Gemeinschaft

Gelebte Utopie in Israel

Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Typische Vegetation in Galiläa: In dieser Region im Norden Israels liegt auch der Kibbuz Kishoret. © dpa / picture alliance / Robert B. Fishman ecomedia
Von Ruth Kinet  · 13.02.2014
Kishorit im Norden Israels ist ein besonderer Ort: Dort leben Menschen mit Behinderungen, die ihren Kibbuz selbst verwalten. Sie werden betreut, aber weder in die Unmündigkeit noch an den Rand der Gesellschaft gedrängt.
Ma’anit ist in Ober-Galiläa aufgewachsen, nicht weit weg von Kishorit. Sie ist 27 Jahre alt und lebt seit sieben Jahren im Kibbuz Kishorit:
"Anfangs war es für mich sehr schwer, hier zu sein. Ich wollte dauernd nach Hause. Ich wollte zu meiner Mutter und zu meinem Vater. Inzwischen ist Kishorit mein Zuhause. Für mich sind meine Freunde hier meine Familie. Zusammen mit meiner tatsächlichen Familie. Ich liebe es, hier mit Judy und meinen Freunden bei den Pferden zu arbeiten. Am Anfang hatte ich ein bisschen Angst vor den Pferden. Inzwischen gehe ich morgens als erstes zu ihnen und streichle sie."
"Isa, willst Du Dich um Mishmish kümmern? Er hat heute keinen, der ihn liebt. Also Mishmish wird versorgt."
Judy Kay steht dem Pferdestall vor. Sie kommt aus England und lebt seit sechs Jahren in Kishorit. Sie ist für therapeutisches Reiten und pferdegestützte Therapie verantwortlich:
"Wer seine Aufgabe erledigt hat, kann die Säcke mit dem Abendessen vorbereiten. Ich bin noch nicht ganz fertig mit dem Reinigen des Abwasserbeckens. Ich habe das Gitter abgenommen. Passt auf, wenn ihr dort vorbeigeht! Also - hat jeder eine Aufgabe? Es kommt das Wochenende und wir müssen viel vorbereiten."
"Kishorit ist der einzige Ort, den ich kenne, an dem das ganze Team, das den Pferdestall verwaltet und unterhält, aus Behinderten besteht, also aus Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Orte, an denen therapeutisches Reiten angeboten wird, gibt es hunderte in Israel. Aber ein Ort, an dem auch diejenigen, die die Pferde versorgen, Menschen mit Behinderungen sind, das ist einmalig auf der Welt."
Kishorit. Der Kibbuz liegt eingebettet in eine sanft wogende Landschaft, in der das helle Grau von Feldsteinen, das Ocker des fetten Lehmbodens, das dunkle Grün der Pinien und das Silber der Olivenbäume zu einer rauen Lieblichkeit verschmelzen. Von Kishorit aus reicht der Blick bis zur libanesischen Grenze, die nur 16 Kilometer Luftlinie entfernt ist.
Unterhalb von Kishorit, im Beit-Hakerem-Tal, liegt Karmiel, die nächstgrößere jüdisch-israelische Stadt. Dort gibt es Supermärkte, Cafés und Restaurants.
155 Einwohner hat Kishorit, alles Menschen mit "besonderen Bedürfnissen", wie man auf Hebräisch sagt. An den meisten anderen Orten auf der Welt wären sie Blinde, Autisten oder Lernbehinderte. Hier, in Kishorit, sind sie Menschen mit Namen wie Ma’anit, Ro’i und Dror.
Lieber Kopf des Fuchses als Schwanz des Löwen
"Ich bin in einem Kibbuz aufgewachsen und weiß, dass die Gemeinschaft eines Kibbuz Menschen mit Schwächen unglaublich stärken kann."
Yael Shilo ist 65 Jahre alt und Künstlerin. Gemeinsam mit dem Sonderpädagogen Shuki Levinger hat sie Kishorit gegründet. Das ist inzwischen 16 Jahre her:
"Die Kibbuzgemeinschaft lässt die Menschen wachsen. Sie gibt jedem seinen Platz. Jedenfalls dann, wenn die Gemeinschaft richtig geführt wird. Dies ist ein Ort, an dem jeder das Gute, das Besondere aus sich herausholen kann. Unser Modell ist vielleicht nicht für jeden Menschen mit besonderen Bedürfnissen das Richtige. Aber für viele schon.
