Geschichte

Über das Nachleben des Totalitarismus in Osteuropa

Studenten demonstrieren am 8. März 1968 in Warschau gegen die Verhaftung ihrer Kommilitonen Adam Michnik und Henrik Szlajfer.
Studenten demonstrieren am 8. März 1968 in Warschau gegen die Verhaftung ihrer Kommilitonen Adam Michnik und Henrik Szlajfer. © picture alliance / dpa / Tadeusz Zagodzinksi
Von Marko Martin · 20.04.2014
Rechtzeitig zum 25. Jahrestag des Epochenwandels von 1989 gibt die amerikanische Historikerin Marci Shore Anstöße zu erkennen, wie viel unerledigte Geschichte im Osten Europas noch zu bergen ist.
Nicht allein Russlands Okkupation der Krim, auch der Vorwurf aus Moskau, in Kiew würden Antisemiten den Ton angeben, hat im Westen für Debatten gesorgt. Freilich ist es nicht Neues, dass eine gesellschaftliche Gruppe wie die Juden politisch instrumentalisiert wird.
Davon legt auch Marci Shore eindrucksvoll Zeugnis ab und gibt rechtzeitig zum 25. Jahrestag des Epochenwandels von 1989 Anstöße zu erkennen, wie viel unerledigte Geschichte im Osten Europas noch zu bergen ist.
"Als das 'Dritte Reich' 1939 den Zweiten Weltkrieg anzettelte, fand sich Osteuropa zwischen Hitler und Stalin wieder - schlimmer ging es nicht. Auch nach 1945 hätten viele Osteuropäer nicht sagen können, ob sie den Krieg gewonnen oder verloren hatten."
"Stalin war ein langes Leben beschieden... 1968 besetzten dann sowjetische Panzer die Straßen Prags – wie zwölf Jahre zuvor die Budapests. Währenddessen beschuldigte im Frühling 1968 die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei die protestierenden Studenten der 'zionistischen Konspiration' und nutzte die gegen die Zensur gerichteten Demonstrationen als Vorwand, eine antisemitische Kampagne loszutreten."
"Die Kommunisten verbreiteten die hanebüchene Unterstellung, 'nazistische Zionisten' hätten sich gegen Polen verschworen. Dreizehntausend Juden – viele Holocaust-Überlebende und überzeugte Kommunisten, die als polnische Bürger ihrem Heimatland tief verbunden waren – tauschten ihre polnischen Ausweise gegen Ausreisevisa ein."
"Diese desillusionierenden Geschehnisse im Jahr 1968 waren der Anfang vom Ende des europäischen Marxismus."
Man wünscht diesem flüssig und stringent geschriebenen Buch auch deshalb viele Leser, weil es gerade im Jubiläumsjahr unseren reichlich verengten deutsch-deutschen Mauerfallblick gehörig weitet. Hinzu kommt, dass sich die amerikanische Professorin an Universität Yale nicht als trocken allwissende Historikerin gibt, sondern uns stattdessen mitnimmt auf eine intellektuelle, politische und geografische Entdeckungsreise.
Eindrucksvolle Alltagsimpressionen
1972 geboren, kommt sie Anfang der 90er-Jahre als Studentin erstmals nach Tschechien, findet Kontakte ins Milieu der ehemaligen Dissidenten – und erfährt gleichzeitig als temporäre Englischlehrerin in der Provinz, wie viel von der alten, restriktiven Untertanen-Mentalität sich weiterhin erhalten hat.
Bei Reisen in die Slowakei und nach Rumänien wird sie dann einer Verwandlung ansichtig: Wer früher mit dem kommunistischen Regime kollaborierte, gibt sich heute stramm national-chauvinistisch – gegen Juden und andere Minderheiten, gegen das westlich-liberale Europa ohnehin.
Marci Shore: "Der Geschmack von Asche"
Marci Shore: "Der Geschmack von Asche"© C.H. Beck Verlag
