Gestrandet im Norden Afrikas

Von Alexander Göbel · 06.05.2013
Fast täglich versuchen Flüchtlinge von Nordafrika aus nach Europa zu gelangen. Oft bezahlen sie die Reise auf überfüllten Booten mit dem Leben. Manche versuchen, die Grenzzäune der spanischen Exklaven Ceuta und Melilla im Norden Marokkos zu überwinden – denn dort ist Europa ganz nah.
Mohamed weist den Weg durch den dichten Pinienwald in die Camps der Migranten aus Ghana, Mali und Burkina Faso. Alle hier sind Mitte 20, und sie haben alles hinter sich gelassen, um anderswo das Glück zu suchen, das sie zu Hause nicht finden konnten. Sie suchen Schutz unter grünen Plastikplanen, kochen an kleinen Feuerstellen, besitzen nur das, was sie am Körper tragen.

Der Wald vor den Toren der Grenzstadt Oujda ist zum Symbol geworden für die Tragödie von verzweifelten Menschen aus Afrika südlich der Sahara: Hier, im Wald, sind sie gestrandet auf ihrem Weg nach Europa. Gescheitert auf der Flucht über den Grenzzaun von Melilla, oder bei der Bootspassage übers Mittelmeer. Unter schlimmsten Bedingungen müssen sie in Nordmarokko ausharren – und warten. Auf eine Chance, die vielleicht nie kommen wird.

"Wenn du morgens aufwachst, hier im Wald, und du weißt, dass Europa so nah ist, dann denkst du an das gute Leben, das die Menschen dort haben. Ich träume davon. Jeden Tag. Von Nador und Gurugu aus kannst du sogar Melilla sehen und das Mittelmeer riechen. Und ich sage dir, das macht dich wahnsinnig. Du willst sofort gehen. Auch wenn es dein Leben kosten kann. Aber das ist vielleicht symptomatisch für Afrika: Du musst dein Leben riskieren, um etwas zu erreichen."

Sein Leben hat auch Abdoullah riskiert. Mehr als zwei Jahre war er unterwegs, tausende Kilometer, von Ghana bis nach Marokko. Mehr als umgerechnet 3.000 Euro hat sein Trip gekostet, gespart hat sein ganzes Dorf – für die Schlepper, die ihn durch die Wüste gebracht haben. Seine Eltern wissen nicht, dass er noch lebt. Aber Abdoullah ist sicher, dass sie für ihn beten. Profifußballer will er werden, am liebsten bei Real Madrid. Wenn er es geschafft hat, sagt er, dann will er zu Hause anrufen. Und Geld schicken. Damit seine Eltern stolz auf ihn sind:

"Ach, Europa – es ist wunderbar dort. Ich war schon mal auf Gran Canaria, mit dem Boot, das ist schon lange her, ich war beeindruckt von Las Palmas. Leider wurde ich verhaftet und zurückgeschickt … aber ich war drei Monate da und ich fand es toll in Europa."

Doch seit einem Jahr schon steckt Abdoullah in Oujda fest ‒ im Wartesaal nach Europa, wie so viele afrikanische Migranten und Flüchtlinge. Tagsüber lungern sie in der Stadt herum, betteln Passanten an. Ein paar Dirham für die nächste Mahlzeit, für Wasser, Seife, Kleidung, Medikamente, Milchpulver und Windeln für die Babys. Arbeiten dürfen die Migranten in Marokko offiziell nicht. Viele verdingen sich als Tagelöhner bei Bauern. Manche handeln mit Drogen, um irgendwie an Geld zu kommen, vielen Frauen bleibt nichts anderes übrig als Prostitution. Im Wald von Oujda vegetieren hunderte Menschen, die Afrika nicht will, Marokko nicht, und Europa erst recht nicht.
"Schau dir doch Afrika an – überall Kriege, überall Blutvergießen. Schau dir den Kongo an, Somalia, Mali: Die Menschen wollen doch nur Freiheit. Und Frieden. Menschenrechte. All das gibt es – aber nicht für uns, sondern nur für die Menschen in den reichen Ländern. Sogar Hunde haben in Europa einen Ausweis, stell Dir das mal vor – ein europäischer Hund ist mehr wert als ich! Wo ist die Gerechtigkeit? Dieses Gerede vom vereinten Afrika ... das ist doch alles ein böser Traum."
Ein Hügel über der Stadt Nador, an der Grenze zu Melilla: In der Ferne glitzert das Mittelmeer im Sonnenlicht. Auf den Felsen haben sich 15 junge Afrikaner ein notdürftiges Camp eingerichtet. Von hier aus überblicken sie das Tal und warnen die anderen Flüchtlinge im Wald, wenn die marokkanische Polizei anrückt. Barfuß und nur mit einem verschmierten grünen Umhang bekleidet steht Camp-Anführer Rigan auf einem Felsvorsprung, zwischen Müll, Decken und alten Matratzen. Vor neun Jahren ist er vor dem Krieg im Osten der Demokratischen Republik Kongo geflohen – nach Europa hat er es nie geschafft. Auf Rigans kahlrasiertem Kopf ist eine lange Narbe zu sehen – vom Gewehrkolben eines Polizeigewehrs.

