Geschichte einer Emigration

28.01.2010
Erfreulich wenig ist in der Autobiografie der Schauspielerin Maria Becker von den üblichen Theater-Geschichten die Rede. Vielmehr geht es in ihrem Buch um ihre Flucht vor den Nazis über England in die Schweiz - und um die Erfahrung einer dramatisch unglücklichen Kindheit.
Skepsis war angebracht – was würde sie denn wohl noch zu erzählen haben, die Schauspielerin Maria Becker, geboren am 28. Januar 1920 in Berlin und in den 50er- und 60er-Jahren eine der ganz besonders prägenden Persönlichkeiten im deutschsprachigen Theater? Allzu lange schon schien sie der Bühne, ihrem beruflichen Lebensraum, fremd, ja sehr fremd geworden zu sein. Oder das Theater selber wurde ihr fremd und unbegreiflich. Nein – Maria Beckers Autobiografie mit dem wirklich schönen langen Titel "Schließlich ist man doch jeden Abend ein anderer Mensch" liest sich mit viel Gewinn. Und das auch aus Gründen, die weit über die Bilanz einer großen Karriere hinaus weisen.

Zum einen nämlich ist dies eine bewegende Emigranten-Geschichte – Maria Beckers Mutter ist die (nach den Gesetzen des deutschen Nationalsozialismus) jüdische Schauspielerin Maria Fein; der Vater ist Theodor Becker, ebenfalls Schauspieler und als solcher in Mannheim, Dresden, Berlin und vor allem in Hannover ein bekennender Parteigänger der Nazi-Barbarei. Großmutter, Mutter und Tochter erleben in Berlin das Anschwellen der "Bewegung"; und als Tochter Maria, aus der Schule und dem Gespräch mit jüdischen Freundinnen kommend, stolz verkündet "Wir sind Juden! Wir sind Juden!" (was für das Kind vorher völlig unerheblich war), ist es fast schon zu spät. Mutter Fein darf nicht mehr arbeiten am Deutschen Theater; Wien scheint sicherer zu sein - aber 1938 in Wien, die Mutter im Engagement, die Tochter in der Ausbildung am legendären Reinhardt-Seminar, müssen sie dem von den Wienern jubelnd begrüßten "Anschluss" Österreichs zuschauen. Von dort aus gelingt ihnen dann auf verschiedenen Wegen rechtzeitig die Flucht.

Die noch sehr junge Maria gelangt kurz nach England und dann schnell in die Schweiz, wo sie in Zürich zum einzigartigen Ensemble des Schauspielhauses stößt – es ist die einzige große Bühne, auf der noch deutsch und frei gesprochen werden kann in diesen Jahren. Beckers Haus in Zürich wird zum Treff- und Schnittpunkt verschiedenster Wege der Emigration; und die heute 90-Jährige weiß davon erstaunlich sachlich und uneitel, knapp und konzentriert zu erzählen – und immerhin hat sie von unterschiedlich intensiven Begegnungen mit Bertolt Brecht und Therese Giehse, Leonhard Steckel, Ernst Ginsberg, Karl Paryla und so vielen anderen zu erzählen, die nur noch hier, in der Schweiz, ihrem Beruf nachgehen konnten. In einem Land, dessen bürgerliche Grundstimmung übrigens überhaupt nicht freundlich war den Fremden gegenüber, den "Usswärtigen", und die dieses ganze "Juden- und Kommunistentheater" am "Pfauen" in Zürich eigentlich gar nicht gut leiden konnte. Eine der hinreißendsten Miniaturen handelt von den Tagen, als die halbe Schweiz (in Erwartung des Einmarsches der Deutschen) quasi auf gekappten Koffern sitzt – und der bürgerlich-faschistoide Stammtisch-Ton auch in Zürich herrscht.

Maria Becker ist im übrigen eine ziemlich unbestechliche Zeitzeugin, auch SchicksalsgenossInnen gegenüber – alles und noch ein bisschen scheint sie für die Mit-Flüchtlinge getan zu haben; ohne aber die offenbar angeborene Skepsis gegenüber den damals gängigen Welterlösungstheorien zugänglich zu sein. Auch ihr Herz schlägt tendenziell links – aber dem Rat der Freundin Therese Giehse, sich nie Parteien anzuschließen, schon gar nicht solchen mit Unfehlbarkeitsanspruch, folgt sie aus natürlichem Instinkt.

Das alles, diese spezielle und persönliche Form von Unbeirrbarkeit, hat - dies ist der zweite eindrucksvolle Hauptstrom des Buches - offenkundig mit der Erfahrung einer dramatisch unglücklichen Kindheit zu tun.

Jung-Mädchen-Glück gibt's für die junge Maria erst auf einem Internat auf der Nordseeinsel Juist, dem "Haus am Meer", das der pädagogische Reformer Martin Luserke einige Jahre lang betreibt, bis die Nazis auch dieses Experiment beenden. Ihre Söhne Christoph und Tobias schickt Maria Becker übrigens später auf ein Internat in England – ein Glück für Tobias, der später ebenfalls Schauspieler und ein gefragter Dokumentar-Regisseur wird. Ein Desaster für Christoph, den Erstgeborenen, der sich mit 20 Jahren 1966 das Leben nimmt. Die Mutter hat am Tag darauf einen Gastspiel-Auftritt in Erlangen – und spielt.

Wie sich überhaupt das Ethos der Theaterberufe ziemlich gnadenlos fortzupflanzen pflegt – unterschwellig, sicher eher ohne Zutun der Autorin, markiert Beckers Buch die Zwanghaftigkeit von Familien-Biografien im Theaterbetrieb. Natürlich sind auch sie und Ehemann Robert Freitag geschieden; wenn auch erst nach 19 Jahren, später als die Eltern – aber vor dem Freitod des Sohnes. Maria Becker lässt ahnen, dass sie ein persönliches Gefühl von Schuld nicht leugnen kann. Sachlich und kühl kann Maria Becker auch vom Unglück erzählen, auch vom eigenen …

Erfreulich wenig (und auch erst im zweiten Teil des Buches) ist von den üblichen Theater-Geschichten die Rede – wer wann mit wem was wie toll inszeniert hat. Klar bleibt aber immer, dass sie Goethes "Iphigenie", Kleists "Penthesilea" oder Schillers "Jungfrau" in ganz konventioneller Weise zugetan blieb; und es dem Theater schon ein bisschen übel nahm, dass sie zum Schluss Texte von Esther Vilar spielen musste – oder, wie vom Züricher Schauspielhaus-Gerd Leo Kuck Ende der 80er-Jahre, plötzlich gar nichts mehr angeboten bekam.

Ein starkes Stück biografischen Schreibens – das nebenbei auch das Erinnern selbst thematisiert: Was speichert das Hirn über so viele Jahre, und was lieber nicht … In der Züricher Zollikerstraße wohnt eine heute 90 Jahre alte Schauspielerin, die da ihrerseits gut auszuwählen wusste.

Besprochen von Michael Laages

Maria Becker: Schließlich ist man doch jeden Abend ein anderer Mensch – Mein Leben
Pendo Verlag, München 2009
288 Seiten,19,95 Euro