Geschäftsprinzip Angst

Andreas Ulrich im Gespräch mit Katrin Heise · 06.09.2011
Drogen- und Waffenhandel gehören zu den Einnahmequellen der italienischen 'Ndrangheta, deren Mitglieder auch hierzulande gut vernetzt sind. Neben einem Wertekanon von Blut und Ehre, sei vor allem ihre Unauffälligkeit typisch, so der Publizist Andreas Ulrich. Ende August erschien das Buch "Metastasen: Ein Kronzeuge der 'Ndrangheta enthüllt die Geheimnisse des größten Familienunternehmens der Welt" von Gianluigi Nuzzi und Claudio Antonelli, zu dem Ulrich ein Kapitel beigetragen hat.
Katrin Heise: Wo es Pizza gibt, ist auch die Mafia zu Hause. Das Ruhrgebiet sei eine Hochburg der kalabrischen Mafia. Das las man im Jahr 2007 von einem früheren Auftragskiller und Kronzeugen der italienischen Polizei. In Duisburg waren sechs Menschen getötet worden und hatten die 'Ndrangheta sozusagen ins Visier auch der deutschen Ermittler gebracht. Der Journalist und "Spiegel"-Redakteur Andreas Ulrich, der hat sich schon vor Jahren in seinem Buch "Das Engelsgesicht - die Geschichte eines Mafiakillers aus Deutschland" mit der Mafia in Deutschland beschäftigt. Ich grüße Sie, Herr Ulrich!

Andreas Ulrich: Guten Morgen!

Heise: Schönen guten Tag! "Und mitten unter uns", so heißt nun das Kapitel, das Sie in dem gerade erschienenen Buch "Metastasen" über die 'Ndrangheta geschrieben haben. Der Klappentext spricht von Dependancen der 'Ndrangheta in Krefeld und in Erlangen beispielsweise. Wie massiv ist Deutschland tatsächlich Sitz dieser kalabrischen Mafia?

Ulrich: Also, ich glaube, dass Deutschland als eines der reichsten Länder der EU auch ein Land ist, in dem die Mafia, die kalabrische 'Ndrangheta, seit vielen, vielen Jahren – seit 20 oder 30 Jahren – fest verwurzelt ist, und bundesweit ihre Filialen hat.

Heise: Welches sind die Betätigungsfelder der deutschen 'Ndrangheta-Zellen, welche Aufgaben haben die?

Ulrich: Zunächst einmal muss man, glaube ich, sagen, dass die 'Ndrangheta in Deutschland nicht wie in Italien ganze Territorien beherrscht und die Politik. Aber sie hat natürlich hier ihre Filialen, und die Deliktfelder sind in erster Linie, glaube ich, der Drogengroßhandel quasi, der Import von Kokain, Steuerbetrug, Abgabenhinterziehung, Waffenhandel, PKW-Verschiebung, ich glaube, das sind so in groben Zügen ...

Heise: Wahrscheinlich auch Geldwäsche?

Ulrich: Unbedingt, ja. Das gehört dazu. Denn wenn man so viel Geld verdient – und die 'Ndrangheta soll im Jahr nach italienischen offiziellen Schätzungen rund 44 Milliarden Euro umsetzen –, der muss ja auch sehen, wo das Geld bleibt.

Heise: Denn das kann man ja nicht einfach so bei der Steuer angeben, da würde es einem ja weggenommen werden. Sie schildern eine Festnahme in Deutschland, in Singen. Dort wurde im Sommer 2010 ein gewisser Bruno Nesci festgenommen. Nach Einschätzungen der italienischen Polizei war er eventuell für ganz Deutschland zuständig. Er lebte aber völlig unauffällig als Fabrikarbeiter. Ist das typisch für die 'Ndrangheta in Deutschland, diese Art der Tarnung, also so als Fabrikarbeiter, als Kellner, als kleinerer Kellner in irgendeinem Lokal?

Ulrich: Ja. Unauffälligkeit – das haben sie mitgebracht aus der Heimat. Die 'Ndrangheta nimmt ja für sich in Anspruch, quasi Herrscher Kalabriens zu sein. Und sie hat ja zunächst über viele, viele Jahre Schutzgeld kassiert und im Grunde genommen ihr Territorium, ihre örtliche Region beherrscht, und war da – und ist bis heute zum Teil – mächtiger als der italienische Staat. Und dazu gehört es durchaus auch, dass man nicht allzu protzig auftritt, um seinen Machtanspruch nicht zu gefährden, um sozusagen zu zeigen, wir sind einer von euch. Und diese Unauffälligkeit haben sie auch in Deutschland beibehalten, ich denke, daran hat sich einfach nichts geändert. Wobei man – wenn ich Sie korrigieren darf –, Nesci war in Italien festgenommen worden, in Rossano, zusammen ...