"Besonders schlimm ist für uns, wie die marokkanischen Behörden uns behandeln. Wir sind aber keine Tiere, wir haben schwarze Hautfarbe, aber wir sind Menschen wie alle anderen auch. Natürlich machen diese Leute ihren Job, aber sie haben keinen Respekt vor uns. Sie verjagen uns, sie verhaften und schlagen uns, sie kommen nachts und verbrennen unsere Zelte, riskieren den Tod von unschuldigen Menschen; sie stehlen unser Geld, unsere letzten Wertsachen, sogar schwangere Frauen und Kinder schicken sie zurück an die Grenze in den Wald von Oujda."
Willkürliche Verhaftungen und Kontrollen seien an der Tagesordnung, erzählt Rigan. Einmal hätte die Polizei sogar scharf geschossen, um die Flüchtlinge einzuschüchtern. Für den Marokkaner Mohamed Talbi ist das Verhalten einiger seiner Landsleute kaum zu ertragen. Er arbeitet in Oujda für die lokale Hilfsorganisation ABCDS:

"Das Leid der Menschen geht mir sehr nahe, besonders das Leid der Familien (..). Und ich schäme mich für unseren so genannten Rechtsstaat Marokko, für unsere Behörden. Die Leute, die so mit den Migranten umgehen, haben selbst Familie und Kinder. Das ist einfach unmenschlich."

Angesichts immer schärferer Grenzkontrollen der EU hat sich Marokko verändert: von einem Transitland zu einem mehr oder weniger erzwungenen Aufenthaltsort für afrikanische Flüchtlinge. Gleichzeitig nehmen die gewaltsamen Übergriffe auf afrikanische Migranten zu, immer mehr Fälle von Menschenhandel und sexuellem Missbrauch werden dokumentiert. Die Regierung betont, Marokko habe die Genfer Flüchtlingskonvention unterschrieben, die Rechte der Zuwanderer seien durch die marokkanische Verfassung garantiert. Doch für Mohamed Talbi von der marokkanischen Hilfsorganisation ABCDS ist der brutale Umgang mit den Zuwanderern eine tragische, aber auch logische Folge der EU-Migrationspolitik. Europa habe seine Außengrenzen politisch gesehen nach Nordafrika ausgedehnt – und damit auch die Verantwortung für das so genannte "Flüchtlingsproblem".

"Marokko ist zu einem Gendarm der EU geworden. So wie damals Gaddafi in Libyen oder Ben Ali in Tunesien. Die EU heuchelt eine Migrationspolitik vor, dabei unterstützt sie repressive und häufig auch rassistische Maßnahmen in den Staaten des Südens, um Migranten abzuschrecken. Die Migranten, die einfach nur ein besseres Leben suchen und hier sozusagen steckenbleiben: sie werden hier misshandelt – und das nimmt die EU in Kauf. Genauso, wie sie Kauf nimmt, dass jedes Jahr tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken. Es gibt in Marokko eine aktive Zivilgesellschaft, die sich dem entgegenstellt. Aber der Weg zum Schutz der Migranten und Flüchtlinge ist noch weit. Sehr weit."
Krieg, Verfolgung, Armut, Korruption, Hunger – es gibt dramatische Ursachen dafür, dass Menschen ihre afrikanische Heimat verlassen. Doch vielen geht es auch um eine Ausbildung, einen guter Job, um ein schickes Handy: Es geht ihnen vor allem darum, jemand zu sein. Um den großen Wunsch, Geld nach Hause zu schicken, damit die Eltern stolz sind. Scheitern ist dramatischer als im Meer zu ertrinken.

