Gewerkschaft, nein danke!

Von Luise Sammann · 29.04.2010
Der 1. Mai ist auch in der Türkei – nach 28 Jahren Pause – seit dem letzten Jahr wieder ein offizieller Feiertag. Doch zu feiern gibt es für die türkischen Angestellten und Arbeiter wenig. Viele Türken arbeiten 60 Stunden in der Woche, samstags haben nur Beamte frei. Zudem sind Gehälter und Bedingungen auch für gut ausgebildete Akademiker schlecht. Doch Widerstand regt sich kaum.
Betriebsräte und Kündigungsschutz – Fehlanzeige. Eigentlich gute Startbedingungen für Gewerkschaften, die sich für Arbeitnehmer-rechte einsetzen, könnte man meinen, doch in der Türkei sind sie zersplittert und traditionell machtlos. Das Gewerkschaftsrecht ist noch so gültig, wie es die Militärregierung 1980 eingeführt hat. Allerdings liegen jetzt dem türkischen Parlament und den Ministerien neue Gesetzentwürfe für Gewerkschaftsgründung, Streikrecht und Tarifverhandlungen vor. Im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen müssen auch die Gewerkschaftsgesetze der Türkei den europäischen Standards angeglichen werden. Doch eine aktiv demokratische Gesellschaft lässt sich wohl kaum beschließen.

Es riecht nach Fisch. In der Bordsteinrinne der engen Gasse vermischen sich Blut und Wasser zu einem schmierigen Rinnsal, ab und zu spritzt jemand mit einem Gartenschlauch den Weg für die Kunden frei. Rechts und links, fein säuberlich aufgereiht, liegen prächtig glitzernde Fische in allen Formen und Größen auf übereinandergestapelten Kisten. Auf dem Fischmarkt von Kadiköy, einem Stadtteil im asiatischen Teil von Istanbul, herrschen Gedränge und Geschrei. So, wie eigentlich immer. Sieben Tage die Woche von morgens bis abends gibt es hier frischen Fisch. Fischverkäufer Mehmet steht in gelben Gummistiefeln und verschmierter Schürze hinter einem der Stände, zerlegt mit flinken Fingern einen Schwarzmeerlachs für eine Kundin.

"Wir verkaufen hier Fisch und alle Arten von Meeresprodukten. Schon mein Vater verkaufte Fisch, mein Großvater genauso und ich tue es auch. Ich mache diesen Job, seit ich acht Jahre alt bin, inzwischen bin ich zweiundsechzig."

Seit 54 Jahren dreht sich Mehmets Leben um frischen Fisch. Er reicht der Kundin ihre Plastiktüte über den Stand hinweg, den Fisch darin hat er vor ihren Augen gewaschen, ausgenommen, filettiert – gratis. Mehmet selbst kann sich nur an besonderen Tagen Fisch leisten. Aber zum Kochen hat er eigentlich sowieso keine Zeit:

"Wir arbeiten 14 oder 15 Stunden am Tag, das hängt von der Situation ab. Wir öffnen morgens um sieben und schließen frühestens um halb neun abends, sieben Tage die Woche. Einige Schlachtergeschäfte zum Beispiel haben sonntags geschlossen, die haben einen Ruhetag. Aber wir haben keinen. Auch an allen Feiertagen – unsere Stände hier sind immer offen."

14 oder 15 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche! In Deutschland würden in solchen Fällen die Gewerkschaften einspringen. In der Türkei aber sind sie schwach und zersplittert – spielen im politischen Alltag kaum eine Rolle. Die türkischen Gewerkschafter kämpfen mit lähmenden Gesetzen und mit sich selbst. Und von seiner Situation, sagt Mehmet abwinkend, haben die sowieso keine Ahnung.

Gewerkschafter, das sind für die meisten Türken "die da oben". Die, die genau wie Politiker und Manager große Autos fahren, in schicken Büros sitzen und in Häusern mit Bosporusblick leben.

Tayfun Görgun passt nicht in dieses Klischee, will nicht hineinpassen. Der Generalsekretär eines der größten Gewerkschaftsverbände der Türkei, der "Konföderation der revolutionären Arbeitergewerkschaften", sitzt in einem glanzlosen Büro im 5.Stock eines Istanbuler Hochhauses. Auf seinem Schreibtisch stapeln sich Ordner, Bücher und Zettel. Görgün trägt Schnauzbart und ein abgewetztes beiges Jackett, raucht billige türkische Zigaretten. "Wir sind schwach", dröhnt er über die Schreibtischplatte, "und wir werden immer schwächer".

