Gesine Schwan: Bundestag hatte die Wahl "zwischen Pest und Cholera"

Gesine Schwan im Gespräch mit Gabi Wuttke · 30.06.2012
Vor der Abstimmung über die Euro-Verträge habe Bundeskanzlerin Angela Merkel das Parlament unter Zeitdruck gesetzt, um öffentliche Debatten zu verhindern, konstatiert die Politologin Gesine Schwan. Sie wirft Merkel ein weitgehendes Misstrauen gegenüber der Politik vor.
Gabi Wuttke: Man blieb unter sich in Brüssel. Spanien und Italien haben es den EU-Staats- und Regierungschefs in die Hand versprochen: Wir bessern uns! Das reicht, um künftig Milliarden abzurufen! Und um eine europäische Bankenaufsicht kümmern sich Kommission und EZB, auch dies im Auftrag der 27 Regierenden. Das Europaparlament ist für die Zukunft der Union nicht weiter gefragt – was seinen Präsidenten vor Wut schäumen lässt und manchen deutschen Parlamentarier, denn was dem Bundestag gestern Abend zur Abstimmung vorlag, war in Teilen bereits Makulatur. Am Telefon begrüße ich jetzt Gesine Schwan. Die Sozialdemokratin war viele Jahre Universitätspräsidentin, kandidierte für das Bundespräsidentenamt und steht heute der Humboldt-Viadrina School of Governance in Berlin vor. Schönen guten Morgen, Frau Schwan!

Gesine Schwan: Guten Morgen, Frau Wuttke!

Wuttke: Wohin wird dieses Regieren nach Gutsherrenart führen?

Schwan: Es wird dazu führen, dass die Gesellschaften in Europa, dass die Menschen in Europa nicht mehr verstehen, was das Ganze soll, und damit die Legitimation sowohl der Nationalstaaten als auch von Europa sehr leiden. Man muss dazu sagen: Diese Tendenz, Parlamente zu unterlaufen, ist in Deutschland, bei der deutschen Bundesregierung seit langer Zeit beobachtbar, das Bundesverfassungsgericht hat das gerade mit seinem letzten Urteil akribisch nachgewiesen, wie geradezu strategisch die Rechte des Parlamentes durch die gegenwärtige Bundesregierung und auch gerade durch die Bundeskanzlerin hintergangen worden sind. Das ist meines Erachtens deswegen der Fall, weil Frau Merkel einfach nicht glaubt, dass es verantwortliche Politik gibt.

Sie ist so misstrauisch gegenüber jeder Politik und auch gegenüber ihren Nachbarn, dass sie immer wieder versucht, Politik durch irgendwelche Kontrollen und Regelungen zu ersetzen. Das ist die eigentliche Logik dahinter. Und die ist fatal, weil, wir können nicht demokratische Politik zurückdrehen zugunsten von irgendwelchen arkanen, also, irgendwelchen in Hinterzimmern festgelegten Lösungen. Aber das ist die eigentliche Wurzel und sie ist fatal.

Wuttke: Das heißt, das Argument der Zeit – und die Zeit drängt, erst mal muss man sich was überlegen, dann es durch die Parlamente jagen – ist für Sie kein Argument?

Schwan: Nein. Das ist ja auch immer nur vorgeschoben gewesen und auch der deutsche Präsident des Bundestages, Herr Lammert, hat ja seiner Bundeskanzlerin das mehrfach sehr angekreidet. Sie hat ohne Not immer wieder Zeitdruck aufgebaut, auch bei der ganzen Nukleargesetzgebung, und das ist … Das ist einfach die Logik: Sie will nicht öffentliche Debatten, in gar keinem Zusammenhang. Aber das ist das Kernstück von Demokratie! Weil wir nur mit solchen öffentlichen Debatten ausschließen können einigermaßen, dass massive Fehler gemacht werden. Wir können es nicht sicher ausschließen, aber es drei oder vier Personen einfach zu überlassen, die sozusagen in Hinterzimmern etwas aushandeln und meinen, besonders clever zu sein, so kann Demokratie und so kann auch Europa nicht funktionieren.

Wuttke: Zumindest funktioniert es, dass auf EU-Ebene die Parlamentarier, das Europaparlament komplett ohnmächtig ist. Das scheinen wir jetzt besonders festzustellen, wo die Krisen-Politik alles dominiert. Kann man von daher sagen, die Krise ist eine Chance für den Parlamentarismus in Europa?

Schwan: Krisen sind immer Chancen, aber sie müssen auch ergriffen werden. Und gegenwärtig ist ja auch im Deutschen Bundestag eigentlich eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera notwendig gewesen. Denn das, was im ESM festgeschrieben wird, nämlich eine unkontrollierte und auch nicht demokratisch legitimierte Macht eines Gouverneursrats, der tief eingreifen kann in die verschiedenen Länder, das ist eigentlich unmöglich. Das Problem ist, dass es hier eine doppelte Front gibt:

Die einen, die dagegen vorgehen, wollen überhaupt eigentlich, dass dieses Europa nur ein lockeres ist und die Nationalstaaten nicht zusammenkommen. Die anderen wollen durchaus ein integriertes Europa, aber eben ein demokratisch und parlamentarisch kontrolliertes. Das sind die beiden Positionen, die sich auch in diesen Klagen niederschlagen. Und das muss man genau auseinanderhalten.

