, Besuche von Konzentrationslagern, und es tauchen die immer gleichen Namen antifaschistischer Widerstandskämpfer auf. Es gibt einen generationsübergreifenden Kanon an Erinnerungen.
Erdmann: "Ja, der Kleine Trompeter, das war auch so ein Lied, das einen total berührt hat. Da habe ich auch geweint. Und dann diese Kameraden, und dann wurden die abgeknallt und das klang brutal, das war total traurig. Das war für Kinder schon ein harter Stoff, aber ja."
Die DDR kreierte eine Erinnerungslandschaft, die fast alle Bereiche des alltäglichen Lebens überzog. Straßen und Plätze wurden nach kommunistischen Widerstandskämpfern benannt, Schulen, Kindergärten und Betriebe trugen die Namen von Liselotte Hermann, Ernst Thälmann, Erich Weinert. Die Heldengeschichten dieser Widerstandskämpfer gehörten zu den wichtigen Erzählungen der DDR-Kindheit.

Aus Erinnerungskultur wird Totenkult

Erdmann: "Wir sind natürlich damit aufgewachsen, dass, früher hatten wir Dornröschen und Schneewittchen und dann kamen eben nicht mehr die Märchen, dann kamen eben diese Leute in unser Leben, die uns dort irgendwie als Helden und Identifikationsfiguren an die Seite gegeben wurden. Klar gab es unsere Comicfiguren Hase und Wolf und 'Die Abrafaxe', aber es gab dann eben auch den Kleinen Trompeter oder Ernst Thälmann."
Fiebrich: "Ich empfinde das gar nicht als damit zugeballert worden sein - sondern, ich habe da Sachen gelernt, die für mich bis heute wichtig sind: Wir waren z.B. im Rahmen der Vorbereitung der Jugendweihe in einem KZ und das war für mich das Schlimmste, was ich jemals gesehen habe. Das ging mir so nahe, dass ich mir niemals vorstellen konnte, dass Menschen so was machen konnten oder davor die Augen verschließen konnten. Ich glaube auch, dass mich das sehr in allem, was ich jetzt mache, sehr geprägt hat. Das ist mir rätselhaft: Wenn Du das alles weißt, wenn du das alles gesehen hast, kannst Du doch niemals wieder in solche Verhaltensmuster fallen."
Doch die Erinnerungskultur erstarrte zum "Totenkult", stellte der Dramatiker Heiner Müller fest.
Auch der Soziologe David Begrich, geboren 1970 in Erfurt, war zu DDR-Zeiten mit seiner Klasse im Konzentrationslager.
Begrich: "Ich kann mich erinnern, wir sind da nach Sachsenhausen gefahren, da kam einer dieser grauen Herren. Dann wurde gesagt, das ist Erwin Sowieso, der ist Arbeiterveteran, der hat hier gesessen im Konzentrationslager und das Problem war ja auch, dass diese Leute wiederum selbst erstarrt waren in ihrer Erzählung. Der hatte das schon fünftausend achten Klassen erzählt mit den immer gleichen ideologischen Floskeln: Und so, liebe Kinder, und deshalb sind wir so froh, in der Deutschen Demokratischen Republik, die alle schützt und für den Frieden kämpft. Der hat ja nie erzählt: Wie ging es mir denn, wenn ich hier gesessen habe? Sondern der hat eine Heldengeschichte erzählt."
Classen: "Das ist natürlich ein Problem, wenn Jüngere nachwachsen, die einen völlig anderen Horizont haben, und wenn die der Vergangenheit nicht ihre eigene Bedeutung geben dürfen, dann passiert das, was wahrscheinlich passieren muss: Es wird irgendwie sinnentleert, es wird hohl. Und es werden weiter diese ganzen Sachen praktiziert, aber das, was man damit zu verbinden hatte, gab eine Großelterngeneration vor."
Sagt Christoph Classen. Ein Überdruss der ewig gleichen Formeln machte sich breit. Der unantastbare Antifaschismus immunisierte immer weniger.
Classen: "Neonazi zu sein oder ein bisschen so zu agieren, oder mit der faschistischen Symbolik zu spielen, das war die ultimative Provokation in der DDR."
Wiens: "Weil in einem Regime, das für sich quasi den Antifaschismus als konstituierend betrachtet, du in der Schule mit dem Gedanken 'antifaschistischer Schutzwall' als Synonym für Mauer erzogen wirst, ist es natürlich die größtmögliche Form des Widerstandes oder Opposition zu sagen: Ich finde genau das Gegenteil richtig."
Und der antifaschistische Staat reagierte darauf nach dem Muster: Was nicht sein darf, auch nicht sein kann.

Wiens: "Wir waren ja bei einer Demo mit einem selbst gemachten Transparent 'Gegen Neonazis in der DDR' - hört sich heute total banal an - das war natürlich ein totaler Tabubruch. 1. Ein Transparent selber machen, was nicht genehmigt wurde und 2. natürlich überhaupt die Tatsache zu erwähnen, dass es so was wie Neonazis im Osten in der DDR gegeben hat."
Die nicht angemeldete Demonstration bei der offiziellen Kundgebung für die Opfer des Faschismus im September 1988 in Berlin endete für den damals 18-jährigen Shenja-Paul Wiens und seine Freunde mit der Aufnahme der Personalien und einer kurzzeitigen Verhaftung.

