Geschichte einer literarischen Institution

Rezensiert von Ralph Gerstenberg · 31.03.2013
Über zwei Jahrzehnte beherrschte die Gruppe 47 die literarischen Debatten in Deutschland. In seinem mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneten Buch beschreibt der Literaturkritiker Helmut Böttiger, wie die Autorenvereinigung entstand, welchen Einfluss sie hatte und von wem sie getragen wurde.
"Beschreibungsimpotenz" – dieser Vorwurf des 24-jährigen Peter Handke läutete das Ende eines Schriftstellerzirkels ein, der als Gruppe 47 über zwei Jahrzehnte die literarischen Debatten beherrschte. Die Kluft war unüberwindbar – zwischen der jungen Generation Peter Handkes oder gar Rolf-Dieter Brinkmanns und den Autoren, die Hans Werner Richter unter dem weit gesteckten Begriff eines "magischen Realismus" um sich scharte.

Die 68er kamen, die Gruppe 47 ging – und damit verabschiedete sich eine lose Autorenvereinigung, die immerhin so etwas wie den bundesdeutschen Literaturbetrieb, wie wir ihn heute kennen, erfunden hat, bemerkt Helmut Böttiger.

"Die Gruppe 47 hat den literarischen Markt für die Bundesrepublik definiert. Alles, was dort verhandelt wurde, was sich herausgebildet hat, dass Kritiker sich positionierten als wichtige Faktoren im Literaturbetrieb."

In seinem Buch zeigt Böttiger, wie innerhalb weniger Jahre aus den Treffen versprengter Nachkriegsautoren, die in Ermangelung öffentlicher Debatten ihre Texte im kleinen Kreis diskutierten, eine Institution wurde, die über Wohl und Weh von Autorenkarrieren entscheiden konnte.

Schonungslose Kritik auf dem "elektrischen Stuhl"
Der scharfe Debattierstil der Tagungen war legendär. Nicht umsonst wurde der Lesesessel als "elektrischer Stuhl" bezeichnet. Eine schonungslose kritische Auseinandersetzung mit Argumenten hatte der Initiator der Gruppe, Hans Werner Richter, in der amerikanischen Kriegsgefangenschaft kennengelernt.

"Das kannte man natürlich in der deutschen Sozialisation nicht, auch nicht in den ersten Jahren der Adenauerzeit. Man kannte nicht den offenen Austausch von Meinungen, das Prinzip Rede und Gegenrede, das Üben von Kritik, um auf einen Nenner, zu einem Ergebnis zu kommen. Und Kritik war extrem positiv besetzt. Das war für Hans Werner Richter der entscheidende Moment, dass man über literarische Texte kontrovers diskutiert hat. Von daher war das auch eine Einübung in demokratische Spielregeln. Es war automatisch so etwas wie eine atmosphärische Opposition in der Adenauerzeit, obwohl man zunächst nur über Literatur sprach."

Wer hier durchkam, wurde anschließend medial gepusht – wie Ingeborg Bachmann, die als "Covergirl" die Titelseite des "Spiegel" füllte, oder Hans Magnus Enzensberger, der das Spiel auf der Medienklaviatur in virtuose Gefilde trieb.

Was diese Autoren einte, war die Suche nach einem neuen, zeitgemäßen Ausdruck, nach einer Sprache, befreit von dem ästhetischen Ballast der Vergangenheit.

Der Literaturkritiker Helmut Böttiger während der Leipziger Buchmesse 2013.
Helmut Böttiger bei der Leipziger Buchmesse 2013© Deutschlandradio - Bettina Straub
Sensationell: Der Auftritt von Günter Grass
Die alten Hüte hatten ausgedient. Sogar buchstäblich. Als bei einer Geldsammelaktion auf einer Tagung ein Hut benötigt wurde, stellte man fest, dass keiner der anwesenden Herren über eine solche Kopfbedeckung verfügte. Dafür standen Pfeifen hoch im Kurs. Die berühmteste schmauchte Günter Grass, dessen "Blechtrommel" 1958 als Sensation gefeiert wurde.

"Der Auftritt von Günter Grass 1958 ist tatsächlich eine ganz entscheidende Weichenstellung für die Gruppe 47 gewesen. Da trat zum ersten Mal diese Gruppe als eine wichtige literarische Institution in die Öffentlichkeit. Die Lesung aus der ‚Blechtrommel‘ wirkte wie ein Befreiungsschlag, wie eine anarchische Sprachlust, die in diesen Mief hineinstieß und plötzlich den Zugang zur westlichen Moderne schaffte, zur Gegenwart schaffte. Das war wie ein Luftholen, dass es auch in der Bundesrepublik Schreibweisen geben konnte, die auf der Höhe der Zeit waren."

In Helmut Böttigers Buch über die Gruppe 47 kann man sehr gut nachvollziehen, wie spätestens in den 60er-Jahren die Idee in den Hintergrund trat, mit neuen literarischen Texten Debatten zu entfachen, sich über ästhetische Fragen und Schreibansätze auszutauschen.

Stattdessen gerieten die Autorenlesungen zu Inszenierungen im Scheinwerferlicht, die das Ziel verfolgten, den eigenen Marktwert zu erhöhen. Der repräsentative Charakter der Vereinigung zog den Spott der aufmüpfigen Studentenschaft auf sich. Längst hatte sich die Gruppe 47 von der intellektuellen Opposition zum kulturellen Establishment entwickelt, zum Popanz, gegen den es zu rebellieren galt.

Atmosphärisch dichtes Porträt der Gesellschaft
Auf ihrer letzten Tagung 1967 in der oberfränkischen Pulvermühle wurden die Schriftsteller von einer Erlanger Studentengruppe als "Papiertiger" und "Dichtergreise" beschimpft.

"Die Gruppe 47 war ein Machtfaktor geworden. Diese politischen Debatten um die Frage: Ist man jetzt immer noch für die Sozialdemokratie, steht man links von der SPD, sympathisiert man mit den 68er-Studenten? Das spielte in diese Diskussion mit hinein, aber entscheidend war, dass die Gruppe 47 damals als Institution nicht mehr der Gegenwart der Bundesrepublik entsprach."

Chronologisch, mit Aussagen von Zeitzeugen und interessantem Archivmaterial, beschreibt der Literaturkritiker Helmut Böttiger, wie die Gruppe 47 entstand, welchen Einfluss sie hatte und von wem sie getragen wurde.

Besonders in den Kapiteln über die Literaturlandschaft der Nachkriegszeit gelingt ihm das atmosphärisch dichte Porträt einer Gesellschaft, die einen Neuanfang blockiert, weil sie verdrängt, sich selbst rechtfertigt und ungebrochen einem fragwürdigen Patriotismus anhängt. Detailreich schildert er die jeweiligen Gruppentreffen und reflektiert eingehend ihre Bedeutung für die Gesamtentwicklung der Gruppe 47.

Nicht immer, vor allem nicht bei manchen seiner Autorenporträts, gelingt es Helmut Böttiger, den Versuchungen der Materialfülle zu widerstehen. Dennoch hält er die dramaturgischen Zügel fest im Griff und zeigt anschaulich, wie sich die Rolle des Intellektuellen von der Nachkriegszeit bis 1968 veränderte. So gelingt ihm eine lesenswerte Darstellung einer spannenden Ära bundesdeutscher Literaturgeschichte.

Helmut Böttiger: Die Gruppe 47
Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb
Deutsche Verlagsanstalt (DVA)
480 Seiten, 24,99 Euro, als eBook 19,99 Euro
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