Geschichte

Schluss mit schönen Mythen!

Blick auf Teile der britischen Universität Cambridge, wo Hans-Jörg Modlmayr Geschichte studierte.
Blick auf Teile der britischen Universität Cambridge, wo Hans-Jörg Modlmayr Geschichte studierte. © picture alliance / dpa / Chris Radburn
Von Hans-Jörg Modlmayr · 24.09.2014
Der Publizist und Historiker Hans-Jörg Modlmayr interessierte sich schon früh für mittelalterliche Schlachten und die Eroberungszüge des deutschen Kaisers. Später wurde er zum Grenzgänger zwischen der deutschen und der britischen Geschichtsforschung. An die Historiker von heute hat er eine klare Bitte.
Junge Menschen brauchen Mythen. Und wenn sie männlichen Geschlechts sind, dann brauchen sie Mythen mit siegreichen Helden. Als ich ein junger Mensch war, hat mich die Erzählkunst der großen deutschen Mittelalter-Historiker hingerissen, die mich heute oft an moderne "embedded"-Kriegsberichterstatter erinnern: als wären sie eingebettet in die ritterlichen Heere.
So war ich schon früh mittendrin etwa bei den periodisch-zwanghaften Italienzügen der deutschen Kaiser. Wenn ich las, wie ein Kaiser durch meine Heimatstadt Füssen am Fuße der Alpen gen Süden gezogen war, dann sprang ich gleichsam hinten aufs Pferd seines Chronisten und erlebte nun, virtuell, aus nächster Nähe mit, wie dieser mehr oder weniger erfolgreiche Kaiser in Italien kämpfte – für die Ehre des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation.
Bald aber verblasste der Glanz meiner historiografisch ins Mythische verklärten kaiserlichen Helden. Jetzt zog es mich, den leidenschaftlichen Briefmarkensammler, ins viktorianische Weltreich. Statt der kaiserlichen Kämpfer schlug mich nun die geheimnisvoll-magische Ästhetik des britischen Briefmarkenweltreichs in ihren Bann. Das "Herzstück" dieser modernen Heiligenbilder war die sehr junge, dann sehr sehr langsam Patina ansetzende Königin Victoria, die spätere Kaiserin von Indien.
Begegnung mit dem Politiker und Pädagogen Kurt Hahn
In der Moderne angekommen, schwang ich mich jetzt nicht mehr aufs erträumte Historiografenpferd, sondern sah mich ein Jahr vor dem Abitur während einer Tramp-Tour in England und Schottland um. Ich kam bis zum Cape of Wrath (dem Kap des Zorns) im äußersten Norden der Pikten. Auf dem Rückweg begegnete ich in Nordschottland Kurt Hahn, dem früheren Privatsekretär von Prinz Max von Baden, dem letzten Reichskanzler des letzten deutschen Kaisers. Kurt Hahn hatte vor dem Ersten Weltkrieg in Oxford studiert und in der Weimarer Republik unter dem Patronat von Max von Baden in Salem seine Reformschule gegründet.
Junge Menschen sollten lernen, Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen. Prinz Philip von Griechenland und Dänemark, der spätere Prinzgemahl von Elisabeth II., besuchte die Schule. Nach Hitlers Machtantritt ging Kurt Hahn mit Philip nach Schottland, wo er die neue Schule Gordonstoun gründete.
Als Geschichtsstudent kehrte ich vier Jahre später, 1963, nach Gordonstoun zurück, wo mittlerweile Philips Sohn Charles die Schulbank drückte. Für ein geschichtliches Oberseminar an der Universität Würzburg bei Ulrich Noack, dem mutigen Streiter gegen die Kalte-Krieg-Ideologie, machte ich mir vor Ort in Schottland ein Bild über die Umsetzung von Kurt Hahns Reformideen.
Geschichte von zwei Polen gesehen
Das Weberschiffchen meines Lebens bewegt sich seit dieser Zeit zwischen Großbritannien und Deutschland. Ich begann, Geschichte von zwei verschiedenen Polen her zu sehen. Mein Professor Ulrich Noack hatte Ende der zwanziger Jahre in Cambridge längere Zeit geforscht über den spätviktorianischen Historiker Lord Acton, den einflussreichen vehementen katholischen Gegner des Unfehlbarkeitsdogmas von Papst Pius IX. Mit Herbert Butterfield, dem späteren Professor of Modern History an der Universität Cambridge, hatte Noack damals eine Freundschaft geschlossen, die den Zweiten Weltkrieg überdauerte. Und durch diese beiden und ihre Freundschaft konnte ich dann in Cambridge Geschichte studieren.
Butterfield hatte 1931 mit seiner Streitschrift "The Whig Interpretation of History" das englische Historiker-Establishment schockiert: Es war ein gut begründeter Frontalangriff auf eine selbstgefällige Geschichtsschreibung, die von der Gewinnerseite her erzählt – die das als gleichsam gottgewollt ratifiziert und glorifiziert, was sich durchgesetzt hat, was erfolgreich war.
Schluss mit der Hofberichterstattung
Wenn jetzt in Göttingen die Historiker unter dem Motto "Gewinner und Verlierer" tagen – dann kann ich ihnen nur wünschen, dass sie sich gegenseitig helfen: dass sie sich ein für alle Mal vom Odium der Hofberichtserstattung befreien. Denn was wir heute brauchen, sind keine Mythen für unbedarft Gehaltene. Die machen einen nur "embedded", die führen in die Irre - wie wissenschaftlich sie auch immer verbrämt sein mögen.