Neonazis in der DDR

Doch nicht erst 1988, sondern schon in den frühen 80er-Jahren entstand in der DDR eine rechte, organsierte Szene. 1987, als die Punkband "Die Firma" und Sven Regener von "Element of Crime" - aus dem damaligen Westberlin - in der Berliner Zionskirche auftraten, wurde das Konzert von Neonazis überfallen. Das war der Wendepunkt. Denn jetzt war nicht mehr zu verschweigen, was vor allem in Fußballstadien, aber auch in Kneipen, manchmal im Straßenbild, offensichtlich war: Auch in der DDR gab es eine Neonazi-Szene!
Eine Handvoll am Überfall beteiligter Neonaziskins wurde vor Gericht gestellt und in zweiter Instanz verurteilt - wegen Rowdytums und Widerstands gegen die Staatsgewalt.
Im Dezember 1989 kamen sie bei der letzten Amnestie der Modrow-Regierung frei. Von ihr profitierten auch Inhaftierte, die wegen Rowdytums angeklagt waren.
Mit offenen Armen wurden die Neonazis im Westen begrüßt - von der NPD. Und mit der Wiedervereinigung konnte die rechtsradikale Partei ein Territorium erschließen, das ihr schon vor 1989 als äußerst attraktiv erschien. Der Soziologe David Begrich:
"Wissen Sie, warum NPD-Funktionäre Fans der DDR waren? Da gab es keine Ausländer, keine Arbeitslosen, keinen Dreck auf der Straße - obwohl die DDR ja sehr dreckig war. Für den durchschnittlichen NPD-Funktionär war die DDR politisch natürlich der Feind, aber auf der Handlungsebene der Lebenswelt herrschten aus Sicht der NPD in der DDR paradiesische Zustände: keine amerikanisierte Unterhaltungskultur, die Tugenden des 19. Jahrhunderts sozusagen zogen sich durch, all das machte für bestimmte Leute in der NPD die DDR sehr liebenswert. Das kann man ja reziprok umrechnen und sagen: Was hat denn das für Folgen?"
Erdmann: "Von dem, was ich rückwirkend verstehe, ist es so, dass die Stärke des Individuums in der DDR ja nicht so vorgesehen war."
Denkt Nora Erdmann, geboren 1975 in Ost-Berlin:
Erdmann: "Man hatte eher kollektive Entscheidungen, es gab einen kollektiven Zusammenhalt - das hat viele positive Aspekte, aber eben auch, dass man sozusagen als Individuum nicht so viel Verantwortung im Einzelnen für sich selbst übernehmen konnte oder musste - das gab es Beides, denke ich - und dass man nicht immer so sehr für sich selbst einstehen, sondern einem kollektiven Zusammenhang genügen musste."
"Es war ja immer ein Gruppengefühl", sagt Renate Benecke.
"Du bist unter einer Glocke, kannst dich zurücklehnen, wirst nicht habhaft gemacht für irgendetwas: das waren alle, wir alle haben gesagt. Das haben wir ja jetzt erst gelernt, dass man sagt: Ich will und ich habe gemacht. Und ich fordere … - oder so."

Ein ostdeutscher Rassismus?

Gibt es einen ostdeutschen Rassismus, der sich aus den Prägungen der geschlossenen DDR-Gesellschaft speist? Ich frage noch mal David Begrich von der Arbeitsstelle Rechtsextremismus in Magdeburg.
Begrich: "Man kann ja mal versuchen, sich klarzumachen, welche Einstellungen quer zu den Milieus, quer zu parteipolitischen Haltungen, mehrheitsfähig ist: Da gibt es eine Einstellung, die sehr mehrheitsfähig ist und das ist die Vorstellung von gesellschaftlicher Homogenität. Und diese gesellschaftliche Homogenität hat zwei Pole: Da gibt es den Pol der sozialen Gleichheit oder sozialen Gerechtigkeit, da bekommen Sie nach wie vor hohe Zustimmungsraten."
Erdmann: "Klar, wir sind so aufgewachsen - in meinem Verständnis zumindest - das habe ich mitbekommen, dass alle gleich sind, dass alle sich auch gleich anzustrengen haben und die gleichen Chancen haben."
Begrich: "Dann gibt es aber auch einen anderen Pol dieser Homogenitätskonzepte, und das ist der Pol, wo es um die Unduldsamkeit gegenüber lebensweltlicher, kultureller, ethnischer und wie auch immer gearteter Diversität geht. Und Sie finden auch bei Leuten, die von sich sagen, dass sie Liberale oder links seien, immer wenn es um diese Frage geht, finden Sie ein autoritäres Muster wieder."

