Gesellschaft funktioniert durch Statusfunktionen

31.07.2012
Ein Sachverhalt entsteht, indem Menschen sich ihn wünschen – zu diesem Schluss kommt der Philosoph John Searle. Er hat die Entstehung von sozialen Statusfunktionen untersucht. Sein Buch ist höchst lesenswert als Summe seiner bisherigen Arbeiten zu Sprachkritik und Erkenntnistheorie.
Seit über einem halben Jahrhundert lehrt einer der weltweit bekanntesten – und kontroversesten – Philosophen an der Universität Berkeley: John Searle. Studiert hatte er Politologie und Wirtschaft, bekannt aber wurde Searle vor allem durch seine sogenannte "Sprechakt"-Theorie, die Sprache als eine Form des Handelns begreift. In seinem soeben erschienenen Buch "Wie wir die soziale Welt machen" widmet sich der 80-Jährige dem "noch fehlenden Glied" seiner allumfassenden Theorie menschlichen Verhaltens: den sozialen Wahrnehmungsformen.
Gesellschaft, so der Philosoph, funktioniere durch "Statusfunktionen", das heißt durch die kollektive Zuschreibung bestimmter Funktionen an einen materiellen Träger – zum Beispiel an ein Stück Papier, das wir gemeinsam zu einem Wert erklären: zum Geld. Gleiches gilt auch im Bereich sozialer Funktionen: Nur durch unsere Anerkennung können beispielsweise Kanzlerin oder Priester ihre Funktionen ausüben. Solch "soziale Fakten" unterscheiden sich nach Searle grundsätzlich von natürlichen Tatsachen – letztere gelten unabhängig von unserer Wahrnehmung; die sozialen Fakten aber gibt es überhaupt nur als unsere Schöpfung – daher der Titel des Buchs.

Durchaus polemisch, mit aufklärerischem Erkenntnisinteresse, verfolgt Searle die Entstehung und Evolution solcher Geltungsansprüche. Eine seiner interessanteren Hypothesen behauptet so etwas wie ein kollektives Wirklichkeitsverständnis, das sich nicht auf individuelle Ansichten reduzieren lasse. Durch zwangsläufige Konflikte eröffne dies eine Art demokratischen Spielraum, einen Diskussionsraum – der aber (die Spitze ist gegen Habermas gerichtet) durchaus nicht "herrschaftsfrei" funktioniere. Im Gegenteil sei Kommunikation immer auch ein Machtspiel.

Searle zögert nicht, seinen Ansatz als "soziale Ontologie" zu bezeichnen, denn die gesamte menschliche Zivilisation sei "das Produkt von Sprechakten", also sprachlich geäußerten Absichts- und Willenserklärungen: Unsere sozialen Beziehungen seien geprägt durch Wünschen, Befehlen, Versprechen, usw. Diese Absichten veränderten die Welt, "indem sie das Bestehen eines Sachverhalts proklamieren und eben dadurch dafür sorgen, dass dieser Sachverhalt besteht".

Sozialphilosophen sprechen daher von der "sozialen Konstruktion der Wirklichkeit". Searle übernahm die Formel ohne sichtbaren Verweis, wie überhaupt die Sozialwissenschaften, denen er doch zur philosophischen Legitimation im Streit um ihre "Wissenschaftlichkeit" verhelfen will, nur selten als Kooperationspartner aufscheinen. Dabei könnten seine zentralen Fragen – zum Beispiel warum uns das Problem des freien Willens Kopfzerbrechen bereitet – hier viele potentielle Antworten einholen: nicht zuletzt auf seine (rhetorische) Frage, was denn eigentlich "echte Alternativen" seien, unter denen wir "frei" wählen könnten: Wer gewichtet sie als gleichwertig, wie werden ihre Geltungsansprüche verhandelt?

Auch zum hochkontroversen Thema "universelle Menschenrechte" – deren Widerlegung Searle ein viel zu kurzes Kapitel widmet – wäre die Entsprechung universeller Menschenpflichten, die er betont, mehr als eine kurze Erwähnung wert gewesen. Scharfsinnig ortet Searle solche traditionellen Leerstellen der Sozialphilosophie. Sein Buch ist höchst lesenswert als Summe seiner bisherigen Arbeiten im Themenbereich Sprachkritik und Erkenntnistheorie.

Besprochen von Eike Gebhardt

John R. Searle: Wie wir die soziale Welt machen
Suhrkamp, Berlin 2012
351Seiten, 29,90 Euro
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