Chantal steht an der Hafenmole von Marokkos Hauptstadt Rabat. Sie ist Mitte 30, vor fünf Jahren ist sie aus der Demokratischen Republik Kongo geflohen. In Kinshasa war es für sie zu gefährlich – sie war Anhängerin des früheren Präsidenten Mobutu. Dafür kann man im Kongo des heutigen Präsidenten Kabila noch immer auf offener Straße ermordet werden, so wie Chantals Cousin.

Im Kongo könne man einfach nicht leben, sagt Chantal. Es herrsche Krieg im Kongo, besonders im Osten, auch wenn den niemand mehr wahrnimmt. Die Lage sei katastrophal, viele Menschen hätten nicht das Geld, um sich eine einzelne Tablette Aspirin zu kaufen.

Über ein Jahr war Chantal unterwegs, vom Kongo über die Zentralafrikanische Republik, den Tschad, den Niger und Algerien – bis nach Marokko. In Nador, nahe der spanischen Exklave Melilla, übersteht sie eine Vergewaltigung. Und überlebt dann ihren ersten Fluchtversuch in einem Schlauchboot:

"Wir waren zu sechst, vier Jungs und ein Mädchen und ich. Unser Schlepper war ein Marokkaner. Aber das Boot, das er uns gegeben hat, war nicht stabil genug, es hatte Löcher. Nach 20 Minuten auf dem Wasser sind wir gekentert. Ich kann nicht schwimmen, aber ich habe mich an irgendwas festgehalten und Gott wollte, dass ich überlebe, so wie die Jungs. Aber das andere Mädchen ist ertrunken. Es gab keine Rettungswesten oder so was."

Chantal steht an der Hafenmole von Rabat. Sie hört das Rauschen des Atlantiks und schließt die Augen. Sekretärin war sie einmal in Kinshasa, sie hat Abitur, aber ihre Zeugnisse sind bei der Flucht alle im Mittelmeer untergegangen. Jetzt geht sie putzen, bei einer marokkanischen Familie. Offiziell darf sie nicht arbeiten, sie lebt von umgerechnet 45 Euro in der Woche, teilt sich ein Zimmer mit zwei Freundinnen. Am Ende des Monats bleibt nichts übrig. Den Verwandten im Kongo kann sie nichts schicken – das ist Chantal besonders peinlich. Mit etwas Glück, sagt sie, werde sie von hier weggehen. Wenn sie einen Platz auf einem "guten Boot" bekommt:

"Mein Traum ist Europa. Ich werde arbeiten und Geld verdienen und meine Familie stolz machen. Mit Gottes Hilfe werde ich einen netten Mann finden und heiraten, denn eine Frau sollte nicht allein sein. Und dann werde ich in Europa bleiben."
Jeder wolle ein Stück vom großen Wohlstandskuchen – und sei es nur ein kleines, sagt die senegalesische Schriftstellerin Fatou Diome. Genau darum geht es in ihrem Roman "Im Bauch des Ozeans": Gehen, um zurückzukommen, um etwas zu haben, um jemand zu sein.
"Die Familie ist nicht stolz darauf, dass der Sohn das Land verlässt.
Sondern die Familie ist stolz, weil der Sohn oder die Tochter dann vielleicht in Europa Geld verdient. Es geht also weniger um die Migration als darum, dass damit ein Erfolg verbunden sein muss. Scheitern gilt nicht."
Ankommen. Endlich irgendwo ankommen. Das wär’s, sagt Bolingo, Chantals kongolesischer Leidensgenosse, und atmet die Atlantikluft tief ein. Bolingo ist Vollwaise, 24 Jahre alt, und seit zehn Jahren auf dem Kontinent unterwegs. Viele Male hat er es übers Meer versucht – vergeblich. Einmal war eine junge Mutter mit einem Baby dabei, beide sind ertrunken. Die Schreie des Säuglings – Bolingo wird sie nicht mehr los. Und doch will er es wieder aufs Boot. So wie Chantal.

