Gewerkschaften, Wirtschaft und Politik

Gesamtgesellschaftlich denken und handeln lernen

Demonstration der Gewerkschaften zum 1. Mai 2015 in Hamburg
Demonstration der Gewerkschaften zum 1. Mai 2015 in Hamburg. © picture alliance / dpa / Foto: Bodo Marks
Von Mathias Greffrath · 20.05.2015
Die präsentierte Harmonie der Gewerkschaften kürzlich zum Tag der Arbeit täuscht vielerorts. Immer öfter kämpfen die Gewerkschaften für Einzelinteressen. Aber nicht ein Gegeneinander, sondern vielmehr ein Miteinander aller müsste die Devise sein, meint Mathias Greffrath.
Die Streiks sind ein Symptom. Sie verweisen auf die großen Spaltungen, die unsere Gesellschaft immer stärker durchziehen: zwischen Arm und Reich, zwischen Vollzeitarbeitern und prekär Beschäftigten, blühender Exportindustrie und verarmenden öffentlichen Sektoren.
Unter dem Druck von Globalisierung und Krise haben die Gewerkschaften die Niedriglöhne und die Verwilderung der Beschäftigungsverhältnisse nicht verhindern können und auch nicht die Zerlegung von Unternehmen, bei der Bahn sind es inzwischen 300. Ihre Macht ist geschwächt, der Mitgliederverlust dramatisch.
Und nun, wie immer in schlechten Zeiten: rettet sich jeder selbst. Jagen die Großen den Kleinen die Mitglieder ab. Wächst andererseits die Bereitschaft von Berufsgruppen, ihre Interessen zu behaupten. Die klare Welt starker Einheitsgewerkschaften, die als Ordnungsfaktoren wirkten, sie ist schon lange dahin.
In Reaktion auf die neuen Unberechenbarkeiten hat die Regierung das sogenannte Tarifeinheitsgesetz vorbereitet. Es soll, so heißt es schön in der Begründung, die "Entsolidarisierung" der Belegschaften verhindern, tatsächlich würde es die Macht der Gewerkschaften in den exportstarken Hochleistungsbranchen weiter stärken.
Das aber würde die Spaltung vertiefen: zwischen den Lohnabhängigen, die, wie es oft heißt, unseren Wohlstand produzieren und denen, deren Arbeit aller Produktion vorgelagert ist, den Erziehern, den Lieferanten, dem öffentlichen Dienst, den Pflegern.
Was verloren geht, ist die Erkenntnis, dass die Arbeit einer Nation ein Netzwerk ist, "an dem alle beteiligt sind, und alle gleich berechtigt". So hat es der Großindustrielle Walter Rathenau einst formuliert, so war es lange das Credo von Sozialdemokratie, Gewerkschaften und aufgeklärten Unternehmern. Davon ist wenig übrig.
Es geht nicht nur um Geld
Die Streiks dieser Tage stören unseren Alltag. Aber werden hier nur brutal Einzelinteressen verteidigt? Wenn man genauer hinsieht, geht es nicht nur um Geld, Verbandsmacht und starke Egos: die Postboten kämpfen gegen die Ausgründung von Gesellschaften mit geringerer Bezahlung; die Piloten gegen Lufthansatöchter mit billigeren Piloten; die Erzieher für die Qualifizierung ihrer Arbeit; die Lokführer für eine Arbeitsordnung, die Zugbegleiter und Rangierlokführer nicht schlechter behandelt als sie.
Das ist das Paradox dieser Arbeitskämpfe in einer unordentlich gewordenen Wirtschaftsordnung: Ihr Blick ist auf ihre Sparten begrenzt, aber in ihren Sparten streben sie mehr Gleichheit und Einheitlichkeit an, lehnen sich gegen das System der Ausgrenzungen auf.
Gewerkschaftliche Solidarität ist mit der Zersplitterung der Tarifordnung komplexer geworden. Da hilft auch kein Einheitsgesetz. Eher schon, wenn Politiker, Unternehmer und Gewerkschafter volkswirtschaftlich und gesamtgesellschaftlich denken und handeln lernten, wenn sich die Erkenntnis durchsetzte, dass der Sinn aller Wertschöpfung ein besseres Leben für alle ist – und Dienstleistungen und soziale Arbeit dafür ebenso nötig sind wie die "richtige Arbeit" bei VW oder BASF.
Von selbst wird das nicht kommen. Vielleicht würde es helfen, wenn Erzieher die Streiktage nutzten, um mit Eltern über Kinder und die Finanzierung des Sozialstaats zu reden. Oder wenn Lokführer und Zugbegleiter mit den Pendlern über ihren Zeitstress diskutierten und über den der Pendler.
Eine solche "Ausweitung" der Streiks könnte der Beginn einer öffentlichen Debatte über die zunehmende Segmentierung unserer Gesellschaft sein – was eigentlich ein Ziel gewerkschaftlicher Arbeit sein müsste.
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