"Im Jahr 1980, als die letzte Militärrevolution stattfand, lebten etwa 42 Millionen Menschen in der Türkei. Und die Zahl der aktiven Gewerkschaftsmitglieder betrug etwa zweieinhalb Millionen. Heute, 30 Jahre später, leben bald doppelt so viele Menschen hier. Die Industrie ist um das vier- oder fünffache größer als damals und die Arbeitsmigration in die Städte hält an. Folglich müsste die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder heute über fünf Millionen sein. Aber stattdessen ist sie gesunken, sie liegt bei etwa 650.000. Das ist eine schreckliche Zahl."

Tayfun Görgün streicht sich nachdenklich über den Schnauzer. Der Generalsekretär ist eigentlich ein mächtiger Mann. Doch er fühlt sich längst nicht mehr mächtig. Die Gewerkschaften der Türkei sind zahnlose Tiger, zersplittert in Dachverbände und Untergruppen. Die wachsende Arbeitslosigkeit, die vielen Schwarzarbeiter und die traditionell wenig entwickelte Industrie der Türkei erschweren ihre Arbeit zusätzlich. Anstatt für ihre Mitglieder kämpfen Görgün und seine Kollegen um ihre eigene Existenz – und gegen die türkischen Gesetze.

"Um die Pflichten einer Gewerkschaft zu erfüllen, gibt es viele Bedingungen in der Türkei. Solche Bedingungen existieren in keinem anderen Land dieser Welt. Die Arbeiter werden ja eigentlich Gewerkschaftsmitglieder, um Tarifverhandlungen zu führen, um ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern und ihre Rechte zu sichern. Aber wenn die Gewerkschaften gar keine Funktion haben und nicht für die Rechte der Arbeiter kämpfen können, dann werden diese auch keine Mitglieder. Und deswegen ist es unmöglich für uns, die Zehn-Prozent-Hürde zu nehmen."

Zehn Prozent einer Berufsgruppe müssen jedoch Mitglied sein, bevor eine Gewerkschaft überhaupt irgendetwas ausrichten kann: Sind also zum Beispiel nicht zehn Prozent der türkischen Bankarbeiter organisiert, gelten die Verhandlungen der Bankengewerkschaft nicht als offiziell.

Görgün schnaubt, endlich kann er seine angestaute Wut loswerden. Denn die Liste der Einschränkungen ist längst noch nicht zu Ende: Sollen die Angestellten eines Unternehmens vertreten werden, müssen mindestens 50 Prozent plus ein Angestellter sich vorher der Gewerkschaft anschließen – und zwar in jeder Filiale dieses Unternehmens. Ein Arbeiter, der Gewerkschaftsmitglied werden möchte, muss seine Mitgliedschaft dabei notariell beglaubigen lassen. Das kostet Geld und Zeit – beides haben die wenigsten der türkischen Angestellten.

Görgün : "Im Prinzip vernichten oder verbieten diese ganzen Mechanismen die Gewerkschaften. Wenn all diese Bedingungen erfüllt sind, während der Tarifverhandlungen aber keine Einigung mit den Arbeitgebern entsteht, dann gibt es wieder neue Bedingungen für einen Streik. Und Streiks für allgemeine Rechte der Arbeiter sind im Gegensatz zu Europa ganz verboten. Wenn du trotzdem streikst, ist das illegal und sowohl die Gewerkschaftsführer als auch die Mitglieder bekommen Geld- und Freiheitsstrafen."

Den Verdienstausfall des Unternehmens müssen in solchen Fällen die Gewerkschaft und die Arbeiter zahlen. Doch nicht nur das: Banken, Gesundheitssektor, Energie - ein Drittel der türkischen Berufsgruppen sind ohnehin von vornherein vom Streikrecht ausgeschlossen. Die anderen müssen ihre Streiks beim Gouverneur der Stadt beantragen – die Regierung kann beschließen, den Streik zu verschieben. "Damit", faucht Görgün mit erhobenem Zeigefinger, "verliert die Idee eines Streiks ihren Sinn".

