Gewiefte Taktikerin mit kaltem Machtkalkül

Dominik Geppert im Gespräch mit Dieter Kassel · 04.05.2009
"Vier Fünftel der Briten haben letztlich von Thatchers Amtszeit wirtschaftlich profitiert", glaubt der Historiker Dominik Geppert. Die Abspaltung des letzten Fünftels habe Thatcher bewusst in Kauf genommen genauso wie eine Spaltung zwischen Süd- und Nordengland, um Wahlen zu gewinnen. Sie habe zwar ihre Vision eines wieder erstarkten Großbritanniens marktwirtschaftlich umgesetzt, dabei aber die Schere zwischen arm und reich vergrößert.
Dieter Kassel: "Mir wäre Eisen lieber gewesen, aber Bronze ist ausreichend, die rostet wenigstens nicht". Das hat Margaret Thatcher gesagt vor gut zwei Jahren, als eine Bronzefigur der ehemaligen britischen Premierministerin im Foyer des britischen Parlaments enthüllt wurde. Schon das wieder etwas, was es nur bei Margaret Thatcher gab. Noch niemals zuvor wurde einem lebenden britischen Politiker eine solche Ehre zuteil. Thatcher war aber ja immer die Ausnahme, sie war die erste und bis heute letzte weibliche Premierministerin in Großbritannien. Seit dem frühen 19. Jahrhundert hat es auch niemand gegeben, der so lange am Stück Premierminister war und, und, und.

Und: Sie spaltet immer noch die Briten. Nach ihrem Rücktritt im Jahr 1990 gab's ein paar Jahre später mal eine dieser Umfrage. Gefragt wurde nach dem besten Briten aller Zeiten, da errang sie Platz 16, und es gab kurz danach eine Umfrage nach dem schlimmsten Briten aller Zeiten, da errang sie Platz 4. Das zeigt, man kann sie mögen oder hassen, bloß ignorieren kann man sie offenbar bis heute nicht.

30 Jahre Margaret Thatcher, unser Thema jetzt im Gespräch mit Dr. Dominik Geppert. Er ist Dozent für neuere und neuste Geschichte an der Freien Universität Berlin und hat sich mit Frau Thatcher und ihrer Wirkung in der britischen Politik in mehreren Arbeiten beschäftigt. Schönen guten Tag, Herr Geppert!

Dominik Geppert: Guten Tag!

Kassel: Wenn man es mal neutral zu betrachten versucht, wir sind ja immerhin keine Briten, wir können es versuchen: Was hat ihr Großbritannien, ihrer Amtszeit heute noch zu verdanken?

Geppert: Die Wiederbelebung der britischen Wirtschaft, des britischen Unternehmergeistes, einer "Can do"-Einstellung, wie die Amerikaner sagen würden. Dass Wandel möglich ist, dass man nicht sozusagen ausgeliefert ist einem langsamen, schleichenden Niedergang. Und das war das Gefühl, was sich in Großbritannien doch in den 60er-Jahren begonnen und dann in den 70er-Jahren sehr, sehr stark verbreitet hatte.

Das ist etwas, was Großbritannien für die Mehrzahl der Briten zum Positiven verändert hat während ihrer Amtszeit. Vier Fünftel, grob gesprochen, vier Fünftel der Briten haben letztlich von Thatchers Amtszeit wirtschaftlich profitiert, das fünfte Fünftel, das unterste Fünftel eben nicht. Und da werden auch wieder die spaltenden Tendenzen natürlich bemerkbar. Diese Abkopplung hat sie sehenden Auges in Kauf genommen und auch in sehr schneidendem Ton begründet und vertreten.

Kassel: Das hatte ja auch geografische Folgen. Sie hat vor allen Dingen dafür gesorgt, weil dort die alten Industrien waren, weil dort noch die Minen sich befanden, dass Nordengland, Schottland, Wales abgekoppelt wurden und dass die Mitte und vor allem der Süden Englands immer reicher wurde. War ihr das auch einfach egal - sie kommt witzigerweise nicht aus dem Süden, sie kam aus Lincolnshire, also mehr oder weniger in der Mitte - war ihr das egal oder hat sie da versucht, darüber einen Ausgleich zu schaffen? Denn ich glaube, wenn man solche Umfragen heute machen würde, wie die Thatcher eingeschätzt wird, würde man im Norden Englands andere Ergebnisse kriegen als im Südosten.

Geppert: Also lebensweltlich kam sie zwar gebürtig aus Lincolnshire, aber sie hat sich eigentlich sehr früh bemüht, von dort wegzukommen. Das heißt, das Ziel, in England etwas zu werden, ist natürlich in der Hauptstadt zu reüssieren, stärker als das in Deutschland ist. Und insofern ist sie eine typische Karrierefrau, die erfolgreich Karriere gemacht hat, und die endet eben in einem einflussreichen Job in der Hauptstadt.

