Gesamtschau zu NS-Verbrechen

Von Jens Rosbach · 12.10.2006
In Leipzig soll ein deutsches Holocaust-Museum gebaut werden. Mit dieser Nachricht überraschte eine kleine Privatinitiative die Öffentlichkeit. Die Stadt Leipzig will auf ihrem alten Messegelände ein Gründstück für das Projekt zur Verfügung stellen. Doch in der etablierten Gedenkstätten-Szene stößt das Vorhaben auf Skepsis.
Das Holocaust-Museum will einen Gesamtüberblick über Entstehung und Verbrechen des Nationalsozialismus geben. Der Initiator des Projekts, Hans-Jürgen Häßler, erklärt, bislang seien in Deutschland immer nur Teilbereiche der NS-Verfolgung dokumentiert worden.

"Was wir vorhaben ist, alle Opfergruppen darzustellen. Einmal in einer Gesamtschau alles zu zeigen, wer alles verfolgt worden ist. Wir haben ja sonst immer nur einzelne Gruppen, die dargestellt werden und viele sind ja auch vergessen und gar nicht so im Bewusstsein. Zum Beispiel die Homosexuellen oder die Euthanasie-Opfer, die so genannten, und die so genannten Asozialen und dergleichen."

Weitere Themen, die das Museum aufgreifen will: das Nazi-Regime in den besetzten Ländern, die Propaganda der NSDAP und den Aufbau der Hitlerjugend.

"Wenn Sie sehen, die ganze Täterszene, die wird ja überwiegend auch verkürzt dargestellt. Wir wollen weiter gehen und sagen: Wie sieht das aus in den Kulturbereichen, Literaturwissenschaften, Theaterwissenschaften. Wenn Sie da die Schriften lesen, dann ist das ja zum Teil auch stark antisemitisch. Und grad auch die Wissenschaften und die Eliten haben ja da mitgewirkt."

Häßler engagiert sich bereits seit zehn Jahren für ein Holocaust-Museum. Der 67-jährige Pensionär arbeitete früher als Archäologe, unter anderem im Niedersächsischen Landesmuseum. In seiner Jugend war der Hannoveraner in der Friedensbewegung aktiv, demonstrierte gegen SS-20 und Cruise Missiles. Was Krieg bedeute, habe er selbst noch erlebt, erklärt Häßler: als Fünfjähriger bei der Bombardierung seiner Heimatstadt in Sachsen.

"Das ist ja auch unser Anliegen damit, wenn wir sagen, gut wir stellen jetzt auch dar, die Folgen für die eigene Bevölkerung. Es hätte ja keine Bombardierung gegeben, wenn es keinen Angriffskrieg gegeben hätte. Und genau so keine Vertreibung, wenn nicht vorher Deutsche, Sudetendeutsche, Tschechen vertrieben hätten oder Polen. Wer die Aggression anfängt, darf sich nicht wundern, wenn die dann zurück schlägt."

Laut Häßler will das neue Holocaust-Museum nicht mit den etablierten Gedenkstätten Sachsenhausen, Buchenwald und Dachau konkurrieren. Es gehe vielmehr darum, deren Regional-Dokumentationen durch eine Zentral-Schau zu ergänzen. Doch an den Erinnerungsorten ist man skeptisch. Günter Morsch, der Leiter der brandenburgischen Gedenkstätte Sachsenhausen, hält nichts von einem Zentral-Museum.

"Mir persönlich ist es viel lieber, wenn in Essen im Folkwangmuseum beziehungsweise im Ruhrlandmuseum dort das Thema Nationalsozialismus im Ruhrgebiet thematisiert wird. Wenn in München im Historischen Museum dort das Thema ‚Der Nationalsozialismus in München’ thematisiert wird. Die Gefahr, dass ein solches zentrales Holocaust-Museum diese dezentrale, gewachsene deutsche Erinnerungskultur, die ja immer mit einer besonderen Verantwortung auch der deutschen Gesellschaft einhergeht, entlastet, und sozusagen auf einen zentralen Ort abschiebt, diese Gefahr ist sehr groß. Mir ist wichtiger, dass die Kinder und Jugendlichen vor Ort lernen, dass die Verbrechen eben nicht im fernen Berlin verübt worden sind von einem Diktator, sondern dass ein großer Teil der Massen an diesen Verbrechen beteiligt war."

Für Historiker Morsch sind die Gedenkstätten an den ehemaligen Konzentrationslagern "authentische Orte der Erinnerung". Ein Holocaust-Museum dagegen an einem "künstlichen Ort" könne niemals so anschaulich Geschichte dokumentieren.

"90 Prozent der verfolgten Menschen an diesen Orten sind Ausländer. Das heißt, wenn ein Norweger nach Deutschland kommt, dann ist für ihn Sachsenhausen auch als Teil der norwegischen Geschichte wichtig, weil zum Beispiel fast alle Nachkriegskabinette Norwegens aus Menschen bestanden haben, die vorher im KZ Sachsenhausen waren. Das heißt, diese Orte haben sich in das Bewusstsein und das europäische und Welt-Gedächtnis eingegraben - sie sind ja nicht nur Orte der Deutschen."

Ähnliche Bedenken äußern die Stiftung "Topografie des Terrors" und die Stiftung "Denkmal für die ermordeten Juden" in Berlin. Museums-Initiator Häßler kennt die Vorbehalte der Gedenkstättenleiter.

"Wobei die Vorbehalte weniger aus inhaltlichen Gründen bestehen, sondern einfach aus Überlegungen und Ängsten – und das darf natürlich nicht passieren – dass, wenn die Bundesregierung so ein Haus unterstützt, dann eben die Mittel gekürzt werden. Darum haben wir ja jetzt auch gesagt, gut wir versuchen das privatrechtlich zu errichten ohne staatliche Gelder. Dann ist diese Angst der Gedenkstätten eigentlich… müsste genommen sein."

Der Bundestag hatte sich bereits Ende der 90er Jahre gegen ein zentrales Museum ausgesprochen; auch von der jetzigen Bundesregierung gibt es bislang keine Unterstützung für das Projekt in Leipzig. Dennoch ist Häßler mit seiner Initiative nicht allein. Viele Prominente machen für seine Museumsstiftung Werbung - wie Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass, Filmemacher Wim Wenders und die Sozialdemokratin und frühere Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin. Ex-Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, CDU, erhofft sich von dem Projekt neue Impulse für die Geschichtsaufarbeitung.

"So gehört für mich heute auch dazu, in ein solches Museum einzubeziehen diejenigen, die Widerstand geleistet haben, um deutlich zu machen: Widerstand ist möglich, ist auch unter den brutalen Kontrollsystemen des damaligen Systems möglich gewesen."

Die Museums-Initiatoren suchen nun finanzstarke Sponsoren. Der Bau könnte bis zu 40 Millionen Euro kosten, sagen die Planer. Die Leipziger Kulturverwaltung geht davon aus, dass – sollte das Geld zusammenkommen – das Museum frühestens in sieben oder acht Jahren fertig ist.