Abtrünnige Provinz

Niemandsland in Kremlhand

Das Parlament Abchasiens im Zentrum der Hauptstadt Suchumi.
Das Parlament Abchasiens im Zentrum der Hauptstadt Suchumi. © Deutschlandradio / Dornblüth, Dr. Gesine
Von Andrea Rehmsmeier  · 02.12.2015
Abchasien ist eine selbsternannte Republik, die völkerrechtlich überwiegend als Teil Georgiens angesehen wird. Doch während Georgien immer näher an die EU rückt, bindet Russland Abchasien mit Großaufträgen an sich.
Kaum 10 Minuten dauert die Taxifahrt zwischen dem quirligen Städtchen Zugdídi und der Brücke, die über den Fluss Ingúr führt. Der Taxifahrer Kácha fährt die Standardstrecke im Westen Georgiens jeden Tag Dutzende Male – und jedes Mal ärgert er sich über den undankbaren Job.
"Jeden zweiten Tag habe ich Dienst an dieser Strecke. Das ist zwar eine Spezialroute, aber trotzdem bekomme ich gerade mal 10 Lari dafür, das sind keine vier Euro. Das ist wenig."
Káchas Route ist heikel: Sie führt zu einer Unruheregion, die immer wieder durch Terroranschläge und Gewalt von sich reden macht. Georgische Straßenkarten zeigen dem Reisenden georgisches Kernland an, tatsächlich aber markiert der Flussverlauf die Grenze zu der abtrünnigen Provinz Abchasien: Die Brücke über den Ingur ist die einzige Verbindung, die heute noch zwischen georgischem und abchasischem Gebiet besteht.
Die Regierungen seien erbittert verfeindet, seit sich die Abchasen im Jahr 1993 gewaltsam abgespalten haben, berichtet Kácha. Zwischen den Bewohnern des Grenzgebietes aber blühe der Kleinhandel.
Das Taxi nähert sich einem asphaltierten Gelände. Zwischen Kiosks und Verschlägen laden Menschen Waren aus Transportern und PKW-Kofferräumen.
"Hier in Georgien ist es billiger als drüben in Abchasien. Dort verkaufen die Leute die Waren ganz schön teuer, haben mir meine Kunden erzählt. Darum bringe sie alles über die Grenze, was sich nur gut verkaufen lässt."
"Republik Abchasien", so nennt sich die abtrünnige Provinz heute selbst. Doch abgesehen von Russland sind Venezuela und Nicaragua die einzigen Staaten von Bedeutung, die die Selbstständigkeit anerkannt haben. Für alle anderen ist Abchasien ein nicht existierender Staat.
Ein Schlagbaum versperrt den Zugang zur Brücke. Wer passieren will, muss sich vor georgischen Grenzbeamten als Anwohner des Grenzgebiets ausweisen. Dann geht es 800 Meter über sattgrüne Flussauen hinweg.
Die Kämpfe haben langjährige Handelsbeziehungen durchschnitten
Hin und wieder überholen ein Pferdefuhrwerk oder ein Pkw mit notdürftig zugebundener Kofferraumklappe den Fußgängertreck. Lebensmittel, Kleidung, ja sogar eine komplette Badezimmerausstattung samt Fliesen und Keramik wechseln hier auf einem Bollerwagen die Seiten. Frauen in buntem Tuch, Männer in Arbeitskleidung schleppen Taschen oder rollen Handkarren und Koffer über die Brücke. Eine Frau mit Plastiktüten in beiden Händen, die sich als gebürtige Abchasin vorstellt, hat in Georgien Verwandte besucht.
Danach, so plaudert sie, hat sie sich auf dem Markt von Zugdídi mit billigen Lebensmitteln eingedeckt. Alle, die diese Brücke überqueren, machten das so, berichten einige Männer. Wegen des Preisunterschiedes gehöre die Brücke heute ganz den fliegenden Händlern. Hin und wieder aber seien auch Ausländer unter den Passanten: Polen oder sogar Deutsche.