Anstatt jedoch von hoher Warte aus zu urteilen, beschäftigt sich Marci Shore mit den Biografien der Osteuropäer und ihr gelingen zudem eindrucksvolle Alltagsimpressionen. So hat sie sich auf die Suche nach jenen gemacht, die als Juden den Holocaust überlebt und an den Kommunismus geglaubt hatten, ehe sie so fürchterlich desillusioniert wurden.
Am Beispiel der jüdisch-polnischen Brüder Berman stößt sie in Warschau, Krakau, New York und Tel Aviv auf eine Jahrhundertgeschichte, die vom Warschauer Ghetto-Aufstand 1943 bis hinein in unsere Tage reicht. Kinder und Enkel berichten von mehrfach gebrochenen Identitäten.
"Als Kind hörte Lea ihren Vater leise Hebräisch singen, aber wenn sie ihn bat laut zu singen, dann stimmte er immer die 'Internationale' an, und das nur auf russisch. Damals war ihr das alles ein großes Geheimnis, auch die kleine Thora, von der der Vater sagte, es seien 'Geschichten für Erwachsene'."
Die Nachgeborenen antworten
Adolf Berman kämpfte als bekennender Zionist im Ghetto-Aufstand und verdankte sein Überleben dem polnischen Katholiken Wladiyslaw Bartoszewski, dem späteren Solidarnosc-Aktivisten, Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels und polnischen Außenminister der 90er-Jahre.
Nach Kriegsende aber war Bartoszewski verhaftet worden – vom stalinistischen Sicherheitsdienst, dessen Politbüro-Chef kein anderer war als der stalingläubige Jakub Berman, der Bruder des zionistischen Adolf Berman.
Wie aber konnten Juden, die 1939 nach der Aufteilung Polens zu Tausenden in Stalins kasachische und sibirische Arbeitslager gekommen waren, nach ihrer Rückkehr dem neuen Gewaltregime huldigen? Es sind die Nachgeborenen, die nun antworten und Marci Shore aufs Band sprechen.
"Für die Generation meiner Eltern war die Entscheidung klar. Sie hieß: Der Gulag oder die Gaskammern. Und aus dem Gulag kamen die Leute zurück – zumindest jene, die Glück hatten... Wenn die Juden die Kommunisten akzeptierten, dann nur, weil die Kommunisten die Einzigen waren, die uns akzeptierten – für einige Zeit."
"Dennoch: Alles Gute an mir habe ich von meinen Eltern. Wenn ich mich mehr als zehn Jahre darum bemüht habe, das System niederzureißen, dass sie mit errichtet haben, dann nur wegen der Werte, die sie mir vermittelt haben."
Von Ideologie befreit
Eine schöne Pointe: Aus dem kommunistisch missbrauchten Wort der Solidarität wurde Anfang der 80er-Jahre die polnische "Solidarnosc", und was damals an der Danziger Lenin-Werft begann, fand sein glückliches Ende beim Berliner Mauerfall.
Nicht zuletzt jüngere polnisch-jüdische Dissidenten wie Adam Michnik und Alexander Smolnar waren in diesem Kampf engagiert, und Ältere wie Marek Edelman, einst der letzte Kommandant des Warschauer Ghetto-Aufstandes, waren an ihrer Seite.
Und heute? Im Warschau der Gegenwart trifft Marci Shore junge Leute, die davon überzeugt sind, dass sich Engagement trotz allem weiterhin lohnt. Sie haben gelernt, sich vor kollektivistischem Geist zu fürchten, vor großen Erzählungen, vor Welterklärungsmodellen. Sie befreiten sich von Ideologie, ohne ethische Werte aufzugeben, ohne dem Nihilismus zu verfallen.

Marci Shore: Der Geschmack von Asche
Das Nachleben des Totalitarismus in Osteuropa
C.H. Beck Verlag, München März 2014
376 Seiten, 24,95 Euro