Die Kibbuz-Mitglieder leben in einer Gemeinschaft, deren Regeln sie mitbestimmen. Sie sind mündige Gestalter ihres Lebens. Sie haben ihre Arbeitsplätze, sie feiern ihre Feste und stellen ihre eigenen Produkte her. Das Holzspielzeug, der Käse, das Gemüse und der Wein, das sind alles Produkte, die die Bewohner von Kishorit herstellen. Darauf sind sie stolz."
Die Künstlerin Yael Shilo und der Sozialarbeiter Shuki Levinger gründeten 1988 Kishorit. Damals waren die beiden 40 und 29 Jahre alt. Seelenverwandte mit der Vision von einem selbstbestimmten und doch geborgenen Leben für Behinderte. Yael, die im Kibbuz Kfar Szold am Fuß des nördlichen Golan aufgewachsen war, wusste, wie sehr Menschen mit Schwächen gestärkt werden können, wenn sie gemeinsam leben, gemeinsam wachsen können. Auch wenn der gesellschaftliche Trend, nicht nur in Israel, genau in die entgegengesetzte Richtung ging: zur Inklusion, dem gemeinsamen Wohnen, Lernen, Arbeiten von Behinderten und Nicht-Behinderten. Shukis Erfahrung in der Praxis stand jedoch im Widerspruch zu diesem Trend. Denn viele Behinderte fühlten sich in Inklusionsprojekten minderwertig:
"Für Menschen mit besonderen Bedürfnissen ist es sehr schwierig, sich immer schlechter zu fühlen als andere. Es ist frustrierend."
Dorit ist Amirs Mutter. Amir ist 35 und lebt seit sechs Jahren in Kishorit.
"Für Amir ist es sehr wichtig, zu erleben, dass er in manchem auch besser ist als andere. Heute sprechen alle über Inklusion. Aber aus unserer Erfahrung kann ich sagen, dass Inklusion für Amir nicht gut ist. Für ihn ist es gut, nicht der Schwanz der Löwen zu sein, sondern der Kopf der Füchse.“
"Meine Mutter kann alles im Kopf rechnen. Ich bin nicht gut im Rechnen. Im Supermarkt kann man mich leicht übers Ohr hauen. Ich merke nicht, wenn man mir zu wenig Wechselgeld gibt."
... sagt Amir. Er hat Blutgruppe A, seine Mutter Blutgruppe 0. Während der Schwangerschaft entwickelte Dorit Antikörper gegen die Blutgruppenmerkmale von Amir. Amir wurde mit pathologischer Gelbsucht geboren. Den Ärzten entging das. 17 Stunden verstrichen, ehe sein Blut ausgetauscht wurde. Amir überlebte. Er ist das zweite von drei Kindern. Anders als seine große Schwester begann Amir als Säugling nicht, seinen Kopf zu heben und zu krabbeln, sich zu drehen und hinzusetzen. Als Amir 11 Monate alt war, machte er immer noch nichts alleine. Die Ärzte wiegelten ab. Die Eltern, Dorit und Jehuda, spürten, dass mit ihrem Sohn etwas nicht stimmte. Sie fanden eine Therapeutin für ihn - und für Amir begann ein dichtes Programm: Ergotherapie, Logopädie und Physiotherapie. Zwei bis drei Mal in der Woche:
"Bis heute ist unklar, was Amir genau hat. Eine Lernstörung, ja. Eine sehr ausgeprägte. Aber wir wissen nicht genau, was Amir hat."
In Kishorit interessiert das ohnehin niemanden. Dort geht es um Menschen, nicht um Fälle. Yael und Shukis Vision von einer Gemeinschaft, die besondere Bedürfnisse stillen kann, ohne dabei zu entmündigen, wollte anfangs niemand teilen. Niemand habe ihnen applaudiert, erinnert sich Yael. Nur Unverständnis hätten sie geerntet:
"Es war sehr kompliziert, denn es gab ja kein Modell, auf das wir Bezug nehmen konnten. Die Gebietsverwaltung wusste nicht, was wir wollen. Was ist das, ein 'Kibbuz für Menschen mit besonderen Bedürfnissen'?"