Fiebrig: "Du hast eigentlich nie über deine Grenzen schauen können. Weder sind Menschen zu uns gekommen, noch sind wir großartig woanders gewesen, d.h. du hattest keinen Kontakt zu dem, was jetzt als Ausländer beschimpft wird. Das existierte schlicht nicht. Es gab vietnamesische Gastarbeiter, die wir nie gesehen haben. Was ich sehr absurd finde, weil das parallel und unsichtbar war."
Erdmann: "Wir hatten gar kein Gefühl davon, was sind denn jetzt echte Ausländer. Wie soll man das denn begreifen? Es gab sehr wenige Afrikaner bei uns, manchmal gab es welche aus Mosambik und Angola, die hat man auf dem Alexanderplatz gesehen und es gab ein paar Vietnamesen in der DDR. Das war dann auch spannend, aber es war auch sehr, sehr fremd."
Vietnamesinnen stehen am 26.1.1990 inmitten von Wäschebergen im Kombinat REWATEX in Berlin.
Von Völkerfreundschaft keine Spur: Gastarbeiter in der DDR lebten völlig abgeschottet.© picture alliance / dpa

Die Mär von der Völkerfreundschaft

Die vom sozialistischen Staat inszenierten Rituale der Völkerfreundschaft konnten keine "echten" Kontakte ersetzen. Vertragsarbeiter sollten nach der Arbeit in die für sie vorgesehenen Wohnblöcke verschwinden. Der Kontakt zu ihnen wurde kontrolliert und häufig unterbunden. Viele Menschen in der DDR sahen die Vertragsarbeiter als Günstlinge des sozialistischen Staates an, auch als Konkurrenten in Bezug auf manch begehrtes Konsumgut.
Gibt es in dieser Wahrnehmung eine Kontinuität? Heute werden Migrantinnen und Migranten wieder als vom Staat bevorzugte "Günstlinge" wahrgenommen.
Ostdeutschen fehlt es an Erfahrungen mit anderen Kulturen. Sie sind Gleichheit gewohnt und haben daher Schwierigkeiten, mit Andersartigkeit umzugehen. Pluralismus nehmen die Ostdeutschen aufgrund ihrer Sozialisation als Bedrohung wahr: Ist das so?
Wie kann man die offenkundige Sehnsucht nach Homogenität, nach autoritären Mustern, erklären?
Begrich: "Diese Vorstellung wurde in den frühen Neunzigern noch mal stärker, als sich herausstellte, dass der alte Staat nicht mehr und der neue noch nicht da ist. Und die Folgen dieser Transformationsphase, die halte ich für die unaufgearbeitetsten und unterbelichteten Fragestellungen hinsichtlich der Frage: Worüber reden wir denn jetzt?"
Für David Begrich ist klar: Wer heute von der DDR redet, darf vom wiedervereinten Deutschland nach 1990 nicht schweigen.
Begrich: "Na, schauen Sie sich doch mal an, was war denn in den Schulen los? Lehrer, die von einem Tag auf den anderen jede, jede Autorität verloren haben, und zwar unabhängig davon, ob sie Staatsbürgerkunde oder Mathematik unterrichtet haben. Polizei, die an Autorität verloren hat, eine Elterngeneration, die sich ins Schweigen oder in die Bearbeitung ihrer neuen beruflichen oder biografischen Konflikte zurückgezogen hatte. Und gleichzeitig ein neuer westdeutscher Staat, von dem man nichts weniger erwartet hatte als die Errichtung des Paradieses auf Erden."
Haben die existenziellen Verunsicherungen die Sehnsucht nach einer Zeit befördert, in der die Welt vermeintlich noch geordnet war? Ostalgie nannte man vor einigen Jahren diese Sehnsucht. Hat sich das sozialkulturelle Phänomen politisiert und entlädt sich nun in aggressiver Ausgrenzung, in Rassismus und Ablehnung einer offenen, liberalen Gesellschaft?

"Ein immenser Frust"

Classen: "Da ist diese Transformationsphase, wo ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung arbeitslos geworden ist und alle, die damals etwas älter waren, hatten nie wieder einen Job gekriegt, es ist also eine Deklassierung gewesen, eine riesige Verlusterfahrung und das hat einen immensen Frust erzeugt, der bis heute bei den Betroffenen anhaltend ist."
Begrich: "Unabhängig, wie man das im Einzelnen bewertet, gibt es keine oder wenige Arenen ostdeutscher Selbstverständigungsprozesse, was in Ostdeutschland dazu führt, dass man sich eingegraben hat in den eigenen Vorurteilen und unfähig und auch unwillig ist, sich selbstkritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinander zu setzen."
Was heute tobt, ist offensichtlich ein Kampf um das Selbstverständnis und die Wertevorstellungen unserer Gesellschaft: Hat die offene Gesellschaft mit all ihren Zumutungen und Herausforderungen eine Zukunft - oder ist das Bedürfnis nach einem Versorgungs- und Obrigkeitsstaat übermächtig?
Eine Frage, die sich nicht nur im Osten Deutschlands stellt.
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