Gespräche als Vermächtnis

27.12.2012
Peter Handke ist Schriftsteller geworden, um "intensiver" zu leben. Günter Grass glaubt, dass die "größeren Talente" im Krieg gestorben sind. In seinen Werkstattgesprächen kommt der 2011 verstorbene Literaturwissenschaftler Heinz Ludwig Arnold den Autoren seiner Gegenwart sehr nahe und erfährt, unter welchen Bedingungen sie schreiben und wie sie selbst ihre Karriere sehen.
Ohne Literatur konnte er nicht leben. So eine Vermittlerfigur, wie sie der Heinz Ludwig Arnold bis zu seinem Tod gewesen ist, fehlt inzwischen in der deutschsprachigen Literaturszene.

Zum Vermächtnis des 1940 geborenen, in Göttingen lebenden und 2011 gestorbenen Publizisten und Literaturwissenschaftlers gehören die Editionsreihe "Text+Kritik", mit dem so schick modernen Pluszeichen als Verknüpfung, und das umfassende "Kritische Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur", das Arnold sehr praktisch als Blattsammlung anlegte, so dass es regelmäßig aktualisiert werden konnte. Kurz vor seinem Tod konnte er 2009 noch eine Neukonzeption von "Kindlers Literaturlexikon" abschließen und dieses Standardwerk dabei an das Internetzeitalter anschließen. Das alles macht ein gewaltiges Werk aus, das durch Fleiß und eine stete Neugier auf neue Literatur gespeist wurde.

Zum Vermächtnis gehören auch viele ausführliche Gespräche. Eine schöne Edition der unbearbeiteten Originalaufnahmen – inklusive des Geräuschs des Pfeifeanzündens beim Gespräch mit Günter Grass und des Rotweinöffnens beim Gespräch mit Friedrich Dürrenmatt – ist 2011 im Quartino Verlag erschienen. Nun kann man die Textfassungen von insgesamt 14 Gesprächen, die Zusammenstellung konnte Arnold noch selbst vornehmen, in einer übrigens auch repräsentativen Ausgabe des S. Fischer Verlages nachlesen.

Es sind Werkstattgespräche in einem weiten Sinne. Von solchen Autoren wie Grass, Böll, Walser, Enzensberger, aber auch Peter Rühmkorf, Helmut Heißenbüttel, Peter Weiß oder Jurek Becker – einziges Manko: es ist keine einzige Autorin darunter – möchte Arnold wissen, wie sie zum Schreiben gekommen sind, unter welchen Bedingungen sie schreiben und wie sie selbst ihre Karriere und ihr Selbstverständnis sehen.

So zurückhaltend wie einleuchtend bis großartig ist Arnolds Fragetechnik. Er möchte nicht selbst glänzen, sondern wirklich Auskunft von den Autoren erhalten. Sein Anspruch ist in einem kleinen Satz auf der Rückseite des Covers formuliert: "Meine Gespräche sollen Lektüre nicht ersetzen, sondern neugierig auf sie machen." Das lösen diese Gespräche ein.

Selbst ein so bekanntes Werk wie das von Günter Grass erscheint in einem neuen Licht, wenn er erwähnt, dass er von Anfang an in dem fast demütigen Bewusstsein schrieb, dass der Zweite Weltkrieg von seinem Jahrgang 1927 "eine Menge von Talenten und wahrscheinlich größeren Talenten, als wir alle es sind, fortgenommen" hat. Von Peter Handke ist zu erfahren, dass er, wenn er schreibt, auch "intensiver lebt". Und bewegend das Gespräch, das Arnold mit Jurek Becker über dessen frühkindliche Erfahrungen als Jude in einem Ghetto und in einem KZ geführt hat.

Bei dem Gespräch mit Helmut Heissenbüttel, der fast 25 Jahre als Redakteur beim Süddeutschen Rundfunk arbeitete, erfährt man übrigens auch, wie wichtig das Radio für die Literaturszene war. Viele renommierte Autoren haben hier, als der Kulturauftrag noch ungebrochen galt, mit Features und Hörspielen ihr Grundeinkommen gefunden.

Was ein deutschsprachiger Schriftsteller in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, das kann man in diesem Band erfahren. Das bietet auch unverzichtbare Informationen im Hinblick darauf, was sich von da aus bis in unsere Gegenwart geändert hat.

Besprochen von Dirk Knipphals

Heinz Ludwig Arnold: Gespräche mit Autoren
Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012, 726 Seiten, 24,99 Euro

Links auf dradio.de:
Bei Grass in der Küche - Heinz Ludwig Arnold: "Meine Gespräche mit Schriftstellern. Originaltonaufnahmen 1970-1999"
Stilist des Krieges - Ernst Jüngers Kriegstagebücher erschienen
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