Gestern Aleppo, heute Friedland

Von Verena Kemna · 24.09.2013
Seit letzter Woche sind 100 Syrer in Friedland. Es sind die ersten von rund 5000 Flüchtlingen aus dem Bürgerkriegsstaat, die Deutschland aufnimmt. Ein "Orientierungskurs" soll ihnen dabei helfen sich hier zurechtzufinden.
15 Frauen, Männer und Jugendliche verfolgen gespannt jede Bewegung von Deutschlehrerin Helene Lier. Auf den Tischen im Klassenzimmer liegen bunte Pappkarten. Darauf stehen deutsche Worte wie Dankeschön, Bitteschön, Entschuldigung, wie viel kostet das? Die Jüngste im Klassenzimmer des Grenzdurchgangslagers Friedland ist 15 Jahre alt, der Älteste Mitte 50. Die Deutschlehrerin hält eine Karte der Bundesrepublik hoch, zeigt mit dem Finger auf das Bundesland Hessen und schreibt mit Kreide an die Tafel.
"Geht dieser Zug nach Frankfurt, ja oder nein? Das kann ich fragen, hier, ich frage, geht dieser Zug nach Frankfurt."

Alle nicken, formen mit den Lippen Worte, die sie nicht verstehen, murmeln vor sich hin. Nicht alle Frauen im Klassenzimmer tragen Kopftuch. Eine trägt die blonden schulterlangen Haare offen. Neben ihr sitzt Manal Sheikh Debs aus Aleppo. Sie ist 33 Jahre alt, Mutter von fünf Kindern. Sie ist die einzige im Raum, deren Körper von Kopf bis Fuß in einen schwarzen Tschador gehüllt ist, das traditionelle Kleidungsstück der streng gläubigen Muslima. Energisch gestikuliert die kleine Frau mit den Händen, sieht rüber zu ihrem Mann am anderen Ende des Klassenzimmers, beobachtet, ob auch ihre 15-jährige Tochter und die 19-jährigen Zwillinge die Worte der Lehrerin nachsprechen. Deutschlehrerin Helene Lier drückt auf die Starttaste des CD-Players.

Helene Lier: "Wir hören jetzt ein Lied."

"Geht dieser Zug nach Frankfurt? Nein, nein, der geht nach Trier! Wann geht ein Zug nach Frankfurt? Um 15 Uhr, Gleis vier! Nochmal."

Fünf Tage für die Grundlagen

Wieder und wieder ertönt das Lied in verschiedenen Variationen. Züge fahren nach Trier, München, Frankfurt. Alle im Raum sind konzentriert bei der Sache. Lehrerin Helene Lier, selbst Migrantin, spricht kein Wort arabisch. In nur fünf Tagen muss sie den Flüchtlingen aus Damaskus und Aleppo das Nötigste beibringen. Sie schwärmt von ihrer Klasse:

"Sehr motiviert und sehr fleißig, die üben auch in der Pause weiter. Die helfen einander, dass die vor allem sagen können, wie sie heißen, wo sie wohnen, ein bisschen über die Familie erzählen, Uhrzeit verstehen, dass sie ein bisschen Motivation für die deutsche Sprache bekommen, dass sie keine Angst haben, deutsch zu lernen."

Pünktlich um halb zwölf beginnt die Mittagspause. Alle machen sich auf den Weg zur Kantine, raus aus dem barackenähnlichen Gebäude mit den vielen Klassenräumen. Familie Sheikh Debs aus Aleppo wartet noch im Flur. Vater Omar, ein zierlicher kleiner Mann mit kurz geschnittenen Haaren, steht zwischen seinen beiden Zwillingssöhnen. Seine 15-jährige Tochter Fatima trägt Kopftuch und einen bodenlangen Mantel. Sie ist größer als ihre Mutter, die im schwarzen Tschador vor ihr steht. Alle sind stolz auf die ersten deutschen Worte.

"Ich heiße ... Omar Sheikh Debs."

Vater Omar, Mitte 40, sieht müde aus. Auch seine Frau Manal hat dunkle Ringe unter den Augen. Beide sitzen an einem Tisch im Klassenzimmer und erzählen.

Omar hatte zusammen mit seinem Vater einen kleinen Laden in der Altstadt von Aleppo. Dort haben die beiden Nüsse und Früchte verkauft, Omar hat sich um die Geschäfte gekümmert. Er erzählt, dass seine Söhne eine Koranschule besucht haben, die Tochter eine neunte Klasse. Von Aleppo aus ist die Familie in den Libanon, nach Beirut geflohen. Dort hat man ihnen eine Wohnung zugewiesen, aber sie hatten nichts zu essen. Die Menschen im Libanon haben uns behandelt wie den letzten Dreck, sagt Manal. Sie hat mehrere Briefe an die UN geschrieben, ihre Situation geschildert. Die Familie ist glücklich, dass sie mit den ersten einhundert syrischen Flüchtlingen nach Deutschland einreisen konnte. Ehemann Omar nickt, seine Frau gestikuliert energisch mit den Händen.

Der Traum vom Studium in Deutschland

Manal, 34 Jahre alt, und ihre Familie dürfen vorerst für zwei Jahre in Deutschland bleiben und auch arbeiten. Die Mutter träumt davon, dass ihre Kinder in Deutschland studieren. Abdullah, fünf Jahre alt, der jüngste Sohn von Familie Sheikh Debs, hält ein Spielzeug in der Hand und strahlt. Vater Omar zeigt mit der Hand in Richtung Kantine. Nach dem Essen will sich die Familie in den eigenen vier Wänden kurz zusammensetzen.

Haus Nummer 53 auf dem Gelände des Grenzdurchgangslagers. In einem langen Flur hängen alle paar Meter Namensschilder neben einfachen weißen Holztüren. "Familie Sheikh Debs" steht da, sechs Personen. Im Raum stehen drei Doppelstockbetten. Tochter Fatima klopft mit der Hand auf die Matratze ganz oben. Hier schläft sie, unten der kleine Bruder. In Aleppo hatte die Familie eine 150-Quadratmeter-Wohnung, in Friedland ist nur ein schmaler Gang zwischen den drei Stockbetten. Zwei einfache Holzschränke stehen rechts und links, dazwischen ein Fenster mit weißer Gardine. Alle setzen sich rund um den einzigen Tisch.

Mohamad, 19 Jahre alt, kramt im Schrank, zieht zwischen Shampoo-Flaschen und Zahnpastatuben eine abgegriffene Koran-Interpretation hervor. Er deutet mit dem Finger auf verwischte handgeschriebene Zeilen. Die persönliche Widmung des Autors. Das Einzige, was Mohamad aus der Wohnung in Aleppo mitnehmen konnte. Der Koran für die ganze Familie, ein grüner Buchdeckel mit goldenen Schriftzeichen, liegt auf dem Tisch.

Heute kommt ein Bus, bringt die Familie nach Sachsen, wohin genau, wissen sie noch nicht. Sie sind aber voller Optimismus. Manal greift nach einem handtellergroßen orangefarbenenen Plastikamulett. In arabischen Schriftzügen heißt es da: Verlass dich auf Gott.
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