Das Ganze hat natürlich auch politisch-strategische Gründe. Das britische Mehrheitswahlrecht sorgte dafür, dass die Tories - und Thatcher war ja Parteiführerin, Parteichefin der Konservativen, also der Tory-Partei - nicht viele Sitze zu verlieren hatten in Nordengland, in großen Teilen Schottlands und in Wales. Das heißt, wenn sie eine Politik machte, von der der Süden und die Mitte Englands profitierte, dann profitierte sie davon auch bei den Wahlen durch Abgeordnete dieser Gegenden, die eben in großer Zahl dann den Konservativen zugute kamen. Während die negativen Auswirkungen ihrer Politik auf die Werftindustrie beispielsweise, auf die Bergbauindustrie in Schottland und in Nordengland die Tories nicht so stark getroffen haben.

Man kann sagen natürlich langfristig verheerend, dass die Konservativen beispielsweise in Schottland in ihrer Amtszeit von der Landkarte verschwunden sind und bis heute sich davon nicht erholt haben. Aber für sie als politische Strategie, Wahlen zu gewinnen, war das relativ erfolgreich.

Kassel: Das klingt jetzt aber gerade, diese Strategie, das Ausnutzen des britischen Wahlsystems in diesem Punkt, nach einer kalten Machtpolitikerin. Über die Kälte reden wir vielleicht ohnehin gleich noch, aber ging es ihr denn nur um die Macht oder hatte sie nicht doch die Vision dieses neuen starken Großbritanniens? Denn in den 70er-Jahren, als sie an die Macht kam, war natürlich Großbritannien in einer ganz, ganz großen Krise.

Geppert: Ich würde sagen, das Außergewöhnliche bei Thatcher - und das macht sie zur wichtigen historischen Figur im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in der britischen Geschichte - ist, dass sie beides vereint hat, dass sie sozusagen eine gewiefte Taktikerin, eine auch geschickte Strategin gewesen ist, die dieses kalte Machtkalkül beherrscht hat, und trotzdem auf der anderen Seite sozusagen die große strategische Vision einer Erneuerung, eines erstarkten Großbritanniens hatte, das eben auf eine Erneuerung des Kapitalismus in Großbritannien setzte.

Kassel: Die soziale Kälte, das wird ihr ja bis heute natürlich vorgeworfen, einer der Hauptvorwürfe. Wie kalt ist sie denn gewesen? Es gibt auch Geschichten darüber, gerade zu diesem Jubiläum, 30 Jahre Thatcher, schreibt eine jüngere Tory-Abgeordnete heute im "Daily Telegraph", einer konservativen, aber seriösen Zeitung in England, so eine Geschichte, als Margaret Thatcher persönlich dafür sorgte im kalten Winter 87, dass keine Obdachlosen auf Londons Straßen erfrieren. Ist das vielleicht von der Persönlichkeit her gar nicht ganz wahr das Image der Kalten Lady?

Geppert: Also ich persönlich habe sie nie getroffen, deswegen kann ich sozusagen aus persönlichen Erfahrungen da nicht berichten. Was ich gelesen habe und gehört habe von Leuten, die eng mit ihr zu tun gehabt haben, dass sie sozusagen als Chefin unglaublich fürsorglich gewesen ist, für ihre engste Umgebung, dass sie sich gekümmert hat, dass sie wusste, wenn die Kinder krank waren, wenn der Mann oder die Ehefrau der Mitarbeiter Geburtstag hatte, dass sie daran dachte.

Die Geschichte mit den Obdachlosen würde ich eher für ein Stück sozusagen gekonnter Propaganda halten, denn das ist schon recht deutlich gewesen, dass sie gesagt hat, meine Politik, darauf, worauf ich setze, ist, dass die Leute selbst verantwortlich sind und selbst verantwortlich handeln, und daher kommt sozusagen eine Energie, eine Dynamik in eine Nation, darauf sind wir angewiesen. Und das war auch ein Grund, warum sie sozusagen den Unternehmer, das freie Unternehmertum immer allen Briten sozusagen zum Vorbild hingehalten hat.

Kassel: Vor 30 Jahren wurde Margaret Thatcher zur Premierministerin in Großbritannien, blieb das dann elf Jahre lang bis 1990. Wir reden darüber im Deutschlandradio Kultur mit dem Historiker Dominik Geppert. Herr Geppert, Margaret Thatcher hat immer Wert darauf gelegt, selber keine Feministin zu sein und sich nicht als Paradefrau, die da irgendetwas tut, zu sehen. Aber so wie man sich selber darstellt, das ist nicht immer identisch mit der tatsächlichen Wirkung. Was hat es denn für Großbritannien, für die britische Politik bedeutet, dass zunächst 1975 Margaret Thatcher zur ersten Frau wurde, die die Tory-Partei, die konservative Partei leiten durfte und später zur ersten Premierministerin. Hat das irgendeine feministische Wirkung trotz allem gehabt?