Heise: ... aber galt als jemand in Deutschland ...

Ulrich: Ja, der war in Singen, der war hier einer der ganz großen Bosse, zusammen mit einem Mann aus Frankfurt, der dann ein Jahr später festgenommen wurde, und einem Schweizer. Also, die sogenannten Lokale, die Filialbetriebe der Mafia, die sind über ganz Deutschland verteilt.

Heise: Diese Unauffälligkeit – die lassen sich ja nicht einmal eine Geschwindigkeitsübertretung zuschulden kommen –, die macht es der Polizei natürlich schwer, auf sie aufmerksam zu werden.

Ulrich: Das ist richtig, zumal sie ja mittlerweile – die 'Ndrangheta hat sich in den letzten Jahren sehr verändert, sie ist quasi von einem Verband von so sehr bäuerlichen Familienclans zu einem weltweiten Konzern geworden – sich auch beraten lassen, was man machen kann, wie man es macht, wie man Geld wäscht, wie man Geld anlegt. Da haben die mittlerweile ein hohes Maß an Professionalität erreicht.

Heise: Wie gefährlich ist die 'Ndrangheta tatsächlich in Deutschland?

Ulrich: Das lässt sich, glaube ich, nur schwer ausmachen, denn Duisburg, der Mord, beziehungsweise der Sechsfachmord war ein Ausnahmefall. Die 'Ndrangheta zieht hier im Untergrund die Fäden. Sie agiert hier, aber sie wird hier nicht per se kriminell. Ich weiß nicht, wie es sein würde, wenn bestimmte Strukturen ihnen in die Quere kämen, nicht? Aber ich glaube, die oberste Priorität ist: Ruhe bewahren, hier nicht auffallen, eintauchen in die Bevölkerung – und das macht sie mit einer unglaublichen Fähigkeit. Die Italiener haben einfach diese Fähigkeit als unglaublich nette, gastfreundliche Menschen zu wirken und trotzdem ihre Geschäfte zu machen, und das erschreckt mich auch immer wieder bei den Reisen in Italien, wie nahe die Schönheit und die Brutalität da beieinander sind.

Heise: Ist die Gefährlichkeit vor allem eine Gefährlichkeit dann vielleicht für italienische Mitbürger oder italienischstämmige Mitbürger in Deutschland, also für Pizzerienbesitzer beispielsweise?

Ulrich: Die Italiener waren natürlich – die einfachen, die anständigen Italiener, die Gastarbeiter –, haben ja den Boden bereitet für die 'Ndrangheta.

Heise: Inwiefern?

Ulrich: Insoweit, als sie hier ihre Arbeit aufgenommen haben, Wohnungen hatten, vielleicht sogar einige kleine Lokale eröffnet hatten und damit den Rückzugsraum geschaffen haben. Denn wenn plötzlich der Verwandte aus Italien vor der Tür stand, konnte man den nicht nach Hause schicken. Und in diese Strukturen ist die 'Ndrangheta dann später eingesickert, und ja, hat sich da breitgemacht.

Heise: Über die Verbreitung der 'Ndrangheta, der Mafia aus Kalabrien in Deutschland, spreche ich mit dem Journalisten und Buchautor Andreas Ulrich. Herr Ulrich, wie ist eigentlich der Stand der deutschen Polizei? Sie zitieren in Ihrem Buch mehrfach aus BKA-Berichten vom Bundeskriminalamt, also da scheint man dann ja doch informiert zu sein über die Strukturen – Sie sagen immer Lokale, das sind eben die Dependancen der 'Ndrangheta. Weiß man das alles eigentlich?

Ulrich: Also, zu einem Teil sind diese Strukturen bekannt. Zum einen gab es einige Kronzeugen, die detaillierte Angaben gemacht haben über ihre jeweiligen Clans in Deutschland. Zum anderen hat spätestens nach Duisburg die deutsch-italienische Task Force – das ist eine gemeinsame Ermittlungseinheit oder ein Informationspool von Italienern und deutschen Ermittlern – einiges an neuen Erkenntnissen gebracht. Aber ich kann nur sagen, dass ich mich selbst wundere, wie wenig dann diese doch ganz guten Erkenntnisse der deutschen Polizei in effektive Ermittlungsverfahren einmünden.

Heise: Woran liegt das?

