Geisteswissenschaft

Der Marxkenner

Der Frankfurter Politikwissenschaftler Iring Fetscher starb im Alter von 92 Jahren.
Der Frankfurter Politikwissenschaftler Iring Fetscher starb im Alter von 92 Jahren. © picture alliance / dpa / Peter Zschunke
Von Jochen Stöckmann · 20.07.2014
Das Aufspüren und Analysieren von Widersprüchen kennzeichnet das Werk des 1922 geborenen Wissenschaftlers Iring Fetschers. Mit seinen Marx-Forschungen kritisierte er auch heutige Probleme wie etwa Billiglöhne. Bekannt wurde er mit seinem Märchen-Verwirrbuch "Wer hat Dornröschen wachgeküsst?"
Sein eigenes Leben in dem für das 20. Jahrhundert so charakteristischen Widerspruch von politischem Denken und alltäglichem Handeln hat Iring Fetscher erst sehr spät öffentlich gemacht. 1995 erschien "Neugier und Furcht", die Lebenserinnerungen des 1922 geborenen Politikwissenschaftlers. Darin beschreibt der Sohn eines von den Nazis aus dem Amt gejagten Medizinprofessors, wie er sich 1940 freiwillig als Offiziersanwärter meldete:
"Ich hatte das Glück, dass ich in eine Division kam, die eigentlich aus lauter Anti-Nazis bestand. Wir haben trotzdem weitergekämpft, weil es einfach keine Alternative für uns zu geben schien, jedenfalls nicht an der Ostfront."
Für seine Memoiren kramte Fetscher ein Tagebuch hervor, das er bis Kriegsende 1945 geführt hatte – und dessen Lektüre ihn erst einmal ratlos zurückließ:
"Das Nebeneinanderstehen von außerordentlich offenen, kritischen Äußerungen, etwa ein Kommentar 'Was sind wir doch für ein barbarisches Volk', Punkt. Zwei Seiten später 'eindrucksvolle Rede von Goebbels über den totalen Krieg.' War das nur eine Bewunderung für die perfekte demagogische Technik von Goebbels?"
Wechselwirkung zwischen politischen Theorien und sozialen Umwälzungen
Aufspüren und Analysieren von Widersprüchen kennzeichnet das Werk Iring Fetschers. 1963 wurde er in Frankfurt am Main als Professor für Sozialphilosophie berufen – auf Betreiben von Max Horkheimer, gegen den Erstplatzierten Golo Mann. Da hatte er neben der an der Pariser Sorbonne vom Philosophen Alexandre Kojève angeregten Promotion über Hegel bereits ein Standardwerk verfasst über "Marx und die Sowjetideologie" und galt als einer der Marxkenner im Westen.
Mit der Wechselwirkung zwischen politischen Theorien und sozialen Umwälzungen befasste sich Fetscher auch in seiner Habilitation über Rousseau. Dessen Denken sah er wie bei Marx von den Anführern der Revolution instrumentalisiert:
"Ich glaube, dass zwischen Lenin und Marx ein ähnliches Verhältnis besteht wie zwischen Robespierre und Rousseau: Beide – Lenin wie Robespierre – waren Praktiker und haben sich aus der Theorie das herausgeholt, was sie benützen konnten – und das weggelassen, was ihnen nicht passte."
Plädoyer für Bürgernähe und Transparenz schon 1986
Theorie, wie Fetscher sie lehrte – und seit den Sechzigern mit Fernsehauftritten popularisierte – war niemals akademisch. In seinen Publikationen zeigte sich der literarisch bewanderte Stilist – und ein selbstironischer Autor: 1976 wurde Fetscher einem breiteren Publikum bekannt mit seinem Märchen-Verwirrbuch "Wer hat Dornröschen wachgeküsst?".
Dass der passionierte Sammler antiquarischer Bücher und Autografen bei allem historischen Interesse stets auf der Höhe der Zeit blieb, beweist ein – leider nur schriftlich überliefertes – Streitgespräch mit dem Konservativen Hermann Lübbe. Da wird die drohende Monopolisierung bei den Informationstechnologien kritisiert. Fetscher plädiert für neue Politikformen der Demokratie mit "Bürgergutachten" und transparenter "Technologiefolgeabschätzung". Und zwar bereits im Jahr 1986.
Politisch engagierte sich der 1987 emeritierte Hochschullehrer in der SPD, anfangs ohne Parteibuch in der Grundwerte-Kommission und als Berater von Willy Brandt. Angesichts der Globalisierung, mit einem aktuellen Seitenhieb gegen einen ausschließlich an wirtschaftlichen Kennziffern orientierten SPD-Flügel schrieb der Marxkenner der Politik ins Stammbuch:
"Die Vorstellung, dass man den Standort Deutschland dadurch retten könnte, dass man die Löhne so runterfährt, dass man mit den Billigstlohnländern konkurrieren kann, ist natürlich absolut absurd. Von Marx kann man schon einiges lernen, was die Interpretation der Probleme anlangt, unter denen wir heute leben."