Genfer Konventionen

Humanität mitten im Krieg?

Palästinensische Zivilisten laufen während einer brüchigen Waffenruhe am 01.08.2014 an einem Berg von Schutt vorbei.
Im Gazastreifen, aber auch auf israelischer Seite sind Zivilisten vom Krieg betroffen. © afp / Mahmud Hams
Philipp von dem Knesebeck im Gespräch mit Nana Brink · 08.08.2014
Vor 150 Jahren traten die Genfer Konventionen in Kraft. Das Abkommen, das Regeln für Kriege definierte, habe viel bewirkt, sagt der Philosoph Philipp von dem Knesebeck. Asymmetrische Konflikte wie im Nahen Osten aber brächten die Erfolge in Gefahr.
Nana Brink: Auch der Krieg hat seine Spielregeln. Das mag uns bisweilen zynisch erscheinen, und da müssen wir gar nicht 100 Jahre zurückgehen zu den Giftgasangriffen des Ersten Weltkrieges, da können wir auch im Hier und Jetzt bleiben: beim Gaza-Krieg, in dem Hamas-Kämpfer wahllos Raketen auf Zivilisten schießen und die israelische Armee eine UN-Schule bombardiert. Aber der Krieg hat eigentlich Regeln. Vor 150 Jahren, am 8. August 1864, trafen sich zwölf europäische Staaten, um sich darauf zu verständigen, wie mit Zivilisten, Verwundeten und Kriegsgefangenen in zukünftigen Kriegen umzugehen sei. Und aus diesem Treffen entstand dann die erste Genfer Konvention. Philipp von dem Knesebeck hat über die Lehre des gerechten Krieges promoviert und ist also ein Spezialist für Kriegstheorie. Guten Morgen!
Philipp von dem Knesebeck: Schönen guten Tag!
Brink: Die Regeln bestanden ja darin: Es gibt den Schutz von Zivilisten, also man greift keine Zivilisten an. Das Rote Kreuz wurde ja auch zu dieser Zeit gegründet, das heißt, man sorgt auch für die Gefangenen, man nimmt Gefangene, man bringt sie nicht um. All das sind Güter, die damals ja beschlossen worden sind in dieser Konvention. Sind die eingehalten worden, also gerade, wenn man zum Beispiel an den Ersten Weltkrieg denkt?
von dem Knesebeck: Im Großen und Ganzen ja. Ebenso wie auch mit den Gesetzen. Im zivilen Leben gibt es immer wieder Punkte, in denen Menschen durch Unwissen, im Affekt oder aber auch durch bösen Willen und geplant diese Regeln durchbrochen haben. Das war im Ersten Weltkrieg der Fall, das war im Zweiten Weltkrieg der Fall, und auch in allen kleineren und größeren Kriegen davor und danach. Im Großen und Ganzen aber wurden diese Regeln doch eingehalten. Und in den allermeisten Fällen und auch auf den allermeisten Seiten, selbst von Nazi-Deutschland, wurden diejenigen, die die Regeln brachen, von der Militärgerichtsbarkeit auch verfolgt und zur Rechenschaft gezogen.
Brink: Haben Sie da ein Beispiel. Das erscheint uns ja so unglaublich, dass das auch im Zweiten Weltkrieg passiert ist, gerade von Nazi-Deutschland.
von dem Knesebeck: Ein Beispiel betrifft die Behandlung der Soldaten oder der Kämpfer des Freien Frankreichs, die zunächst nicht als Kombattanten anerkannt wurden, sondern die zunächst von der Wehrmacht erschossen wurden, wenn man sie aufbrachte, bis dann, nach längeren Verhandlungen, man sich darauf einigte, auch diese Soldaten als Kämpfer anzuerkennen. Und in der Folge wurden diese dann als normale Kriegsgefangene verhaftet, vernünftig versorgt. Und in der Folge wurden dann tatsächlich auch Wehrmachtsangehörige, die weiter diese Kämpfer einfach erschossen, entsprechend vor Kriegsgerichte gestellt.
Brink: Aber mit russischen Kriegsgefangenen ist das ja nicht passiert, nachweislich.
von dem Knesebeck: Ja, da zeigt sich halt das Problem von solchen internationalen Vereinbarungen. Russland hat sich stets geweigert, diesen Konventionen zum Schutz Kriegsgefangener beizutreten, hat selbst gesagt, dass sie Kriegsgefangene nicht entsprechend diesen Regeln behandeln werden, und daraufhin haben die Gegenseiten im Rahmen des Konzepts der Vergeltung sich entschieden, mit den russischen Soldaten ebenso zu handeln in der Hoffnung, dadurch die russische Seite zum Einhalten der Regeln zwingen zu können. Das hat nicht funktioniert.