Einen Kibbuz zu gründen, das war nur den Israelis vorbehalten, die einen akademischen Abschluss hatten, verheiratet waren und beim medizinischen Eignungstest der Armee als tauglich für eine Kampfeinheit eingestuft wurden. Dieses Anforderungsprofil galt bis zur Gründung von Kishorit. Keiner der heutigen Bewohner von Kishorit hätte diese Anforderungen erfüllen können.
"Es war eine Mischung aus Naivität, Kühnheit und Sturheit, die uns antrieb. Und das dringende Bedürfnis, uns mit dem Guten in der Welt zu verbinden, das Gefühl, dass wir auf der guten Seite der Welt sein müssen. Warum sollen wir das nicht schaffen, frage ich Shuki oft. Gibt es jemanden auf der Welt, der stärker und klüger ist und mehr weiß als wir?"
Ein "Leuchtturm" in der Nachbarschaft
Dieselbe Mischung aus Naivität, Kühnheit und Sturheit treibt Yael Shilo und Shuki Levinger immer noch an. Zurzeit bauen 74 Familien Häuser auf dem Grund des Kibbuz. Familien ohne Behinderungen, aber beseelt von dem Wunsch, mit den Bewohnern von Kishorit zusammen zu leben. Partnerschaftlich. Aber das größte laufende Projekt ist die Gründung eines arabischen Pendants zu Kishorit - Alfanara. Das heißt auf Arabisch so viel wie Leuchtturm.
"Alfanara ist Teil unserer Vision. Wir können nicht mitten unter Drusen und Arabern leben, Menschen mit besonderen Bedürfnissen ein so großes Angebot machen und gleichzeitig die Menschen, die in unserer unmittelbaren Nähe leben, nicht mit einbeziehen."
Karim Rafa wird die Leitung von Alfanara übernehmen. Er ist arabischer Israeli und Muslim. Seit 20 Jahren ist er eng mit Yael und Shuki befreundet und arbeitet im Leitungsteam von Kishorit mit. Das arabische Pendant von Kishorit wird dieselbe Form von Unterstützung und menschenwürdigem Umgang mit seinen Mitgliedern pflegen, aber es wird arabisches Essen, arabische Musik und arabische Feste geben. Arbeiten werden sie gemeinsam, die Bewohner von Kishorit und Alfanara.
Prominentester Unterstützer des Projektes ist Staatspräsident Shimon Peres. Er war auch Gast bei der Grundsteinlegung von Alfanara im Oktober 2010. Nach der Feier hat ihn der Moderator des Kishorit-Magazins ins Fernsehstudio des Kibbuz zum Interview eingeladen.
"Wie gefällt Dir die Lage von Alfanara, dem arabischen Dorf, das jetzt neben Kishorit gegründet wird?"
"Ganz Galiläa ist wunderschön: Von überall gibt es eine atemberaubende Aussicht. Es ist sehr wichtig, dass wir unseren arabischen Mitbürgern zeigen, dass man fast jede Krankheit behandeln kann. Dass eine Behinderung kein Todesurteil ist. Kishorit ist ein kleines Dorf mit einer großen Botschaft: Wenn kranke Juden sich in die Hände von arabischen Ärzten begeben und kranke Araber sich jüdischen Ärzten anvertrauen, frage ich mich, ob wir das nicht auch unter den Gesunden hinbekommen können."
Alfanara ist noch nicht fertiggestellt. Aber im September 2013 ließ sich eine Vorhut auf dem neuen, noch weitgehend unbebauten Gelände nieder: die Ziv-Nur-Schule zog vom Gelände Kishorits auf das Nachbargrundstück Alfanara. Dort werden 54 psychisch kranke Jugendliche aus jüdischen, muslimischen, christlichen und drusischen Familien aus der ganzen Region gemeinsam unterrichtet.
"Unsere Schüler kommen her mit der Erfahrung, dass alle es immer besser wissen als sie. Die Psychiater und Ärzte, die Eltern und die Gesellschaft – alle wissen genau, wie sie sich verhalten müssen. Aber hier wissen wir es nicht besser als sie. Wir hören ihnen zu. Wir hören auf das, was sie wollen. Wir erlauben unseren Schülern, Dinge auszuprobieren, wir erlauben ihnen aufzustehen, ihre Meinung zu sagen. Wir gestehen Fehler ein. Unser Erziehungskonzept basiert auf dem persönlichen Vorbild."
