Gestorben wird nie schnell

03.06.2013
Die Palliativmedizinerin Petra Anwar schreibt über die letzten Monate von zwölf ihrer Patienten. Sie lässt dabei kein schmerzhaftes Detail aus. Trotzdem ist ihr Buch eine Hommage an das Leben, an ein ehrenvolles Leben bis zum Schluss.
Um es gleich vorweg zu sagen: Dieses Buch ist herzzerreißend. Die Geschichten, die hier erzählt werden, holen das Sterben nah heran. Ohne Schutzschild ist man mittendrin im letzten großen Kampf, oft gegen eine unheilbare Krankheit, mit all seinen Leiden – den körperlichen wie seelischen: In diesem Buch wird gekotzt, geblutet, geeitert, geweint, geschrien und geschwiegen. Nichts bleibt unerwähnt. Nicht die Angst, die Verweigerung, die Not, die Sorge, die tödliche Krankheit, die Gebrechen, die Wunden, aber auch die Hoffnung und die Liebe, die in vielen Familien in den letzten Monaten, Tagen und Stunden so groß scheinen wie nie zuvor.

Petra Anwar ist so etwas wie der gute Engel
Zwölf Menschen sterben in dem Buch von Petra Anwar, das sie mit Hilfe des Schriftstellers John von Düffel geschrieben hat. Petra Anwar ist Palliativmedizinerin in Berlin. Seit Jahren hilft sie unheilbar kranken Menschen ihre letzten Wünsche zu erfüllen, behandelt ihre Schmerzen, ihre Wunden, sie steht ihnen psychisch bei und hilft den besten Ort zum Sterben zu finden - meist zu Hause, im Kreis der Familie.

Ein Sterbeort, der den meisten Menschen, verwehrt bleibt. Zumindest hier in Deutschland. Hierzulande sterben die meisten Menschen noch immer im Krankenhaus. Nicht selten allein. Anders in diesem Buch: Petra Anwar ist so etwas wie der gute Engel, den man jedem Sterbenden, aber wirklich jedem, zur Seite wünscht. Unbedingt und immer. Und doch muss klar sein, die Patientinnen und Patienten von Frau Anwar hatten das Glück, sie zu haben. Der Normalfall sieht anders aus.

"Jeder Tod hat seine Geschichte", heißt es gleich zu Beginn des Buches, und genau darum geht es: Um den individuellen Umgang mit dem eigenen Sterben. Da ist die 49-jährige Krankenschwester Maike, Mutter zweier Kinder, die an ihrem Magentumor sterben wird. Ihr Tumor im Bauch ist so groß, dass Fremde sie für hochschwanger halten. Maike probiert alles, um noch möglichst lang aktiv am Leben teilzunehmen, sie fährt Rad, räumt auf, kauft ein. Und doch gibt es diese Momente, in denen sie nicht mehr will, in denen sie es satt hat, dieses Leben auf Bewährung, in denen die Schmerzen alles bestimmen, wo der Gang zur Toilette zum Martyrium wird. Mit aller Kraft wehrt sie sich gegen ein Pflegebett und stirbt dann folgerichtig beim Aufstehen aus dem Lieblingssessel in dem Armen ihres Ehemannes.

Der Weg bis zum Tod ist hart
Oder da ist Herr Helling, der an Bauchspeicheldrüsenkrebs sowie an einer schweren Nierenerkrankung litt, der im Rollstuhl saß, dreimal die Woche zur Dialyse musste und der trotzdem vom Sterben nichts wissen wollte, es verdrängte und um jedes noch so kleine Stück Normalität rang. Er pflegte sich penibel, war immer freundlich, machte eine Reise ans Meer, um seine geliebten Leuchttürme zu sehen, und doch musste auch Herr Helling den Tod irgendwann akzeptieren. Als er nach Tagen der Schmerzen anfängt, Stuhlgang zu erbrechen, beschließt er, die Dialyse abzubrechen. Wenige Tage später ist er tot. Gestorben im Beisein seiner Frau und seiner Kinder.

Und so zeigt jede dieser zwölf wahren Geschichten: Gestorben wird niemals schnell. Meist vergehen Monate, wenn nicht sogar Jahre, bis es soweit ist. Der Weg dorthin ist hart. Umso wichtiger ist es, vorbereitet zu sein, eine Ahnung davon zu haben, was kommen kann. Petra Anwar gibt mit ihrem Buch die Möglichkeit, etwas davon mitzuerleben und sich so klar zu werden, wann hole ich mir wo welche Hilfe. Mehr noch: Petra Anwar gibt dem Tod seinen Platz zurück. Er gehört dazu. Ihr Buch ist damit trotz seiner mitunter schmerzhaften Schilderungen eine Hommage an das Leben - ein ehrenvolles Leben bis zum Schluss.

Besprochen von Kim Kindermann

Petra Anwar/ John von Düffel: "Geschichten vom Sterben"
Piper, München 2013
240 Seiten, 19,99 Euro