Gemeinschaft der "Modernen Heiden"

Mit Thor per Du

Vorbild für die "Modernen Heiden"? Germanen feiern im Wald in einem Gemälde vom Anfang des 20. Jahrhunderts.
Vorbild für die "Modernen Heiden"? Germanen feiern im Wald in einem Gemälde vom Anfang des 20. Jahrhunderts. © imago / United Archives
Von Antje Stiebitz · 14.08.2016
Vorchristliche Glaubensvorstellungen scheinen en vogue zu seien. Die Gemeinschaft der "Modernen Heiden" verehrt die Natur, glaubt an Thor und andere nordische oder germanische Götter. Zum Leinerntefest versammeln sich die Heiden draußen, ein Baumstamm dient als Altar.
Andreas Mang: "Ich habe in der Vergangenheit sehr viele religiöse Rituale mitgemacht, sei es nun im Christentum oder im Shinto oder im Buddhismus. Und es ist nirgendwo ein Funke übergesprungen. Und als ich mal ein heidnisches Ritual mitgemacht habe… Man hat es gemerkt im Inneren. Das ist eine reine Gefühlssache. Aber das ist unglaublich schwer zu beschreiben, man muss es - glaube ich - erlebt haben."
Gida: "Das Ritual ist für mich wichtig, um den Kontakt zu den Göttern zu spüren. Da steht auch die Gemeinschaft im Vordergrund, dass man zusammen mit der Gemeinschaft und den Göttern zusammen feiern kann. Also, wir laden die Götter ja ein zu unserem Fest. Ich habe auch öfters einmal das Gefühl, dass die dann wirklich da sind."
Lutz: "Wir haben ja die Burgen abgerufen, wo die Götter drinnen wohnen, und bei der Burg bei Odin ist durch mich, ich kann das gar nicht so richtig beschreiben, wie so ein Schauer durchgegangen. Also, ich habe auf einmal gemerkt, hier ist was, hier ist jemand da und der nimmt dich jetzt."
Um die Feuerstelle im Garten des Pfadfinderbunds in Berlin-Steglitz haben sich sechs Männer und Frauen verschiedenen Alters versammelt. Sie gehören der in Island entstandenen Glaubensgemeinschaft Asatru an und nennen sich "moderne Heiden". Gerade bereiten sie ihren Ritualplatz vor. Ein halber Baumstamm dient als Altar, auf dem verschiedene Ritualgegenstände platziert werden: Schüsseln, verzierte Hörner und ein Bronzering. Während Uwe eine rote Schnur um den ganzen Ritualraum zieht, um ihn symbolisch gegen schädliche Einflüsse abzugrenzen, sortiert Monika mitgebrachte Kräuterbündel.
"Das wäre Sumpfporst, der riecht ein bisschen wie Männerparfüm, Wacholder, Johanniskraut."
Später wirft sie die Kräuter ins Feuer, damit ihr aromatischer Duft die Atmosphäre reinigt. Gida legt Brot auf eine Holzbank und stellt eine Flasche selbstgemachten Met daneben. Die Archäologiestudentin mit dem langen Zopf trägt ein mit bunten Borten verziertes Oberteil. Die 38-Jährige beschäftigt sich gerade mit der Wikingerzeit und hat ihr davon inspiriertes Outfit selbst gefertigt. Inzwischen hat Torben das Lagerfeuer entfacht und übt sich im Hornblasen.
Uwe beginnt das Ritual mit der Anrufung des Gott Thor in Richtung Osten. Das Grüppchen bewegt sich Schritt für Schritt um das Feuer und bleibt immer wieder stehen, um insgesamt zwölf nordische oder germanische Götter in ihren Wohnorten, Burgen genannt, anzurufen. Auf diese Weise werden die Götter zum Ritual geladen und um ihren Segen gebeten.
Die meisten der Anwesenden haben bereits eine Odyssee durch verschiedene Glaubensvorstellungen hinter sich. Etwa Lutz, der interessehalber die Bibel gelesen hat, um schließlich festzustellen, dass der christliche Glaube nichts für ihn ist. Der heute 58-Jährige hatte zwei einschneidende Erlebnisse. Nach einem Herzanfall und einem schweren Motorradunfall spürte er Unterstützung durch den Gott Odin.
"Ich würde sagen, nicht ich habe die Götter gesucht, sondern die Götter waren bei mir auf einmal präsent. In der Nacht habe ich dann… also irgendwie hatte ich das Gefühl, da ist jemand, der mit mir reden will."

Götter, die wie Menschen leben

Gida hatte ihre mystischen Erlebnisse bei schamanischen Reisen nach Asgard, dem mythischen Wohnort der nordischen Götter. Die junge Frau wurde christlich erzogen, hat sich dann der keltisch-synkretistischen Wicca-Tradition zugewendet und schließlich die Asatru-Glaubensgemeinschaft für sich entdeckt. In der Beziehung zu den Göttern schätzt sie vor allem eins:
"Du bist zu einem nordischen Gott wie ein Freund, er ist nicht der, der dir befiehlt, du musst das und das machen, damit das und das passiert, sondern man kommuniziert irgendwo auf einer selben Ebene."
Andreas Mang ist Vorsitzender von Eldaring, einem Verein, der das nordisch-germanische Heidentum pflegt. Aus seiner Sicht ist es leichter, eine spirituelle Beziehung zu den Göttern von Asgard aufzubauen als zu einem abstrakten Gott. Andreas Mang:
"In den ganzen europäischen Mythen, die Götter sind ja sehr anthropomorphe Gestalten. Es gibt sie als Männer und als Frauen und die haben Kinder und Verwandte und sie leben in Palästen und Häusern, das ist genauso, wie Menschen auch leben - und deshalb kann man da eine persönliche spirituelle Beziehung zu aufbauen. Zu irgendeinem gestaltlosen Konzept, was man hat, geht das eher schwieriger."

Mit Trinkhorn und Schamanentrommel

Die Ritualgemeinschaft intoniert jetzt die Rune Jera aus dem nordischen Runenalphabet. Das Singen soll die Eigenschaften des Schriftzeichens erfahrbar machen; Jera gilt als Rune der Ernte. Zum zweiten Vollmond nach Mittsommer feiern die modernen Heiden den Erntebeginn mit dem Leinerntefest - in diesem Jahr am 18. August. Ein Mythos erzählt, wie der Trickster-Gott Loki der Göttin Sif die Haare abschneidet. Die Haare der Wachstumsgöttin versinnbildlichen das reife Getreide. Uwe erklärt die Bedeutung des Festes:
"Wir haben es hier mit einer ursprünglich agrarischen Kultur zu tun, wo eben Dinge, wie Ernteende, Erntebeginn, Erntesegen eine große Rolle spielen. Und der Erntebeginn ist eben irgendwo im August und das begann man eben mit dem Leinerntefest, wo ein wesentlicher Aspekt eben auch war für einen guten Ernteablauf zu bitten, dass sich keiner verletzt, dass die Zeit trocken bleibt."
Auf dem Ritualplatz füllt Torben gerade Met in ein Trinkhorn. Der informelle Teil der Zusammenkunft beginnt. Gida packt ihre Schamanentrommel aus und schlägt einen gleichförmigen Rhythmus. Auf dem Feuer kocht ein Kessel Suppe, denn nach dem Ritual gehört das gemeinsame Essen und Trinken für die modernen Heiden einfach dazu.
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