Zohara Antebi ist eine kleine zarte Frau mit blonden Locken und einem warmen Blick. Die jüdische Israelin gründete die demokratische Ziv-Nur-Schule im September 2003 und leitet sie bis heute. An ihrer Schule gibt es keine Regeln, die die Schüler nicht infrage stellen oder per Mehrheitsbeschluss ändern könnten. Den Segensspruch zum Beispiel, der über den Religionen steht und mit dem sie jeden neuen Tag begrüßen:
"Wir beginnen hier jeden Morgen, indem wir uns in einen großen Kreis stellen und einen Segensspruch sprechen. Wir sagen: 'An diesem einzigartigen und besonderen Tag stehen wir hier alle zusammen, öffnen unser Herz, reichen einander die Hand, um mit Lust zu geben und mit Segen zu empfangen, Wissen, Freundschaft und Freude.' Diesen Segensspruch haben wir im ersten Jahr unseres Bestehens gemeinsam verfasst. Wir haben über ihn im Parlament abgestimmt. Eine Schülerin schlug vor, auch das Wort Liebe aufzunehmen. Darüber gab es stundenlange Debatten. Und am Ende beschloss das Parlament, dass die Liebe nicht aufgenommen werden sollte. In dem Moment, in dem die Schüler spüren, dass es Raum dafür gibt, dass sie sagen können, was sie denken, hat das eine unglaubliche Wirkung."
Platz und Ruhe sind kostbare Luxusgüter
Die Ziv-Nur-Schule ist so ungewöhnlich in Israel, dass sie fast unwirklich scheint. Die Schule, der Kibbuz sind utopische Enklaven. In einem Land, in dem die Trennung zwischen der jüdischen und der arabischen Bevölkerung in den Institutionen und im Alltagsleben täglich schärfere Konturen annimmt, gibt es kaum noch gemeinsame Erfahrungsräume. Und nach dem Schulabschluss trennen sich in der Regel auch die Wege der Schüler: Während jüdische Schüler manchmal nach ihrem Abschluss im Kibbuz aufgenommen werden, kehren die meisten Absolventen, vor allem die arabischen, in eine Welt zurück, in der sie als "Kranke" bevormundet, fremdbestimmt und manchmal auch versteckt werden. Sie hoffen, dass das arabische Alfanara bald fertig sein und ihnen eine Perspektive für ein selbstbestimmtes Leben bieten wird.
Noch ist die Ziv-Nur-Schule in Israel kaum bekannt. Zohara Antebi ist darüber allerdings ganz froh:
"Wir existieren hier an der Peripherie. An der Peripherie des Landes und des Schulsystems. Aber es gibt ein jüdisches Sprichwort, das besagt, dass der Segen den Augen verborgen bleibt."
Die Jugendlichen, die die Ziv-Nur-Schule besuchen, und die Erwachsenen, die in Kishorit leben, lieben das Leben an der Peripherie des Landes. In Israel, wo sich fast überall viele Menschen auf engem Raum drängen, sind Platz und Ruhe kostbare Luxusgüter.
Ma’anit, Amir und die anderen 153 Mitglieder von Kishorit haben ihren Lebensmittelpunkt gefunden. Kishorit gehört zu ihnen und sie zu Kishorit.
"Kishorit ist ein Ort, der Menschen Gelegenheit bietet, Teil von etwas zu sein, was einen Sinn hat. Eigentlich suchen wir alle nach einem Sinn in unserem Leben, nach Tiefe, nach etwas, das uns Lust macht, am Morgen aufzustehen. Ich glaube, das ist es, was Kishorit gibt: Die Möglichkeit, Teil von etwas zu sein, das uns motiviert, am Morgen aufzustehen. Nicht nur für unsere Bewohner mit besonderen Bedürfnissen, sondern auch für uns selbst. Wir haben einen Ort geschaffen, der das Leben ehrt, und das ist in meinen Augen wirklich ein Utopia."
Mehr zum Thema