Wuttke: Kann man denn als gemeinsamen Nenner für diese Politik sagen, dass der Neoliberalismus durch die Krise seit 2008 gestärkt wurde?

Schwan: Entschuldigung, der Neoliberalismus hat ja auch – und das ist genau dieselbe Position wie die der gegenwärtigen Bundesregierung – immer der Politik misstraut und gemeint, sie müsse zum Beispiel einen Zuchtmeister haben. Und dieser Neoliberalismus führt zu einem immer größeren Chaos. Er unterminiert auch die Solidaritätsbereitschaft der Menschen. Denn er bringt eine sogenannte Erzählung, eine Erklärung dessen, was passiert ist in Europa, in die Öffentlichkeit, die in meiner Sicht den Tatsachen widerspricht.

Es ist ja nicht so, dass es faule Völker und fleißige Völker und sonst was gibt, sondern wir haben eine völlige Vernetzung der verschiedenen Institutionen. Und allein etwa bei den Banken davon zu sprechen, dass es rein nationale Banken gibt, das ist ja lächerlich. Die sind alle untereinander ganz eng verwoben und wenn die Bundeskanzlerin zum Beispiel in Irland darauf gedrungen hat, dass die irische Regierung die Schulden der Banken übernimmt und sich damit auch hoch verschuldet, dann lag das daran, dass deutsche Banken hoch investiert hatten in irische Banken. Also, das sind längst Verzweigungen, und hier ehrlicher zu sein und zu sagen, es sind nicht die Griechen, die Italiener, die Franzosen, die Deutschen oder die Spanier, sondern es sind Institutionen, die untereinander eng verwoben sind. Und es sind unterschiedliche Interessen dabei vorhanden.

Dass jetzt plötzlich die Zinssätze der Anleihen runtergehen, ganz schnell, und umgekehrt es große Sprünge an den Börsen gibt, das ist einerseits zu interpretieren als eine Freude sozusagen der Banken, und da kann ich schon verstehen, dass manche sagen, jetzt schmeißt man es wieder den Banken in den Rachen. Aber das ist nur ein Teil der Geschichte! Denn vorher hat man eben so lange die Banken untereinander gepäppelt, dass sie ja die eigentlichen Crashs begründet haben. Während Frau Merkel ja immer die Geschichte erzählt, es waren die unsoliden, verantwortungslosen Staaten. Nein, diese Schuldenkrise ist ganz massiv durch die Bankenkrise entstanden!

Wuttke: Aber glauben Sie denn, die Bürger sind tatsächlich so naiv, all diese Geschichten zu glauben?

Schwan: Nein, sie sind nicht so naiv. Aber es ist sehr schwer, diese komplexen Zusammenhänge zu durchschauen. Und so möchten sie auch gerne einer Erzählung glauben, die erstens ihnen guttut – sie, die Deutschen, sind gut, fleißig, sparsam und sonst was, das findet man auch dauernd in seriösen Presseartikeln wieder, dass diese Interpretation gegeben wird –, und zweitens bleibt ihnen da nur noch eine Art persönliches Vertrauen.

Und da denken sie immer noch, die Bundesregierung, die gegenwärtige, macht es schon ganz gut, die Person ist persönlich nicht korrumpierbar und so weiter, das spielt ja, sind ja alles wichtige Dinge. In Wirklichkeit, meine ich, sind wir, sind die Deutschen inzwischen in eine Situation geraten, haben auch einen Vertrauensverlust bei ihren europäischen Nachbarn erlitten, der ist enorm. Das sieht man nur in Deutschland nicht, weil darüber nicht viel berichtet wird.

Wuttke: Frau Schwan, noch ein ganz kurzes Wort: Sie reden jetzt immer gegen die Bundesregierung und gegen die Kanzlerin. Ihre Partei hat gestern mit zugestimmt!

Schwan: Ja, und das genau ist dasselbe Problem. Deswegen sage ich, es ist eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera. Denn es ist schon so, dass die gegenwärtige Bundesregierung das mit herbeigeführt hat. Wenn man jetzt dagegen gestimmt hätte, hätte man gar keine Perspektive, gar keinen Mechanismus, die aktuellen Probleme anzugehen. Deswegen ist das wirklich eine fatale Situation, in die wir geführt worden sind und aus der wir auch wieder raus müssen. Ich kann mir nicht gut vorstellen, dass die Gerichte diese völlig unklare Konstruktion – kein Mensch weiß, was im Bundestag denn wirklich beschlossen worden ist, alle entscheidenden Fragen sind da offenbeblieben –, ich kann mir nicht vorstellen, dass das aufrechterhalten bleibt!

Wuttke: Sagt die Sozialdemokratin und Präsidentin der Humboldt-Viadrina School of Governance Gesine Schwan im Interview der "Ortszeit" von Deutschlandradio Kultur. Besten Dank, Frau Schwan, schönen Tag!

Schwan: Ihnen auch einen schönen Tag!


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