Gesundheitsexperiment in Gaggenau

30.000 Menschen sollen länger leben

Bach Murg und Kirche St. Laurentius in Bad Rotenfels in Gaggenau.
Idyliisch: Bach Murg und Kirche St. Laurentius in Bad Rotenfels in Gaggenau. © imago/Volker Preußer
Von Uschi Götz · 26.10.2016
Ein einzigartiger Großversuch findet in dem baden-württembergischen Gaggenau statt: Acht Jahre wollen Wissenschaftler an den Einwohnern testen, wie ihre Lebenserwartung erhöht werden kann. Die Stadt im Schwarzwald eignet sich hiefür aus mehreren Gründen.
Die Sonne scheint, ein freundlicher Herbsttag. Eine 17-Jährige Gymnasiastin sitzt auf einer Bank, sie ist in Gaggenau geboren und aufgewachsen. Die junge Frau wird mit rund 30.000 Gaggenauern in Kürze an einem Experiment teilnehmen. Was auf sie zukommt, weiß sie noch nicht.
Der bislang einzigartige Großversuch in einer deutschen Stadt wurde mit dem Titel "Ein gutes Jahr mehr" angekündigt.
"Also ich glaub eh, dass mittlerweile die Menschen alle viel zu lang leben. Aber ich kann mir vorstellen, dass ein Jahr, wenn man sich das so vorstellt, auch viel mit Lebensqualität zu tun haben könnte. Einfach dass man dann besser lebt, vielleicht nicht ein Jahr länger, aber dafür ein Jahr vom Leben besser."
Gaggenau wird zum Schauplatz eines achtjährigen wissenschaftlichen Feldversuches.
Gaggenau wird zum Schauplatz eines achtjährigen wissenschaftlichen Feldversuches.© dpa / picture alliance / Uli Deck
Genau um das geht es bei dem auf acht Jahre angelegten Großversuch. Die Menschen von Gaggenau sollen besser leben, durch Änderungen ihres Lebensstils gar länger leben. Die Schülerin ist überzeugt, dass der Wohnort wesentlich mit der Lebensqualität zu tun hat. Für sie steht fest:
"Ich hätte gerne Kinder und Familie und ich finde für Kinder und Familie ist Gaggenau schon eine schöne Stadt, man ist an große Städte angebunden, Rastatt so die nächste, Karlsruhe. Es ist hier ruhig, man hat hier den Wald direkt, ich lebe direkt am Wald, und ich finde das ist eine gute Mischung."

"Gaggenau ist ein besonders geeigneter Ort"

In Kürze werden Wissenschaftler aus Heidelberg, Tübingen und Mannheim ein Zimmer im Gaggenauer Rathaus beziehen. Am Anfang steht eine Bestandsaufnahme, zunächst werden alle öffentlichen Einrichtungen analysiert. Christof Florus, parteiloser Oberbürgermeister der Stadt, ist dabei eng eingebunden:
"Und aus diesen Analysen versuchen wir dann auch Empfehlungen für die Zukunft in Richtung: bessere Betreuung, bessere Ernährung, mehr Bewegung in den Schulen."
Natürlich wissen auch die Gaggenauer, wer sich bewegt, ausreichend schläft, gut isst, lebt gesünder. Trotz dieses Wissens läuft einiges schief, nicht nur in der Stadt im Nordschwarzwald. In Gaggenau wird deshalb für ganz Deutschland getestet wie es gelingen kann, den Lebensstil einer großen Gruppe, in diesem Fall einer ganzen Stadt zu verändern.
"Gaggenau ist aus verschiedenen Gründen ein besonders geeigneter Ort für diese komplexe Fragen. Es gibt sozusagen Hardware schon, auf die wir aufbauen können. Und das Zweite ist: Wir haben in Gaggenau eine interessante Vielfalt von einerseits Gemeinden, die sehr ländlich sind. Also fast, wie sie es sonst tief im Schwarzwald finden. Und andererseits doch noch eine fast städtischen Infrastruktur mit den typischen Themen auch, Migrationshintergrund, nicht so bildungsstark, so dass wir dennoch eine gute Vielfalt haben in Gaggenau."

Kein fertiges Konzept für Gaggenau

Prof Joachim Fischer, Leiter des Instituts für Public Health an der medizinischen Fakultät Mannheim, leitet die Studie. Fischer ist zurzeit oft in Richtung Gaggenau unterwegs, so auch heute. An dem Versuch sind drei baden-württembergische Universitäten beteiligt.
Interdisziplinär nähert man sich konkreten Fragen, wie etwa: Wie können sich Menschen mehr bewegen? Die Zahl vor allem übergewichtiger Kinder nimmt zu, ebenso die Zahl der Menschen mit ernährungsbedingtem Diabetes. Doch gerade aus der Diabetesforschung weiß man auch: Verbote und Zwang bringen nichts. In Gaggenau wird also getestet, wie man eine ganze Stadt auf die Beine bringt, ohne Druck und zwar von klein auf. Die Aufgabenstellung formuliert Fischer so:
"Wie schaffen wir es, dass bestimmte Dinge, die ja nicht das Leben verschlechtern, zum Mainstream werden? Gegen den Druck, beispielsweise der Ernährungsindustrie, die natürlich zuckerhaltige Nahrungsmittel. Das ganze fettfreie Zeug ist billiger herzustellen. Es ist also zum Vorteil der Industrie, etwas ungesundere Nahrungsmittel als uns das Tolle zu verkaufen. Wie schaffen wir gegen diesen Druck von auch industriellen Ernährungsinteressen beispielsweise, etwas so Mainstream zu machen, dass man in Gaggenau halt anders lebt."
Die Wissenschaftler haben kein fertiges Konzept für Gaggenau, vielmehr gibt es aus verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen Ansätze, welche Stellschrauben anders gestellt werden könnten.

Wie wirken sich Mehrgenerationenhäuser aus?

Schon jetzt sind einige Menschen in der Stadt sensibilisiert, das betrifft vor allem die älteren Einwohner. Eine 65-Jährige Frau, seit zwei Jahren Witwe, hat recht klare Vorstellung, wie sie sich besser fühlen würde:
"Also nicht allein sein, das ist die Hauptsache. Und wenn dann so Mehrgenerationshäuser da wären, oder Studenten und Rentner, das wäre optimal dann."
In den vergangenen Jahrzehnten ist die Lebenserwartung zwar stetig gestiegen. Doch viele ältere Menschen können die gewonnene Zeit kaum genießen. Eine immer größere Rolle im Alter spielen ernährungsbedingte Krankheiten, Depressionen und Suchtprobleme.
Leben ältere Menschen in Wohngemeinschaften besser? Wie wirken sich Mehrgenerationenhäuser auf die Gesundheit aus? Antworten auf diese und viele andere Fragen, wie vielleicht alle irgendwann ein gutes Jahr mehr bekommen, gibt es in den kommenden Jahren hoffentlich aus dem baden-württembergischen Gaggenau.
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