Geppert: Also Thatcher hat immer gesagt: Was hat der Feminismus jemals für mich getan? Mit der implizierten Antwort: Nichts natürlich. Das ist nicht ganz richtig. Sie hat zumindest bis zu einem gewissen Grad in ihrer Karriere sehr davon profitiert, dass sie eine Frau war. Sie wurde also schneller befördert im Kabinett und in der Regierung, als es wahrscheinlich einem vergleichbaren Mann ergangen wäre, einfach weil es wenige Frauen gab, wenige Frauen im Parlament gab, die talentiert waren, die hart gearbeitet haben, die klug waren. Das war die Ausnahme, einfach weil es nicht sehr viele Frauen im Parlament oder für solche Jobs gegeben hat in den 50er- und 60er-Jahren.

Das heißt, da hat sie bis zu einem gewissen Grade davon profitiert. Und dann kam eigentlich die Glasdecke, also der Punkt, wo man davon ausgegangen ist, höher geht es nicht. Bildungsministerin, das war sie im Kabinett von Edward Heath Anfang der 70er-Jahre. Sie selber hat sozusagen mal in einem kühnen Moment gesagt, sie würde gerne Schatzkanzlerin - also bei uns sozusagen eine Finanzministerin -, sehr mächtige, werden, das wäre sozusagen das Maximum ihres Ehrgeizes.

Und in der Tat, was dann Thatchers Karriere möglicherweise für andere Frauen in Großbritannien bedeutet hat, ist, dass sie durch diese Glasdecke durchgebrochen ist. Mit Glück, mit einem Blick für den richtigen Augenblick, dann auch wieder mit kühlem, strategischem Kalkül im richtigen Moment, ein Risiko einzugehen und zu kandidieren als Parteichefin. Und es hat eigentlich keiner geglaubt, dass sie diese Wahl gewinnen würde gegen den Amtsinhaber Edward Heath. Sie tat das und gewann dann auch die folgenden Parlamentswahlen und wurde Premierministerin. Das heißt, diese Glasdecke sozusagen, durch die ist Thatcher als erste britische Politikerin durchgebrochen und hat gezeigt, eine Frau kann über elf Jahre lang erfolgreich Premierministerin sein.

Kassel: Ich habe Sie am Anfang unseres Gespräches gefragt, was Großbritannien Margaret Thatcher bis heute zu verdanken hat. Ich frage Sie jetzt am Schluss unseres Gespräches, welchen Schaden hat die Thatcher Großbritannien zugefügt, der Gesellschaft oder anderen Bereichen des Landes, unter dem Großbritannien bis heute zu leiden hat?

Geppert: Es ist sicherlich die starke Polarisierung, auch der Beginn sozusagen des Auseinanderdriftens einer Schere zwischen arm und reich, die Schere, die in Großbritannien schneller auseinandergegangen ist als beispielsweise in der Bundesrepublik, weswegen ich auch sozusagen Vergleiche oder Parallelen dann immer nur für begrenzt gültig halte, wenn man sagt sozusagen, der angelsächsische Neoliberalismus sei eben eins zu eins dann irgendwann in der Bundesrepublik übertragen worden. Diese Art von Thatcherismus haben wir nie gehabt.

Und Großbritannien leidet zum Teil schon darunter. Es leidet auch darunter, dass natürlich Thatcher in der großen Depression Anfang der 80er-Jahre sich einfach geweigert hat, staatlich zu intervenieren mit Subventionen. Das heißt, eine Reihe, ganze Reihe von Unternehmen sind in der Zeit vor die Wand gefahren, die möglicherweise von einem sozusagen mitfühlenderen Premierminister hätten gerettet werden können. Für wie lange und strategisch wie sinnvoll das gewesen wäre, ist dann dahingestellt, aber möglicherweise wären eben doch auch einige darunter gewesen, die auf lange Sicht dann profitabel hätten arbeiten können.

Thatcher hat für sich entschieden, dass diese negativen Seiten sozusagen in Kauf zu nehmen sind, weil insgesamt für die Phase, die sie in den Blick genommen hat, also ihre Amtszeit der 80er-Jahre, das Positive, was sie mit ihrer sozusagen kapitalistisch, marktwirtschaftlich orientierten Politik umsetzen wollte, für sie deutlich überwog.
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