Ulrich: Das versuche ich auch schon seit geraumer Zeit zu ergründen. Ich glaube, diese Ermittlungsverfahren sind ausgesprochen schwierig, weil sie ein hohes Maß an Personal und an technischen Möglichkeiten erfordern. Darüber hinaus besteht glaube ich auch auf politischer Ebene nicht unbedingt der Wille, da ein Fass aufzumachen, das man möglicherweise schwer wieder schließen kann. Wir haben ja nicht nur die italienische Mafia in Deutschland, wir haben auch noch russische, albanische, türkische und chinesische und so weiter Formen organisierter Kriminalität, und ich glaube, solange die Ruhe geben, ist man auch ganz froh, wenn der Deckel oben drauf bleibt.

Heise: Was ist eigentlich tatsächlich der Kitt, der auch in Deutschland die Männer, die Familien ja eigentlich an diese Mafia kettet?

Ulrich: Also, ich glaube, das Geschäftsprinzip aller mafiotischen, mafiösen Gemeinschaften ist immer die Angst, speziell aber bei der 'Ndrangheta sind es immer die Familienbande, und ein ...

Heise: Auch hier in Deutschland? Das wirkt bis hier in Deutschland?

Ulrich: ... auch in Deutschland. Ja, das ist völlig archaische Organisationsstruktur. Es geht immer um Blut und Ehre. Das sind die Begriffe, die immer wieder vorkommen. Die 'Ndrangheta hat einerseits quasi religiöse Bestandteile in ihren ganzen Beschwörungsritualen und Formeln, und auf der anderen Seite sucht man sich sehr genau immer Familienmitglieder aus. Der Süden ist da sicherlich noch deutlich mehr familiär geprägt als der Norden, und da niemand sein Blut beschmutzen möchte, das Blut der Familie, wird geschwiegen. Also, die Omerta klappt wunderbar, ich kann Ihnen das in einer Zahl deutlich machen: Es gab bei der 'Ndrangheta bisher 41 sogenannte Pentiti, Kronzeugen, ...

Heise: 41?

Ulrich: ... 41 – bei der Cosa Nostra waren es 1.000, und bei der Camorra 2.000.

Heise: Na, da scheinen die Bande ja dann doch wirklich etwas fester noch zu sein. Sie haben ein Buch geschrieben – das habe ich vorhin kurz erwähnt – über einen Kronzeugen gegen die Mafia, jetzt das Buch "Metastasen" von zwei italienischen Journalisten, da haben Sie ein Kapitel zugefügt, das handelt auch von einem – also dieses Buch "Metastasen" –, der sein Schweigen bricht. Wie kommt es dann dazu, dass man das Schweigen, den Schwur eben doch brechen wird? Oder was kann man da auch unterstützend machen als Staat, als Polizei?

Ulrich: Als Staat und Polizei, glaube ich, der italienische Staat müsste erst mal anfangen, in Kalabrien präsent zu sein und eine Alternative zur Mafia zu sein. Die ganzen Behörden und Strukturen funktionieren dort einfach nicht. In diese Lücke dringt die 'Ndrangheta ein. Kronzeugen zu gewinnen, funktioniert glaube ich immer dann, wenn es entweder eine besondere persönliche Erfahrung gibt, oder aber, ja, die Leute mit dem Rücken zur Wand stehen und am Ende dann doch lieber aussagen als ins Gefängnis zu gehen.

Heise: Kann man da in Deutschland was machen, denn wir sprechen ja jetzt über die deutsche Dependance der 'Ndrangheta?

Ulrich: Nicola Gratteri - ein Staatsanwalt aus der Reggio Calabria - hat den Deutschen immer wieder vorgeworfen, sie würden zu lasch sein bei der Mafia, das wirft er auch allen anderen europäischen Ermittlern vor. Hier würden allein schon die Rechtsgrundlagen gar nicht ausreichen. Wir haben keine Kronzeugenregelung, die ganzen Maßgaben zur Telefonüberwachung sind viel zu stringent – in Italien läuft sehr viel darüber –, und auch in Sachen Geldwäsche ist Deutschland lange nicht in der Lage, wie Italien etwa entsprechend auf Vermögen zuzugreifen.

Heise: Und so kann es weitergehen mit dem Vormarsch der 'Ndrangheta-Mafiosi in Deutschland. Ich sprach darüber mit dem Journalisten Andreas Ulrich. In dem kürzlich veröffentlichen Buch "Metastasen" hat er genau darüber ein Kapitel eingefügt. Herr Ulrich, danke schön für das Gespräch!

Ulrich: Bitte, gern!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Links bei dradio.de:

Europa heute: Prozess um Mafia-Morde in Duisburg beginnt
Das italienische San Luca blickt gebannt auf das Verfahren (DLF)

Kultur heute: Mafiabücher in einer Mafiahochburg
Ein Literaturfestival im kalabresischen Lamezia Terme (DLF)

Sport: Von Geldwäsche bis Wettbetrug
Die Mafia im italienischen Fußball (DLF)
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