Genter Altar der Brüder van Eyck

Hypnotisierend schöne Kunst

Der Mittelaltar im Genter Altar von Hubert und Jan van Eyck (Ausschnitt) zeigt die "Anbetung des Lammes" als Symbol für das Paradies in einer Frühlingslandschaft. Das Gemälde entstand um 1432.
Vision einer neuen Welt: das Mittelbild des Genter Altars der Brüder van Eyck © picture-alliance / dpa
Von Eva Hepper · 03.09.2014
Eines der großartigsten Kunstwerke Europas ist Thema einer Berliner Ausstellung: der Genter Altar. Vor fast 600 Jahren schufen ihn die Brüder Hubertus und Jan van Eyck und begründeten damit die altniederländische Malerei an der Wende zur Neuzeit.
Allein die musizierenden Engel! Mit langem, offenem Haar, gekleidet in prächtiges Tuch, Juwelen geschmückt stehen sie eng beieinander – auf der einen Tafel, singend, eine Gruppe von acht Himmlischen, auf der anderen Tafel ein Trio aus Organist, Harfe- und Violaspieler, hinter den dreien weitere Sänger. Konzentriert, ganz bei der Sache, auch ein wenig angestrengt. Gemalt sind sie mit feinster Präzision, ungeheuer genau bis ins kleinste Detail. Fast glaubt man ihren Gesang zu hören und das Rascheln der Gewänder.
"Kommt herbei, ihr Kunstliebhaber aus allen Geschlechtern, und betrachtet diesen köstlichen Schatz, dieses Pfand, gegen das ihr des Krösus Reichtum als Nichts sollt achten: Denn dies ist ein himmlischer Schatz im Flandernland."
So schwärmte der junge Maler Lucas de Heere 1559 angesichts des Genter Altars der Brüder Jan und Hubert van Eyck. Heute gilt er gar als das größte Werk der altniederländischen Malerei.
Farbenpracht bei geöffneten Flügeln
Bereits im geschlossenen und damit dem Zustand, der früher alltags gezeigt wurde, misst der Flügelaltar fast vier mal drei Meter. Darauf verteilt: zwölf Bildtafeln aus Eichenholz in drei horizontal getrennten Reihen. Sie zeigen eine Verkündigung, zwei Skulpturen von Johannes dem Täufer und dem Evangelisten Johannes, das Stifterehepaar Joos Vijd und Elisabeth Borluut sowie Propheten und Sibyllen. In ihrer Farbigkeit ist die Alltagsansicht eher dezent. Die große Pracht offenbarte der Genter Altar Weihnachten, Ostern und an Allerheiligen. Dann wurden die Flügel geöffnet und präsentierten – nun über fünf Meter Breite – eine schier blendende Farbenpracht.
Der 1968 gestorbene Kunsthistoriker Erwin Panofsky, einer der bedeutendsten seiner Zeit, urteilte:
"Von der sinnlichen Schönheit eines echten Jan van Eyck geht eine seltsame Faszination aus, vergleichbar mit der Anziehungskraft echter Juwelen, von denen wir uns gleichsam hypnotisieren lassen, oder mit dem Blick in ein tiefes Gewässer. Es fällt schwer, sich von ihnen loszureißen, und wir fühlen uns in 'einer Art magischer Überredung' immer wieder zu ihnen hingezogen."
Beispielsweise zu den musizierenden Engeln. Gemeinsam mit Adam und Eva, mit dem Weltenrichter, mit Maria und Johannes – abgebildet auf jeweils einer eigenen Tafel – bildet die himmlische Schar die obere Hälfte der Altarinnenseite. Die Figuren leuchten vor allem in gold, rot, grün und in blau; allein Adam und Eva in ihrer verschämten und leicht verhüllten Nacktheit – die Ursünde lag schon hinter ihnen – sind farbig zurückgenommen. Doch strahlen auch sie. Schon Dürer ging vor ihnen in die Knie:
"Das ist ein über köstlich, hoch verständig gemähl, und sonderlich die Eva, Maria und Gott der vatter"
Märchenhaft und doch realistisch
Jan van Eyck beherrschte meisterhaft die neue Technik der Ölmalerei. Das wird insbesondere in der Darstellung der fast märchenhaften und doch hoch realistischen Landschaft deutlich, die sich auf der unteren Hälfte der Altarinnenseiten auf fünf Tafeln zeigt. Mit einem noch heute rätselhaften Sujet in der Mitte: der Anbetung des Heiligen Lamms. Es steht inmitten einer reich blühenden Wiese – 42 verschiedene Pflanzen sind heute identifiziert – auf einem Altar. Aus seiner Brust fließt Blut in einen Kelch, vor ihm sprudelt der Lebensbrunnen und aus allen Richtungen nähern sich in getrennten Gruppen Bischöfe, Kardinäle, Märtyrerinnen, Propheten und Apostel. Eine üppige Vegetation - Büsche, Sträucher und Bäume - gliedert die Szenerie. Sie erstreckt sich bis zum Horizont, der kontinuierlich durch alle fünf Tafeln verläuft. Hier entfaltet sich ein wahres Wunder an Tiefe, Räumlichkeit, Detailreichtum und Farbenpracht.
"Wenn Jan Landschaften malt",
so Erwin Panofsky,
"die sich 'über 50 Meilen auszudehnen scheinen', so bewahren noch die entferntesten Gegenstände, wie stark an Größe auch verringert und an Farbigkeit zurückgenommen, dasselbe Maß an Körperlichkeit und dieselbe vollkommene Deutlichkeit, wie die nächstgelegenen Gegenstände sie zeigen. Jan van Eycks Auge arbeitet als Mikroskop und als Teleskop zugleich."
Und das seines Bruders Hubert? Bis heute ist nicht restlos geklärt, wer welche Tafel des Genter Altars gemalt hat. Eine Inschrift, die besagt, dass Jan vollendete, was Hubert begonnen hatte, ist umstritten. Unstrittig dagegen ist, dass ihr Werk den Aufbruch in eine neue Zeit markiert. Nie zuvor wurden die Oberfläche der sichtbaren Welt, tiefere Schichten und sogar das innere Erleben der Figuren so meisterhaft dargestellt. Wer einmal die musizierenden Engel gesehen hat, wird sie nicht vergessen.

Die Ausstellung "Der Genter Altar der Brüder van Eyck in Berlin. 1820-1920" ist vom 4.September 2014 bis zum 29.März 2015 in der Gemäldegalerie in Berlin zu sehen.

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