German Psycho

Empörung statt Augenmaß

Deutsche Fahne und Ball hinter einem Fenster
Deutsche Fahne und Ball hinter einem Fenster © imago / Westend61
Von Christian Schüle · 15.12.2015
Die derzeitige Atmosphäre in unserer Republik ist hoch neurotisch in Bezug auf den Umgang mit denen, die Ängste gegenüber Flüchtlingen formulieren, meint der Philosoph und Schriftsteller Christian Schüle. Er vermisst eine profunde und sachliche Auseinandersetzung im Rahmen demokratischer Grundregeln.
Die Bundesrepublik, die seit 1945 mit allem Recht stolz auf die Entkopplung von Politik und Moral war, ist diesertage ein Land, in dem das Moralische zur vorherrschenden Ressource politischen Handelns geworden ist. Die zunehmende Emotionalisierung des Politischen durch die Inszenierung von Entrüstung, Empörung, kalkulierten Eklats und symbolischen Gesten verhindert jene praktische Vernunft, die, mit Blick auf das Wohl der Gesamtheit, mittels Diskussion, Öffentlichkeit und Erkenntnisinteresse für die besten Argumente und Problemlösungen ficht.
Es geht heute nicht mehr um Augenmaß, Angemessenheit und das Bohren dicker Bretter; es geht um den Funkenschlag einer oft fahrlässigen Entzündung. Daumen hoch, Daumen runter. Wer hat wen geschlagen? Seehofer Merkel? Merkel Seehofer? Wer hat versagt, wer ist der Loser?
Deutschland - derzeit zutiefst gestört
Ach, wie zutiefst gestört doch unser gegenwärtiges Deutschland ist!
Wer heute Zweifel äußert, Gesellschaft und Wirtschaft könnten die Flüchtlingsherausforderung mir nichts dir nichts bewältigen, ist im öffentlichen Juste-Milieu sofort rechts. Wer Probleme hat, mit plötzlich hereinbrechender Fremdheit locker umzugehen, ist postwendend Rassist. Wer überzeugt ist, Europa nur mit Grenzschutz und Transitzonen kontrollieren zu können, wird als Unmensch in die Nähe von KZ-Wächtern gerückt.
Deutschland 2015 ist eine Selbstbezichtigungs-Republik, deren mediale und politische Eliten in geradezu neurotischer Eilfertigkeit – übrigens zur Verblüffung vieler Beobachter im Ausland – die heftigsten Geschütze gegen sich richten, die man überhaupt auffahren kann.
SS, Wehrmacht, Gestapo, Nazi-pipapo: Täglich hitlert es überall
Vizekanzler Gabriel vergleicht Pegida mit den Nazis in der Weimarer Republik. Pegida-Wortführer Bachmann vergleicht Bundesjustizminister Heiko Maas mit Goebbels. Pegida-Demonstranten zeigen Angela Merkel in Hitlermontur, und der mittlerweile geächtete Autor Pirincci spricht über KZs, in die man solche wie ihn am liebsten stecken würde. SS, Wehrmacht, Gestapo, Nazi-pipapo – man kann den allseitigen Irrsinn kaum fassen.
Täglich hitlert es durch alle großen deutschen Zeitungen, das öffentlich-rechtliche Fernsehen betreibt quotengeiles Nazi-Entertainment, der inflationierte "Nazi-Faktor" im Kulturbetrieb wird zum Züchtigungsinstrument einer öffentlichen Politmoral, die zu kritisieren sehr rasch den Vorwurf faschistischer Gesinnung nach sich ziehen könnte.
Aber: Sind jene historischen Analogien geschichtswissenschaftlich einwandfrei? Ist das moralisch edel, demokratietheoretisch klug und sittlich angebracht? Entweder wir unterstellen dem Menschen an sich – also jedem Einzelnen – grundsätzlich Mündigkeit und Rationalität, dann gilt das auch für jene, die den Rechthabern nicht passen.
Oder wir selektieren auf der Basis von Vor-Verurteilungen und können somit den Anspruch auf universelle Vernunft aufgeben, weil er dann nur für diejenigen gilt, die die angeblich "richtige" Weltanschauung besitzen.
Meinung und Debatte, auch, wenn es weh tut
Das Narrativ einer ideologisch frisierten Moral befördert freilich Doppel-Moral: Die Ängste der Bürger vor dem Handelsabkommen TTIP zum Beispiel sollen unbedingt ernst genommen werden, die Ängste der Bürger vor massenhafter Konfrontation mit dem kulturell Fremden aber bitte nicht. Im ersten Fall herrscht moralisch guter Geist, im zweiten sieht man bereits den Ungeist des völkischen Rassismus walten.
Haben wir unter Demokratie nicht verstanden, dass Meinungsfreiheit auch für hässliche Meinungen gilt? Im Sinne einer aufgeklärten Demokratie tolerant ist doch aber der, der die andere Meinung hört und anerkennt, auch wenn sie seiner zutiefst zuwider läuft. Zivilisiert ist doch aber der, der auch das Gegenteil seiner Weltsicht gelten lässt, weil bekanntlich nichts ohne sein Gegenteil wahr ist.
Im Deutschland dieser Tage wird Gesinnungs-Jakobinismus betrieben wie lange nicht. Die politische und mediale Inszenierung moralingetränkter Narrative überdeckt, dass in einer Demokratie jeder Einzelne verstanden, gebraucht, ernst genommen und überzeugt werden, ja, dass er repräsentiert und geborgen sein will – der Fremde wie der Eigene.
Wer diesen Satz nun wutentbrannt als "rechts" bezeichnet, hat – mit Verlaub – nichts, aber auch gar nichts von der Idee einer Republik verstanden.
Christian Schüle, 45, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert, war Redakteur der ZEIT und lebt als freier Essayist, Schriftsteller und Autor in Hamburg. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter den Roman "Das Ende unserer Tage" (Klett-Cotta) und die Essays "Wie wir sterben lernen" und "Was ist Gerechtigkeit heute?" (beide Droemer-Knaur/Pattloch). Seit 2015 ist er Lehrbeauftragter im Bereich Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Christian Schüle© privat
Mehr zum Thema