Gewalt ohne Ausweg

11.03.2008
Ein Junge verliert mit der Verhaftung des Vaters seine Kindheit, statt auf unschuldige Spiele stößt er nur noch auf Gewalt, Verrat und Erpressung. György Dragomán hat in seinem Roman "Der weiße König" das dramatische Schicksal einer Familie während der Ceausescu-Dikatatur in den Mittelpunkt gestellt. Ein Buch, das mit Szenen von mörderischer Intensität fesselt.
György Dragománs "Der weiße König" ist ein kunstvoll kalkulierter und atemlos machender Schocker über die Ceausescu-Diktatur. Die 18 miteinander verwobenen Geschichten erzählen von sechs Monaten Mitte der achtziger Jahre in einer rumänischen Kleinstadt.

Ein halbes Jahr zuvor hat Dzsátás Vater eine systemkritische Petition unterschrieben und wurde dafür zur Zwangsarbeit am Donaukanal deportiert, Dzsátás Mutter verlor ihre Anstellung als Lehrerin, sein Großvater musste vom Amt des Parteisekretärs zurücktreten und brach den Kontakt mit der Schwiegertochter ab, weil die "jüdische Schlampe" schuld sei an der Unterschrift ihres Mannes. Die Sippenhaft der Securitate hat die Familie zerstört.

Diese Einzelheiten dringen erst nach und nach zu dem Ich-Erzähler Dzsátá durch. Doch der Verlust des Vaters trifft ihn wie ein mythisches Verhängnis und entstellt all seine Spiele, Streiche und Begegnungen. Der Streit mit Nachbarjungen um einen Fußball wird mit geköpften Tauben, in Schultern gerammten Taschenmessern und dem Niederbrennen eines ganzen Weizenfelds ausgetragen.

Die bei einem Spiel unterlegene Gruppe schlägt mit Ziegelsteinen in Plastiktüten auf den Sieger ein. Bei der Plünderung eines Ladens wird einer Verkäuferin die Schlinge um den Hals gelegt, und als die Nachricht eintrifft, Polizei und Staatsicherheit rückten an, winken die Plünderer ab: Die wollen sich doch nur selbst bereichern. Es sind phantasmatische Szenen voller Brutalität, Verrat und Erpressung. Mit dem Vater ist nicht nur Dzsátá das Gesetz abhanden gekommen: Das ganze Land liegt in gewalttätiger Agonie.

Viele verhöhnen Dzsátá, sein Vater werde die Zwangsarbeit nicht überleben. Die Mutter bittet einen einflussreichen Bekannten um Hilfe, der sich lüstern die Lippen leckt und Dzsátá umgehend in ein anderes Zimmer bringt. Furchtsam geht der Junge an ausgestopften Tieren entlang und erschrickt vor einem schwarzen Schachspieler, bis er erkennt, dass es eine Puppe ist.

Dzsátá raubt dem Schachautomaten den weißen König - und während die Puppe unheimlich, mit aus der Nase quellendem Rauch zu lachen beginnt, hört er auch die Mutter lachen. Ihre Nase blutet, aber sie hat dem Botschafter Stand gehalten wie er dem Automaten. Der Diebstahl der Schachfigur, die dem Buch den Titel gibt, ist eine Selbstermächtigung. Dzsátá lernt die Regeln der Diktatur.

Görgy Dragomán erzählt in einem suggestiven, vom Übersetzer László Kornitzer wunderbar getroffenen Ton von der Initiation in den Terror. In einem fort gebiert Putzig-Kindliches Ungeheuer. Lange Sätze verschmelzen Gedanken und Dialoge, Verbotsangst und Überschreitungslust. Eine raffinierte Folge von Verzögerungen und Entladungen lässt das Buch filmisch wirken, und tatsächlich arbeitet Dragomán nicht nur als Webdesigner und als Übersetzer von Samuel Beckett, James Joyce und Ian McEwan, sondern auch als Filmkritiker. Das Konstruktionsprinzip wird allerdings gegen Ende hin berechenbar.

Der 1973 in Siebenbürgen als Angehöriger der ungarischen Minderheit geborene Dragomán, der 1988 mit seinen Eltern nach Budapest auswanderte, hat nur ein Thema: die unausweichliche Gegenwart voller Niedertracht, Gier und Lüsternheit, in der eine bei aller Absurdität sehr naturalistische Gewalt regiert. Es gibt keine schützende Überlieferung oder Religion mehr, auch kein bergendes Milieu. Jeder Zusammenhang ist zerrissen, alles wiederholt sich: Daher setzen die Erzählungen immer wieder neu an.

Am Ende vermag Dragomán die mörderische Intensität sogar noch zu steigern. Die Totenfeier für den Großvater wird erst zur absurden Posse, dann zur Gewaltorgie. Schergen führen Dzsátás Vater in Ketten an den Sarg, und als sie ihn wegzerren, bevor er Frau und Sohn begrüßen kann, hastet Dzsátá hinterher. Mit der Brechstange der Totengräber bahnt er sich den Weg durch die Menge, doch vor der Leichenhalle erhascht er nur noch einen Blick auf das "knochenweiße Gesicht" seines Vaters an der Hecktür des Gefangenentransporters. Der weiße König wird davongefahren.

Rezensiert von Jörg Plath

György Dragomán: Der weiße König
Übersetzt von Laszlo Kornitzer
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008
296 Seiten, 19,80 Euro