"Jetzt ist der verdammte Ozean so wunderschön, so blaugrün, so friedlich. Schau Dir an, wie er glitzert", sagt Bolingo. Chantal wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Irgendwann wollen sie sich in Europa wiedersehen, beschließen sie: "Wer nicht wagt, der nicht gewinnt."

Abou sitzt mit seinen Freunden am Strand von Dakar, Senegal. Er verbrennt seinen Pass – so, hofft er, wird man ihn später weder zurückschicken noch abschieben können. Abou blinzelt in den Sonnenuntergang. Er wird auf einen Fischkutter steigen und sich auf den Weg machen. Nach Spanien. Seine Familie hat Angst, aber sie hat viel Geld bezahlt. Die Reise über den Atlantik wird zur Katastrophe.

"La Pirogue" heißt der Film des senegalesischen Regisseurs Moussa Touré. Beim berühmten FESPACO Filmfestival in Burkina Faso hat er für viel Aufsehen gesorgt. Weil er schonungslos den Überlebenskampf der Migranten zeigt, die täglich auf Booten nach Europa unterwegs sind.

Tausende verdursten oder ertrinken jedes Jahr allein im Mittelmeer. Wie viele genau, das weiß niemand. Harouna kennt viele solcher Geschichten. Jeden Tag, sagt er, komme eine dazu. Gerade erst hat er Freunde beerdigen müssen, die mit ihrem Schlauchboot gekentert sind. Harouna ist selbst Flüchtling, kommt aus dem Senegal. Im heruntergekommenen Viertel La Féraille, im Osten von Tanger, arbeitet er für eine kleine spanisch-marokkanische Hilfsorganisation, kümmert sich um "sans papiers", um die Afrikaner, die hier leben und warten, mittellos und ausgestoßen, illegal und ohne Pass zwischen Marokko und Europa.

"Hier haben wir Kleidung, wir bekommen Spenden… diese Schubladen hier waren alle voll. Wir haben Jacken, Babysachen, Babynahrung und so weiter… die Leute kommen hierher, wir verteilen, was wir haben, dafür sind wir ja da, damit sie hier besser überleben."

Doch irgendwann, erzählt Harouna, kommen manche Migranten plötzlich nicht mehr vorbei. Für ihn das Zeichen: Sie sind unterwegs, steigen auf ein Boot nach Europa. Tanger ist Marokkos Tor zum Mittelmeer. Das spanische Tarifa ist nur 14 Kilometer entfernt. Touristen brauchen mit der luxuriösen Schnellfähre nur eine gute halbe Stunde und zahlen 50 Euro. Bootsflüchtlinge bereiten ihre Reise oft monatelang vor und zahlen horrende Summen für eine Fahrt ins Ungewisse. Der Kongolese Emmanuel Kabongo kennt die Methoden der Schlepper:

"Eine organisierte Überfahrt kostet mindestens 1500 Euro pro Person. Den Treffpunkt am Strand, den kennen nur die Unterhändler, die bekommen 250 Euro als Anzahlung. Das sind die Leute, die den Passagieren dann sagen, wann und wo genau es losgeht. Dann müssen die Passagiere noch Rettungswesten kaufen, wenn sie denn noch Geld haben. Je nach Preis sind es Schlauch- oder Holzboote ohne Kapitän, die Schlepper bleiben in Marokko zurück, die Migranten sind sich selbst überlassen. Manchmal irren sie dann herum, ich weiß von einer Gruppe, die dachte, sie sei in Europa, dabei war sie in Algerien gelandet. Wer mehr zahlt, hat vielleicht GPS und ein Mobiltelefon, um bei den Spaniern die Seenotrettung anzurufen."

Aber oft bringt eben auch der letzte Hilferuf nichts mehr. Viel zu oft. Die Menschen ertrinken nicht nur, sagt Emmanuel – sie sterben an ihrem Traum.

"Dans quelques jours nous serons en Espagne. Au paradis! –
Ou nous allons, il n’y a pas le paradis."
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