Auf dem Grenzhäuschen am anderen Ende der Brücke weht die rot-grüne Flagge der selbsternannten Republik Abchasien. Vor dem Holzverschlag hat sich eine Warteschlange gebildet, hier werden die Grenzgänger von eifrigen Zöllnern gefilzt: Der Alltagsverkehr mag unerwünscht sein, dennoch wird er offensichtlich von beiden Seiten toleriert. Anders ginge es auch nicht, erzählt eine Frau, die eine Sporttasche mit Obst trägt: Die erbitterten Kämpfe zwischen Georgiern und Abchasen haben langjährige Handelsbeziehungen durchschnitten und Familien getrennt. Sie selbst als gebürtige Georgierin sei nach dem Krieg in ihr abchasisches Heimatdorf zurückgekehrt, erzählt die Frau. Dem Rest der Familie war das zu riskant.
"Mein Bruder wohnt heute in Georgien. Nach seiner Flucht vor dem Krieg hat er versucht, in Russland Arbeit zu finden, aber er hatte kein Glück. Dann ist er nach Georgien zurückgekehrt, aber gut bezahlte Jobs gab es dort auch nicht – nur die Knochenarbeit auf dem Grenzmarkt. Das Passieren der Grenze ist ja auch wirklich kein Problem. Nicht, wenn man einen abchasischen Pass hat."
Hinter der Brücke erstreckt sich der Verwaltungsbezirk "Gáli". Der Weg in die abchasische Hauptstadt Sochúmi führt durch eine dünn besiedelte, hügelige Landschaft. Kühe trotten über die Straßen, Frauen tragen ihre Gartenernte nach Hause. Rundum: Überall Kriegsruinen. Die fensterlosen Hausfassaden mit ihren Einschussschäden und Rauchspuren sind zugewuchert von Bäumen und Gestrüpp.
Der Taxifahrer aber schenkt den Geistersiedlungen keine Beachtung. Er stellt sich als Valéra vor: ein russischer Vorname. Doch auf seine abchasische Abstammung ist er stolz. Wie so viele seiner Landsleute hat auch er für die politische Unabhängigkeit seines Heimatlandes zur Waffe gegriffen - damals, im Krieg vor 23 Jahren.
"Sehen Sie die Anhöhe, auf der linken Seite? Diese war von hoher strategischer Bedeutung, die Georgier haben sie sehr gefürchtet. Dort haben wir ihnen ihre Panzer und einen Haufen Waffen abgenommen. Am Ende haben wir alle Bewohner Abchasiens mit Maschinengewehren versorgt. Die Leute haben uns gegeben, was sie nur konnten: die einen Geld, die anderen ihre goldenen Eheringe. Damit sind wir über den Kaukasus gewandert, nach Russland. Wir haben den Tschetschenen Waffen abgekauft und hierhin geschmuggelt. Anders ging es nicht."
Sochúmi ist eine 65 000-Einwohner-Stadt, idyllisch gelegen. Das Herz der Stadt schlägt an der Schwarzmeer-Küste. Hier zieht sich eine gut ausgebaute Promenade den weitläufigen Steinstrand entlang, Touristen flanieren. Die meisten sind aus Russland angereist, weil sie einen günstigen Jahresurlaub in Abchasien den teuren Hotels des russischen Urlaubsparadieses Sótschi vorziehen.
Russlands Einfluss ist groß im Land
Auf einer Restaurantterrasse sitzt ein älterer Herr. Er nippt an einem Weißwein, und lässt dabei seinen Blick über Wellen des Schwarzen Meeres schweifen. Timúr Nadarája ist ein Riese in sandfarbenem Sakko, mit massigem Körper und glänzendem, kahlen Schädel. Immer wieder wird er von Passanten gegrüßt: Für einen Regionalpolitiker genießt er in der abchasischen Hauptstadt eine bemerkenswerte Prominenz. Nadarája ist der Verwaltungschef der Grenzregion Gáli, und als leidenschaftlicher abchasischer Patriot landesweit bekannt.
"Die Leute denken doch: Die Abchasen sprechen russisch, hier gibt es den Rubel, also ist Abchasien ein Teil von Russland. Sie sehen uns als besetztes Land. Aber das stimmt auf keinen Fall. Unsere Landessprache ist abchasisch, russisch sprechen wir nur mit unseren ausländischen Gästen. Ich bestreite nicht, dass Russlands Einfluss groß ist. Aber das hier ist immer noch Abchasien!"
