Geschichten hinter Grabsteinen

Von Ayala Goldmann · 08.04.2011
Im Norden Berlins befindet sich der größte jüdische Friedhof Europas - ein Ort mit Tradition und lebendiger Gegenwart. Es ist kein Friedhof wie jeder andere. Mit "Im Himmel, unter der Erde" gibt es nun auch eine Dokumentation darüber.
Harry Kindermann aus dem Film: "Dieser jüdische Friedhof war bei den Nazis in einem gewissen Aberglauben eingebettet. Das heißt, scheinbar gingen da Gerüchte rum, dass da irgendwie was nicht in Ordnung ist. Da ist so ein Geist, so ein Golem - das ist nicht ganz koscher.

Und das war der Hauptgrund, warum kein Militär und keine Polizei den Friedhof betreten haben, und deshalb ist praktisch das alles erhalten geblieben. Überlegen Sie mal, wie viele jüdische Friedhöfe geschändet wurden. Hier ist überhaupt nichts passiert."

So seltsam es klingt: Harry Kindermann hat seine Jugend auf dem Friedhof verbracht - ein Ort in Berlin, der für ihn etwas ganz Besonderes ist. Nicht nur, dass der jüdische Friedhof Weißensee die Nazi-Zeit ungeschändet überstanden hat. Für Harry Kindermann war das Gräberfeld Anfang der Vierzigerjahre auch eine Zuflucht vor der feindlichen Außenwelt.

Jüdische Jugendliche konnten dort unter Aufsicht eines Rabbiners Sport treiben und Fußball spielen. Als 15-Jähriger erlebte Harry Kindermann auf dem Gräberfeld sogar seine erste Liebe.

Harry Kindermann aus dem Film: "Ein blondes Mädchen – sah blonder aus, als jede Arierin sein konnte. Ja, in die habe ich mich verliebt. Und wir waren also befreundet und sind dann auch zusammengekommen, bis sie dann 1942 im Herbst auch deportiert wurde. Sie ist, wie ich weiß, zuerst nach Litzmannstadt gekommen und von dort nach Auschwitz, und ermordet worden. Ja, das war die Freundschaft. Und ansonsten gab es keine jüdischen Mädchen mehr, die man aufreißen konnte."

Seine Geschichte erzählt der heute 83-jährige Harry Kindermann in dem Film "Im Himmel, unter der Erde – der jüdische Friedhof Weißensee". Die junge Berliner Regisseurin Britta Wauer, eine bereits mit mehreren wichtigen Preisen ausgezeichnete Senkrechtstarterin, hat die Dokumentation gedreht - mit viel Witz und Humor.

Britta Wauer: "Ich habe eben versucht, nicht nur tragische Geschichten zu finden, sondern auch schöne, vom Verlieben gib t es eben auch, oder Kinder, die da Sportunterricht hatten auf dem Friedhof, oder Autofahren gelernt haben, und das soll dann doch die Möglichkeit geben, sich ein bisschen heiterer oder unbefangener mit dem Thema Friedhof und Tod zu befassen."

Das ist ihr definitiv gelungen – was aber nicht nur an ihremTalent liegt. Der jüdische Friedhof in Berlin-Weißensee ist einfach kein Friedhof wie jeder andere. 1880 wurde er im Norden von Berlin angelegt. Mit 115.000 Grabstellen, einer in sich architektonisch geschlossenen Gebäudeanlage und einem vollständig erhaltenen Totenregister ist Weißensee heute der größte noch aktive jüdische Friedhof Europas. "Im Himmel, unter der Erde" zeigt das riesige Areal, das wie ein verwunschener Wald wirkt.

Doch der Film hat sich nicht nur auf Grabsteine und Zeitzeugen beschränkt: Schüler eines Kunst-Leistungskurses kommen zu Besuch, der Sargtischler gibt Einblicke in seine Arbeit - und Anwohner, die mit einem Kleinkind in einem Haus auf dem Gelände leben, schwärmen von seltenen Vögeln und der Naturoase mitten in der Stadt.

Der Film erzählt auch die Geschichte während der DDR-Zeit – zum Beispiel, wie die SED-Führung auf den geplanten Bau einer sechsspurigen Autobahn durch den Friedhof verzichtete, nachdem unter anderem die Jüdische Gemeinde in West-Berlin dagegen protestiert hatte. Schon damals stand der Friedhof unter Denkmalschutz – wurde aber sträflich vernachlässigt. Im Jahr 2006 beschloss das Berliner Abgeordnetenhaus, das Gräberfeld auf die tentative Vorschlagsliste der Kultusministerkonferenz für das Weltkulturerbe der UNESCO zu setzen.

Diese Woche tagte auf dem Friedhofsgelände nun eine Konferenz des internationalen Rats für Denkmalpflege ICOMOS. Dabei war auch Jörg Haspel, Chef des Berliner Landesdenkmalamtes:
"Ich glaube, den jüdischen Friedhof Weißensee zu nominieren für das Welterbe ist ja jetzt nicht eine Expertenmeinung, oder sozusagen eine lokalpatriotische Initiative, sondern sie ist sehr gut eingebunden in eine ganze Reihe von Aktivitäten: Ob es Schulprojekte sind, die auf dem jüdischen Friedhof Weißensee stattfinden, bis hin jetzt zu dem Film von Frau Wauer, der hier in Berlin auf der Berlinale den Publikumspreis bekommen hat, das heißt, es ist durchaus ein weit über die Fachwelt, auch über die jüdische Welt hinausgehendes Anliegen, das ganz breit in der Stadt getragen wird. Und das zeigt auch der Beschluss des Berliner Abgeordnetenhauses, diese Nominierung voranzutreiben."
Eine Nominierung für das Weltkulturerbe ist ein unglaublich bürokratischer Prozess, der sich noch Jahre hinziehen wird. Doch allein die Absicht hat schon einiges bewirkt: Die Restaurationsarbeiten in Weißensee haben einen entscheidenden Schub erfahren. Gesine Sturm vom Berliner Landesdenkmalamt:
"Und wir haben jetzt schon sehr gute Erfolge, die wir vorzeigen können, und es sind viele Grabmale, die auch mit einfacheren Mitteln restauriert, konserviert und saniert werden können."

Aber es ist noch unendlich Arbeit vor uns, man kann das nicht in Jahren beziffern, man kann es kaum in Euro beziffern. Es sind unglaubliche Summen, die wird niemand aufbringen können.
Doch vielleicht trägt ja auch der Film dazu bei, dass der Friedhof Weißensee mit seinen vielen Geschichten, die hinter den Gräbern stehen, wieder verstärkt ins Bewusstsein von Sponsoren rückt. Sehenswert ist die Dokumentation allemal - originelle Archivbilder, aufmerksame Kameraeinstellungen und nicht zuletzt die Musik von Karim Sebastian Elias lassen die 90 Minuten schnell vergehen.
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