Das Dilemma asymmetrischer Konflikte
Brink: Nun kommen wir doch mal im Hier und Jetzt an. Wir haben ja ein ganz aktuelles Beispiel, was viele Menschen auch beschäftigt, weil wir diese Bilder vom Gaza-Krieg noch so vor Augen haben. Zwei Stichworte: der Beschuss von Zivilisten durch die Hamas-Raketen auf israelisches Gebiet, wo nachweislich Zivilisten getroffen werden sollen, und umgekehrt die Bombardierung einer UN-Schule der israelischen Armee. Sind das klare Verstöße gegen die Genfer Konventionen?
von dem Knesebeck: Ja und nein. Also selbstverständlich ist das willentliche – und das ist an dieser Stelle das wichtige Wort –, das willentliche Angreifen von Zivilisten, das willentliche Töten von Zivilisten ein klarer Verstoß gegen die Genfer Konventionen, das ist ein Kriegsverbrechen. Allerdings, und da wird es kompliziert, zeigt sich in diesen heutigen asymmetrischen Konflikten auf beiden Seiten ein Dilemma, das der amerikanisch-israelische Militärtheoretiker Michael Groth mal damit beschrieben hat, dass die schwache Seite keinen Zugriff auf die Militäreinrichtungen der Gegenseite hat, da diese zu gut gesichert seien, und die starke Seite die militärischen Ziele nicht angreifen kann, da sich diese zu gut verstecken, sodass beide Seiten mangels legitimer Ziele dazu übergehen, Zivilisten anzugreifen.
Brink: Das heißt, eigentlich sind die Genfer Konventionen dann sinnlos am Ende des Tages?
von dem Knesebeck: Nein. Sinnlos keinesfalls. In Gefahr, sicher. Und die Tatsache, dass wir diese Handlungen, die dort von beiden Seiten begangen werden, kritisieren können; dass der UN-Sicherheitsrat, die Vereinten Nationen, die Vollversammlung sich hinstellen können und sagen können, was dort geschieht, ist Unrecht, ist ja ein Verdienst der Genfer Konventionen. Hätten wir diese Regeln nicht, dann hätten wir gar kein Werkzeug, um diese Handlungen dort zu kritisieren.
Brink: Drehen wir jetzt die Spirale noch ein bisschen weiter und – wir können da eigentlich schon, eigentlich im Gaza-Krieg anknüpfen und weitergehen nach Syrien, in den Irak. Da haben wir es ja immer mehr oder Staaten haben es immer mehr zu tun mit Gruppen, mit Rebellengruppen, mit Milizen, also mit nichtstaatlichen Akteuren. Es sind also nicht mehr zwei Staaten, die einen Krieg miteinander beginnen oder dann auch beenden, sondern es sind unterschiedliche Akteure. Greift denn da so was wie eine Genfer Konvention überhaupt noch?
Erweiterung der Genfer Konvention
von dem Knesebeck: Ja, definitiv. Zum einen gibt es seit den 70er-Jahren eine Erweiterung der Genfer Konvention, um genau solche Konflikte, in denen nicht alle Parteien reguläre Armeen sind – damals schaute man vor allem in nationale Befreiungsbewegungen, sogenannte CAR-Konflikte, gegen koloniale Regime und Fremdherrschaft also. Und diese räumen diesen nichtstaatlichen Kämpfern gewisse Sonderrechte ein, insbesondere, dass sie auf das Tragen von Uniformen zur Identifizierung verzichten dürfen, solange sie gegen einen Besatzer kämpfen. Einfach um so etwas Ähnliches wie eine faire Chance zu haben. Die Genfer Konventionen oder zumindest ihr Geist gilt für all diese Parteien. Es ist offensichtlich, dass Wehrlose angreifen, Verletzte angreifen, Kriegsgefangene foltern, dass das nicht zielführend ist, um einen Krieg zu gewinnen, und dass es vor allem menschlich grausam ist. Und von daher gilt sowohl rechtlich als auch moralisch die Genfer Konvention weiter.
Brink: Die Frage ist, ob so jemand wie die Taliban zum Beispiel auch so denken, also im Sinne des Geistes der Genfer Konventionen denken. Müssen diese Konventionen erneuert werden? Wenn ja, wie?
von dem Knesebeck: Im Allgemeinen denke ich tatsächlich, dass die Regeln nicht aktualisiert werden müssen, sondern dass viel mehr auf allen Seiten – und wie man beispielsweise in Abu Ghraib gesehen hat, gilt das auch für –
Brink: Also die Verbrechen sozusagen der amerikanischen Armee im Irak, die systematische Folterung von Gefangenen.
von dem Knesebeck: Genau, der amerikanischen Armee und ihrer Verbündeten. Daran sieht man, dass alle Seiten in diesen Konflikten, auch die staatlichen Armeen, daran erinnert werden müssen, dass diese Regeln aus guten Gründen einmal beschlossen wurden, nämlich zum einen, um jeden einzelnen Soldaten zu schützen, zum anderen aber, um das Kriegshandwerk als Mittel der staatlichen Machtausübung vom Massaker zu trennen und somit zu legitimieren. Das heißt, die Genfer Konventionen vom Tisch zu nehmen, heißt eigentlich, Kriegführen als Mittel der Politik und somit vor allem Friedensmissionen, Anti-Terror-Missionen, Stabilisierungsmissionen grundsätzlich in Frage zu stellen. Und das kann nicht im Sinne der Machthaber sein.
Brink: Philipp von dem Knesebeck, Spezialist für Kriegstheorie. Danke für Ihre Zeit!
von dem Knesebeck: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.