Nadarája zählt zu Abchasiens bekanntesten Kriegsveteranen. Im Jahr des Unabhängigkeitskrieges 1993 gehörte er zu den wenigen Kämpfern mit militärstrategischer Erfahrung: Als ehemaliger Offizier der Roten Armee wusste er, wie man einer spontan organisierten Volkswehr die nötige Schlagkraft verleiht. Und so gelang den Abchasen das Unmögliche: Trotz Unterzahl konnten sie die Truppen zurückschlagen, die ihre Heimat gewaltsam im ungeliebten Georgien halten wollten. Heute aber blickt Nadarája mit Ernüchterung auf den gewonnen Krieg. Denn Europa und viele andere Staaten straften den Wunsch der Abchasen nach Unabhängigkeit mit politischer Isolation und Handelsembargos.
"Ich habe gekämpft. Ich wurde verwundet. Mein Bruder ist gefallen, und viele meiner Freunde. Wir haben uns damals tapfer geschlagen, aber wir bedrohen doch heute nicht die Welt! Wir sind keine Fundamentalisten, sondern ein christliches, gläubiges Land. Wir kleiden uns wie Europäer, und wir hoffen, dass die Welt irgendwann aufwacht. Aber offensichtlich hält man uns für ungezogene Kinder. Europas Botschaft an uns lautet: Gliedert euch an Georgien an, dann reden wir wieder mit euch. Wie kann das sein? Wir sind normale, freundliche Leute, die 24 Stunden am Tag beweisen, dass wir das Recht haben, in unserem eigenen Staat zu leben. Nein, sagt man uns, ihr habt kein Existenzrecht. Ein Existenzrecht hat nur Georgien."
Seit 2014 ist die Spaltung zwischen Georgien und Abchasien tiefer als je zuvor. Denn Europas Zurückweisung, glaubt Nadarája, hat Tür und Tor für die Einfussnahme Moskaus geöffnet. Im November 2014, gerade mal fünf Monate nach dem Abschluss des Assoziierungsabkommens zwischen Georgien und der EU, besiegelten Russland und Abchasien eine strategische Partnerschaft. Verteidigung und Sicherheit, Außenpolitik, Grenzschutz und Polizeiarbeit sollen künftig gemeinsam geregelt werden. Der Vertrag sieht auch die Bildung von "gemeinsamen Streitkräften" vor – und damit die langfristige Stationierung russischer Streitkräfte auf abchasischem Territorium. Von einer schleichenden Vorverlegung der russischen Grenze, sagt Nadaraja, könne dennoch keine Rede sein.
"Nach dem neuen Vertrag bilden wir eine Truppe, die aus einem russischen und zwei abchasischen Bataillonen besteht. Dafür verspricht uns Russland, in die Modernisierung unserer Armee zu investieren – so wie die USA in die georgische Armee investiert. Aber das bedeutet nicht, dass Abchasien sich an die Russische Föderation angliedern wird. Freiwillig würden wir das niemals tun – obwohl der Lebensstandard in Russland höher ist. Wir haben uns doch nicht von Georgien abgespalten, um in die Russische Föderation einzutreten! Wir wollen unseren eigenen Staat!"
Hinter dem Strand von Sochumi erstreckt sich ein Stadtgebiet aus sowjetisch anmutenden Wohnblocks. Auch hier sind die Kriegsschäden in vielen Straßen unübersehbar. Mitten im Stadtzentrum ragt bis heute die ausgebrannte Ruine des Parlamentsgebäudes auf. Valera, der abchasische Taxifahrer mit dem russischen Vornamen, kann sich kaum erinnern, wie seine Heimatstadt vor dem Krieg aussah. Der Staatshaushalt, sagt er, reicht nicht einmal für die Renovierung des Stadtzentrums. Am Seitenfenster zieht ein Gebäude mit zerschossener Fassade vorüber.
