Mittwoch, 24. April 2024

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"Victor oder Die Kinder an der Macht"
Ein Musterknabe außer Rand und Band

Als "Victor oder Die Kinder an der Macht" 1928 uraufgeführt wurde, hatte es noch einige Sprengkraft: Ein renitentes Kind sprengt seine eigene Familienhölle und entlarvt dabei die Verlogenheit der bourgeoisen Gesellschaft. Regisseur Moritz Sostmann hat das Stück am Schauspiel Köln inszeniert.

Von Dorothea Marcus | 03.04.2016
    Am Anfang stimmt die Geburtstagsgesellschaft gemeinsam das "Ave Maria" an. Noch steht hier alles fest auf dem Boden der christlich-abendländischen Werte, soll wohl erzählt werden. "Victor - A star is born" verkündet eine Kino-Schautafel an der Wand und davon, dass der neunjährige Victor die größte, gehätschelte Hoffnung seiner Helikoptereltern ist, versorgt mit Globuli und Tortenbüffet. Doch der Musterknabe, im Stück bereits fast zwei Meter groß, hat sich entschlossen, ab heute das Familienprojekt – und somit vielleicht auch die Grundlagen der europäischen Gesellschaft - zu sprengen. Zunächst tyrannisiert er im Testlauf nur sein Kindermädchen.
    Lili: "Benimm dich anständig."
    Victor: "Ich werde dir anständig zeigen, wie man es mit einem Flittchen macht. Es sei denn, du hättest selber Lust, mit mir zu tun, was du mit anderen tust."
    Lili: "Rotznase!"
    Victor: "Sag bloß noch, dass du nicht mit meinem Vater geschlafen hast!"
    Lili: "Verschwinde, sonst dreh ich dir die Gurgel um!"
    Victor: "Häh, mein Mäuschen, häh, mein Schnuckelchen?"
    Lili: "Das ist ein grausames Alter!"
    Victor: "Deins ist dreimal so viel, Lili..."
    Lili: "Hör auf, ich fleh' dich an!"
    Victor gerät zusehends außer Rand und Band
    Johannes Benecke als Victor ist ein glatzköpfiger Erwachsener in weißem Matrosenanzug mit Piraten-Brustbeutel. Er versteht durchaus, dem aus dem Ruder laufenden Terrorkind eine willkürlich-unheimliche Dimension zu geben. Bald treten die Eltern und die Gäste herein: vornehmer Freundesbesuch und ein General. Und Victor gerät zusehends außer Rand und Band: Er zerschlägt kostbare Sèvres-Vasen, enthüllt Ehebrüche, treibt buchstäblich in den Wahnsinn, provoziert, lügt, demütigt. Zwischendurch gibt es eine furzende Gräfin und viele drastisch sexuelle Anspielungen. Zusehends versinkt der Abend im Chaos, bis es ganz am Ende sogar Tote gibt. Eine absurder Tabubruch, dessen Provokationspotenzial 1928 gewiss noch groß war: kurz nach dem surrealistischen Manifest von André Breton, in der Zeit zwischen den Weltkriegen, als die bourgeoise Welt in Frankreich zu einem fragilen Frieden gefunden hatte.
    Regisseur Moritz Sostmann versucht, dem Stück mit Mitteln des Boulevardtheaters Herr zu werden. Durch riesige rote Türen treten die Figuren wie lächerliche Winzlinge auf- und ab, spielen auf blauen aufblasbaren Sofas Reise nach Jerusalem, ent- und bekleiden sich, rollen von Sofas, schreien wüst durcheinander und spielen immer wieder auf die Sinnlosigkeit des eigenen Theatertuns an:
    General: "Victor. Schon wieder jewachsen? Wie groß bist du jetzt?"
    Victor: "1,81, Herr General."
    Soldat: "Naja, wir machen einen Soldaten aus ihm."
    Victor: "Sie sind zu liebenswürdig, Herr General!"
    General: "Ach was. Ich bin ein Arschloch."
    Emilie: "NEEEEIIIIINNNN!!! Das ist nicht wahr!"
    Antoine: "Victor, tust du mir einen Gefallen. Hörst du auf, vom Krieg 70/71 an zu sprechen? Versprichst du mir das."
    Victor: Ploppt: "Für Sie, General. Für Europa!"
    Emilie (schreit): "Ich betone ausdrücklich, dass ich nichts von alledem verstanden habe."
    Slapstick-Anstrengungen und beliebiges Boulevardtheater
    In den französischen Nationalfarben rot weiß blau ist die Bühne gehalten, aber mit europäischen Ursprungswerten hat das hier alles nichts mehr zu tun – und auch nichts mit europäischer Gegenwart. Zunehmend driftet der Abend in Slapstick-Anstrengungen und beliebiges Boulevardtheater ab – nur, dass man im sinnentleerten Dada-Kosmos des Roger Vitrac die Geschichte zusehends aus den Augen verliert. Wacker rollt Lou Zöllkau als emanzipiertes Dienstmädchen Lili im Rollstuhl durch den Abend. Naiv und etwas unheimlich spielt Magda Lena Schott die listige sechsjährige Freundin von Victor, schlittert Sean Mac Donagh als kriegstraumatisierter Antoine in den Wahnsinn.
    Doch die Provokation, die einst hinter diesem Stück steckte, hat kein Ziel mehr, und Regisseur Sostmann tut auch nichts, um sie in die Gegenwart zu holen– abgesehen von ein paar müden Anspielungen auf Guantanamo oder die 68er. Die strenge Poesie der traurigen Holzpuppen, für die die Arbeit des Regisseurs sonst steht, fehlt an allen Ecken. Nur am Ende erscheint Victor, kurz vor seinem Tod, als menschengroße Holzfigur und lässt Nicola Gründel als jene Mutter, die ihn vorher luxuriös ignorierte, albern um ihn zetern. Doch das erhöht die Distanz zum Terrorkind Victor noch zusätzlich. Was soll uns das Stück heute sagen, außer, dass das christliche Abendland sich nicht mehr elitär auf der Vergangenheit ausruhen kann? Moritz Sostmanns Interpretation macht es ohnehin nur zur bunten Dekoration und banalen, hysterischen Schauspielerverausgabung.