Gelebte Solidarität in Frankreich

Wenn Kollegen Zeit spenden

Kinderkrebsstation der Universitätskinderklinik Leipzig
Wer sich um kranke Angehörige kümmern muss, bekommt in Frankreich oft Hilfe von den Kollegen. © dpa / picture alliance / Waltraud Grubitzsch
Von Suzanne Krause · 02.03.2015
In Frankreich dürfen Arbeitnehmer einen Teil ihrer Ferientage an Kollegen spenden, wenn diese einen schwerkranken Angehörigen betreuen. Auslöser dafür war der Fall von Christophe Germain, dessen elfjähriger Sohn an Krebs erkrankte.
Solidarität auf französisch: In einem kurzen Video präsentiert ein Pharma-Konzern seinen französischen Mitarbeitern ein Beispiel innerbetrieblicher Solidarität – den Fall von Mathys.
Mathys war neuneinhalb Jahre alt, als ein riesiger Tumor in seiner Leber entdeckt wurde – ein weit fortgeschrittener Krebs. Seine Eltern, beide berufstätig, waren verzweifelt.
Christophe Germain, Mathys Vater, arbeitet im Werk des Mineralwasser-Herstellers Badoit, der Betrieb zählt 180 Mitarbeiter.
Um seinem Sohn rund um die Uhr zur Seite zu stehen, kratzte Germain alle Urlaubstage zusammen, jeden freien Tag, mit dem die Überstunden abgegolten werden und nahm dann selbst Krankenurlaub:
"Dann bestellte mich die Krankenversicherung zum Gespräch ein, da ich mittlerweile seit drei Monaten krank gemeldet war. Der Sachbearbeiter sagte: klar, Ihr Sohn hat Krebs und ist in Behandlung – Sie aber sind doch eigentlich gesund. Wenn Sie nächsten Montag nicht wieder arbeiten gehen, streichen wir ihnen die Bezüge!"
Notgedrungen nahm Germain seine Arbeit wieder auf – und dann geschah etwas, mit dem er nie und nimmer gerechnet hätte. Spontan bot ihm sein Vorarbeiter, Marc Séon, seine eigene Urlaubstage als Spende an.
Erst spendete nur der Vorarbeiter Zeit - dann das ganze Werk
Séon berichtet, dass er den Vorstand auf seine Seite bringen konnte und dann im ganzen Werk für Zeitspenden trommelte. Wer wollte, verzichtete auf Urlaubstage, um Germain entsprechend Zeit für die Pflege seines Sohnes zu schenken.
Ein Akt der Solidarität – anonym und ohne Gegenleistung. Und landesweit eine Premiere. Insgesamt kamen 170 Freistellungstage zusammen, bei voller Lohnfortzahlung.
Mehr, als Mathys noch an Lebenszeit verblieb. Zurückblickend meint Christophe Germain:
"Das Ganze liegt nun über fünf Jahre zurück und ich weiß bis heute nicht, welche Kollegen mir damals Zeit gespendet haben. Umso besser, damit bin ich niemandem Rechenschaft schuldig. Ein solcher Akt muss einfach freiwillig sein."
An den kleinen Jungen, der an Krebs starb, erinnert heute ein Gesetz: Die sogenannte "Loi Mathys". Ein Rahmentext für innerbetriebliche Zeitspenden-Solidaraktionen, wenn ein Mitarbeiter ein schwerkrankes Kind, ob Baby oder fast erwachsen, zuhause versorgt.
Dafür haben Mathys Eltern lange gekämpft, gemeinsam mit ihrem Nachbarn, dem konservativen Abgeordnete Paul Salen:
"Der gesetzliche Urlaubsanspruch in Frankreich beträgt fünf Wochen. Die ersten vier Wochen sind von einer Zeitspende ausgeschlossen, aber bei der fünften Woche kann jeder, der mag, anonym geben, was er will. Keinerlei Spendenbeschränkung gibt es bei den freien Tagen zum Überstunden-Ausgleich."
Die Wirtschaft hat die Zeitspende für sich entdeckt, der öffentliche Dienst noch nicht
Die Loi Mathys wird in der Privatwirtschaft zunehmend genutzt. Für den öffentlichen Dienst steht das entsprechende Dekret noch aus. Salen bastelt nun auch an einer Lösung für beispielsweise kleine Handwerksbetriebe. Die Gewerbekammern sollen Solidartöpfe für Zeitspenden einrichten:
"Die Betriebe, die das Zeitspende-Gesetz umsetzen, berichten von zweierlei Effekten: es erlaubt ihnen, Mitarbeitern in Not konkret zu helfen. Und es fördert den innerbetrieblichen Zusammenhalt vehement."
Und das Beispiel macht Schule.
Mehr und mehr Unternehmen im Land setzen auf die Loi Mathys – oder beschließen eigene Solidar-Programme. Die Casino-Gruppe, eine große Supermarkt-Kette, hat seit Jahresbeginn 2013 für ihre 40.000 Beschäftigten einen anonymen und freiwilligen Zeitspende-Topf eingerichtet.
Gedacht für jeden, der zu Hause einen Angehörigen pflegt – vom Kind über den Ehepartner bis zu Mutter oder Vater. Zwölf Tage Sonderurlaub, ohne Lohnverlust. Die Firmenleitung zahlte in den vergangenen beiden Jahren je 100 Tage in die Zeitkasse, die Belegschaft zieht nach.
2014 kamen 345 gespendete Tage zusammen – knapp ein Drittel mehr als im Startjahr, berichtet Personalchefin Elisabeth Alves:
"Unser Solidar-Programm ermöglicht es, dass Mitarbeiter, die sich zuhause um einen bedürftigen Angehörigen kümmern, dies am Arbeitsplatz bekannt machen. Das macht auch den Managern ihre Arbeit leichter. Und es verbessert unser Image als Arbeitgeber: extern und intern."
Die kommunistischen Abgeordneten stimmten gegen das Zeitspende-Gesetz, denn: Man könne ein Anliegen der nationalen Solidarität nicht auf die Arbeitnehmer abwälzen.
Die Mehrheit der Franzosen allerdings denkt bei der Loi Mathys keineswegs an Anstiftung zur "Selbstausbeutung". Sondern an die Großzügigkeit des solidarischen Akts.
Mehr zum Thema