"Wir sind zum Beispiel verantwortlich für den Reifensektor. In den letzten Jahren wurden unsere Streiks drei Mal verschoben. Der Grund war jedes Mal die nationale Sicherheit. Aber ich glaube kaum, dass Reifen so viel mit der nationalen Sicherheit zu tun haben ...
Wir haben in der Türkei ein Gewerkschaftsmodell, das komplett von der Regierung und den Unternehmern abhängig ist. Es ist ein System, das die Gewerkschaften handlungsunfähig macht und es dient unter anderem dazu, die Produktionskosten niedrig zu halten, um türkische Unternehmen international wettbewerbsfähig zu machen."

Und es ist ein System, welches die Türken davon abhält, sich überhaupt für ihre Gewerkschaften zu interessieren. Seit 1980 steigt zwar die Arbeitslosenquote in der Türkei, doch die Mitgliedszahlen der Gewerkschaften sinken. Die Menschen wollen sich nicht organisieren.

Mit diesem Problem kämpft auch die 33-jährige Eylem. Sie steht an einem Busbahnhof im Stadtzentrum, schreit gegen alte Dieselmotoren und überfüllte Linienbusse an. Gleich hinter ihr rast Istanbuls nie abreißender Berufsverkehr auf der Stadtautobahn vorbei. Eylem arbeitete bis vor zwei Jahren im Callcenter der Citibank. Eine Gewerkschaft gab es für sie und ihre Kollegen nicht, wenn sie länger als drei Minuten auf der Toilette war, musste sie sich erklären ...

"Sie begannen, auch unsere Mittagspause zu verkürzen. Eigentlich sollten wir eine Stunde Pause haben, dann wurde es eine halbe und samstags mussten wir länger bleiben. Um auf die Toilette zu gehen, brauchten wir eine Erlaubnis vom Teamleader. Und sie begannen, die Minuten zu zählen, die wir auf der Toilette waren. Wenn wir zurückkamen, fragten sie zum Beispiel: 'Was hast du sechs Minuten lang auf der Toilette gemacht?' Oder sie ließen uns für mehrere Stunden gar nicht aufstehen. Unter diesen Bedingungen wurden wir krank. Wir bekamen zum Beispiel Blasenentzündungen, weil wir nicht auf die Toilette durften."

Eylems ehemalige Arbeitsstelle ist nur ein paar Gehminuten entfernt. Sechs Mal in der Woche stieg sie hier früher aus dem Bus, fuhr nach Feierabend müde und genervt wieder nachhause. Damals kam Eylem frisch von der Universität, hatte in Istanbul Marketing studiert und große Ziele. Doch wie so viele ihrer Kommilitonen fand sie zunächst keinen Job – die Akademikerarbeitslosenquote in der Türkei liegt bei über zwölf Prozent, und das ist nur die offizielle Zahl! Das Callcenter schien nach langer Suche Eylems Rettung, allerdings nur auf den ersten Blick.

"Trotz der schlechten Bedingungen haben sie nur 300 bis 350 Euro bezahlt – heute sind es maximal 400. Die Mitarbeiter müssen einen Uniabschluss haben, gut reden können, Englisch sprechen usw. Sie wollen gute Leute und stellen dich erst nach dem dritten Vorstellungsgespräch und einer Art Theaterstück ein. Sie wissen einfach, dass die Arbeitslosigkeit unter jungen Leuten – und besonders auch unter Akademikern – so hoch ist. Sie denken sich 'Wenn der nicht so arbeiten will, dann schmeißen wir ihn raus und finden einen anderen'."

Doch Eylem hielt es nicht mehr aus und kündigte von selbst. Grinsend zeigt sie jetzt mit dem Daumen über die Schulter, in die Richtung ihres alten Büros. "Ich kann da jetzt nicht mehr rein", sagt sie und klingt dabei fast ein bisschen stolz, "die haben jetzt Angst vor mir."

Gemeinsam mit ehemaligen Kollegen plant sie eine neue Gewerkschaft. Doch wieder einmal ist Eylem – deren Name Revolution bedeutet – kurz davor aufzugeben. Ihr Hauptproblem sind nicht die türkischen Gesetze, sondern die Kollegen: Davon, die für die Gewerkschaftsgründung nötigen zehn Prozent aller Callcentermitarbeiter zusammenzutrommeln, ist sie weit entfernt.