"Das war früher ein Hotel. Während des Kriegs hatten die georgischen Soldaten hier zeitweilig ihr Basislager aufgeschlagen. Aber glauben Sie nicht, dass diese Häuser heute leer stehen! Sie sind bewohnt – auch wenn sie in einem schrecklichen Zustand sind! Gott sei Dank fanden die meisten Kämpfe damals am Stadtrand statt, nicht im Zentrum. Aber wo es Kampfhandlungen gab, da ist alles niedergebrannt."
Auch der Taxifahrer Valera ist Patriot. Und wenn er Fahrgäste aus dem Ausland hat, dann will er ihnen sein Heimatland von seiner besten Seite präsentieren. Er lenkt seinen alten Mercedes in ein Randgebiet von Sochúmi - dorthin, wo das Unternehmen "Weine und Wasser Abchasiens" sein Betriebsgelände hat.
Fensterlose Hallen, mit Blech verkleidet: Auf den ersten Blick hinterlässt das Spirituosenwerk nicht gerade den Eindruck eines Vorzeigeunternehmens. Auf dem Hinterhof aber steht Baumaterial, und die Flex eines Handwerkerteams schlägt Funken. Ausländische Gäste werden von Manager Valerij Avídzba empfangen. Die Anlage wird gerade erweitert und auf Vordermann gebracht, sagt er. Dann lädt der gut gelaunte Betriebsleiter mit dem blütenweißen Hemd zum Rundgang durch die Produktionshallen ein.
"Auf den Frieden in der Welt!"
Hier sind die Wände gepflastert mit den Richtlinien eines Qualitätsmanagementsystems. Zwei Produktionsstraßen winden sich achterbahnähnlich durch die Halle – moderne Anlagentechnik, die Handarbeit weitgehend überflüssig macht. Vollautomatisch werden die leeren Flaschen mit Wein befüllt, verschlossen, versiegelt, etikettiert und mit den aktuellen Herstellerangaben versehen. Greifarme heben die Flaschen vom Band und senken sie in die bereitstehenden Kartons.
Der Rebensaft von den abchasischen Plantagen brauche gerade mal anderthalb Minuten, um sämtliche Stationen von der Zisterne bis zum Karton zu durchlaufen, schwärmt Avizba. Ziel der Modernisierung sei die Erhöhung der Produktionsmenge auf 14 000 Flaschen pro Stunde. Zwar bedient "Weine und Wasser Abchasiens" nur einen einzigen Markt, gibt der Manager zu. Aber der ist riesig: Es ist Russland.
"Das geht hier alles nach Moskau. Dort sitzt unser Großhändler. Von dort gehen unsere abchasischen Weine in das ganze Land. Groß, sehr groß ist dort die Nachfrage. Wir kommen kaum hinterher. Jedes Jahr verkaufen wir 21 Millionen Flaschen nach Russland. Hier, im abchasischen Inland, setzen wir gerade mal 1,5 Millionen Flaschen ab. Soweit ich weiß, gehört Abchasien beim Wein zu Russlands bedeutendsten Lieferländern. Wir stehen auf Platz 7 oder 8 - hinter Frankreich, Deutschland und Chile. Ein kleines Land wie unseres – und doch verkaufen wir eine Menge Wein!"
Und dann lädt der gut gelaunte Manager zur Verkostung ein. Nicht die Massenweine will er präsentieren, die das Unternehmen für weniger als zwei Euro nach Russland verkauft, sondern die trockenen Premiumweine, auf die er besonders stolz ist. In einem lichtdurchfluteten, Gemälde verzierten Konferenzsaal, direkt neben dem werkseigenen Analyse-Labor, haben Mitarbeiterinnen Gläser bereitgestellt.
"Wenn Sie der Welt nur über unser Werk berichten, dann werden alle in die Hände klatschen und sagen: Bravo, Abchasien! Aber den ganzen Rest, dazu schweigen Sie lieber! Unsere Weinproduktion ist ein kleines Paradies – ein ganz kleines. Wir loben uns nicht selbst, wir sagen nur die Wahrheit. Man sollte die Politik den Weinmachern überlassen, dann würde alles gut werden! Also, schenk ein! Stoßen wir zusammen an – auf das großartige Deutschland, und auf das großartige Abchasien! Und auf den Frieden in der Welt!"
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