Gewissen des Kunstwerks

Von Georg-Friedrich Kühn · 16.01.2007
70 Jahre begeisterte Arturo Toscanini überall auf der Welt. Wie kein anderer Dirigent wusste er die Musiker und das Publikum mit seinem Feuer zu entzünden. Vorbild wurde er durch unbedingtes künstlerisches Wollen und entwaffnende persönliche Bescheidenheit.
Leidenschaft, Schmerz, Enthusiasmus fordert der Maestro von seinen New Yorker Radiomusikern. Ob sie ihn für verrückt halten? Nein, er sei nur besonders sensitiv. Seinen Dirigentenstab hat er diesmal nicht zertrümmert oder zerbissen, keine Verwünschungen oder Noten in den Raum geschleudert. Und einfach vom Podium verschwunden ist er auch nicht.

Geboren wurde Arturo Toscanini 1867 in Parma. Der Vater war Schneider, glühender Anhänger Garibaldis, antiklerikal. Mit neun Jahren kam Toscanini ans Konservatorium. Schon dort fiel er auf durch eiserne Disziplin und eine stupende Merkfähigkeit. Mit 19 dirigierte er seine erste Oper, "Aida", in Rio, als Einspringer.

Schon da hatte er 50 Opern auswendig im Kopf. Immer wieder, ob in New York oder in Bayreuth, verblüffte er Orchester damit, dass er kleinste Druckfehler in den Stimmen korrigierte. Über Provinztheater und Turin führte der Weg 1898 erstmals an die Mailänder Scala. Wie überall, wo er hinkam, krempelte er auch die "Mutter aller Opernhäuser" so um, dass Höchstleistungen möglich waren.

Unfähige und faule Musiker wurden gefeuert, Sängermarotten gebrochen. Wiederholungen beliebter Arien verweigerte er. Von der Regie bis zur Beleuchtung kontrollierte er alles. Gleich die zweite Premiere, Bellinis "Norma", kippte er nach der Generalprobe. Sie genügte nicht seinen Ansprüchen. Ähnlich rigoros räumte er ab 1908 an der New Yorker Met auf: gegen Widerstände.

Nach dem Ersten Weltkrieg begann er wieder an der Scala, brachte dort Puccinis nachgelassene "Turandot" heraus. Viele Werke setzte er in Italien durch - insbesondere von Wagner, Strauss, Mussorgsky, Debussy. Abgöttisch liebte er das Spätwerk Verdis. 1928 wechselte er erneut nach Amerika, nun ans New York Philharmonic, dann an das eigens für ihn erweiterte NBC-Radio-Orchester.

Anfangs Anhänger der Mussolini-Partei floh Toscanini bei deren Kurswechsel von links nach rechts ins gegnerische Lager, lieferte sich ewige Scharmützel mit den Faschisten, sagte 1933 auch seine Rückkehr nach Bayreuth ab. Nach dem Zweiten Weltkrieg trat er in Italien erst wieder auf, als ein demokratischer Neuanfang sich abzeichnete. Aber er war müde, die Augen fast blind. Einer Freundin schrieb er:

"Ich habe es so satt, M[aestro] Arturo Toscanini zu sein, dass es mich schon langweilt, auch nur meinen eigenen Namen lesen zu müssen."

Bei seinem letzten Radiokonzert 1954 streikte erstmals sein fotografisches Gedächtnis. Er starb in New York am 16. Januar 1957, kurz vor seinem 90. Geburtstag.

Wie kein anderer Dirigent wusste Toscanini die Musiker und das Publikum mit seinem Feuer zu entzünden. Sogar die Wiener Philharmoniker fingen plötzlich an, vor einer Probe mit ihm zu üben. Aber Toscanini, immer picobello, wusste auch Frauen zu entflammen. Die Callas hörte er - und fand ihre Textverständlichkeit ungenügend. Von Karajan war er gelangweilt. Aber er bewunderte Furtwängler, so sehr er sich von ihm unterschied.

Toscanini war das Gewissen des Kunstwerks. Vorbild bleibt er durch dieses unbedingte künstlerische Wollen und die entwaffnende persönliche Bescheidenheit.

"Die wichtigste Eigenschaft eines Dirigenten? Demut! Wenn irgend etwas schief läuft, so deshalb, weil ich den Komponisten nicht verstanden habe. Es ist immer meine Schuld."

An seinem Sarg defilierten Zehntausende: erst in New York, dann in Mailand. Die Pranke dieses Dirigiergenies blitzt noch durch die miserabelste Tonqualität der von ihm eigentlich gehassten Schallplatten.