"Die Leute sagen sich ständig: 'Ich werde jetzt noch eine Zeit lang leiden und dann wird alles besser'. Alle Angestellten sind absolut unglücklich mit ihren Arbeitsbedingungen. Niemand kann damit zufrieden sein. Aber trotzdem tun sie sich nicht zusammen. Weil sie Angst haben."

"Typisch", meint Wirtschaftsprofessor Ahmet Selamoglu, der sich seit Jahren mit der Arbeiterbewegung der Türkei beschäftigt. Weit weg vom lauten Busbahnhof genießt er seinen Feierabend in einem schicken Café über den Dächern von Istanbul, vor sich ein Kännchen grünen Tee. Das, was Eylem beschreibt, nennt er die fehlende soziale Opposition der Türkei. Die fehlende Bereitschaft zum demokratischen Engagement einer Gesellschaft, die immer wieder gezeigt bekommen hat, dass es am besten ist, sich einfach aus allem rauszuhalten.

"Das Problem ist ein soziologisches, und es hat viel mit Demokratisierung zu tun. Man kann es nicht nur aus der Perspektive des Arbeitslebens heraus erklären. Es ist das Problem der sozialen Opposition. Und dieses Problem ist eng verknüpft mit den Umbrüchen in der politischen Landschaft der Türkei, mit den Militärrevolutionen."

1960, 1971, 1980: Drei Mal putschten sich die türkischen Generäle seit der Republikgründung 1923 an die Macht – immer mit der Begründung, die Demokratie wieder herstellen zu müssen. Mal kam die Bedrohung angeblich von links, mal von den Religiösen. Doch während das türkische Militär sich selbst als obersten Wächter der Demokratie im Land sieht, regen sich seit einigen Jahren Stimmen in der Türkei, die das Gegenteil behaupten. Sie sagen: Das Militär und seine Putsche halten die Demokratisierung der Türkei auf, werfen sie jedes Mal um Jahre zurück.

So denkt auch Wirtschaftsprofessor Selamoglu: "Gucken Sie sich um", sagt er und zeigt aus dem Fenster auf die Stadt unter ihm, "hier konnte sich nie eine wirkliche 'Vereinigungskultur' entwickeln". Denn nach jedem Putsch herrschte Ausnahmezustand in der Türkei, demokratische Entwicklungen und Initiativen mussten wieder bei Null anfangen.

"Es ist ganz klar, dass die Revolutionen einen großen Effekt hatten. Um eine vereinigte, aktive Gesellschaft zu sein, braucht man demokratische Grundlagen und einen demokratischen Hintergrund. Aber wenn man nicht in einer demokratischen Kultur aufgewachsen ist, kann man sein Verhalten auch nicht danach ausrichten. Alle, die in den 70ern geboren sind, sind in dieser Zeit des Ausnahmezustands groß geworden. Wir sind also mit dieser sozialen Basis des Raushaltens aufgewachsen."

Selamoglu schüttelt den Kopf, kippt dann seinen kalten Tee in einem Zug herunter, als wolle er sein Unverständnis wegspülen.

"Sich zu vereinigen ist wirklich etwas, wovon die Türken sich fernhalten wollen. Die Menschen haben Angst davor, Mitglied einer Gruppe zu sein. Sie fragen sich: 'Könnte das vielleicht gefährlich sein?' Im besten Fall werden sie ein passives Mitglied, ein Zuschauer. Bei Vereinigungen denken sie sofort an Terror und andere schlechte Dinge ..."

Bestes Beispiel für die fehlende Opposition: der Fischmarkt von Kadiköy in Istanbul, auf dem Verkäufer Mehmet seit 54 Jahren sieben Tage in der Woche Lachs, Anchovis und Miesmuscheln verkauft – ohne sich zu beschweren.

"Wir werden hier tageweise bezahlt. Wenn das Geschäft gut ist, ist auch die Bezahlung okay. Es hängt vom Verkauf ab. Aber wir kennen ja die Situation in der Türkei. Der Lebensstandard ist, wie er ist, und die Löhne sind nun mal, wie sie sind..."

Mehmet zuckt mit den Schultern. So ist es eben ... Ein Kollege, der neben ihm steht, nickt zustimmend.

"Nein, eine Gewerkschaft haben wir nicht. Ich glaube, über so was hat hier bis jetzt noch überhaupt niemand nachgedacht ..."