Geistesgeschichte des Selbstmords

05.02.2009
Der Kulturwissenschaftler Matthias Bormuth untersucht engagierte und widersprüchliche Reflexionen über Rechtmäßigkeit und Fragwürdigkeit des Freitods. Hier hat der philosophisch interessierte Leser einen echten Brocken vor sich und muss akademische Hürden überspringen. Dafür wird er mit ernsten, erregenden, grandiosen und bestürzenden Einsichten zum Selbstmord belohnt, wie sie im tagesaktuellen Streit um Sterbehilfe kaum vorkommen.
Mit sattelfesten Kenntnissen in mindestens sechs oder sieben Wissenschaften vom Menschen ausgestattet, ordnet Matthias Bormuth seine Studie zum suizidalen Denken um drei "Konstellationen" (wie er es nennt): die philosophische, die psychiatrische und die literaturwissenschaftliche Konstellation. Allem voran steht eine "ideenhistorische Skizze", die in der Antike beginnt, die christlichen Vorbehalte gegen den Selbstmord untersucht, Dante, Montaigne, Hume und Kant paraphrasiert und dem Leser so den abendländischen Resonanzraum öffnet.

Eine überragende Figur im ersten Teil ist Karl Jaspers, der Psychiater und Existenzphilosoph, der sich mit seiner jüdischen Frau auf den Selbstmord per Zyankali vorbereitete, als ihnen 1945 die Verschleppung ins KZ drohte. Fünf Jahre vorher hatte er notiert: "Das neue Leben ist nur noch möglich in Selbstmordbereitschaft." Bormuth untersucht die Geisteshaltung zum Selbstmord bei Jaspers und anderen Denkern stets mit Rücksicht auf reale existenzielle Notlagen - was den Gedanken enorme Kraft und den geschilderten Ereignissen eine packende geistige Aura sichert. Max Webers theoretische Analysen etwa münden angesichts des Selbstmords seiner Schwester Lilli in harscher Kritik an den Verächtern: "Es ist [ ... ] Würdelosigkeit, das Leben so als 'Wert an sich' zu nehmen."

Allerdings will Bormuth nicht Partei ergreifen, weder für noch wider. Er zeigt, dass sich suizidales Denken durch keine verbindliche Letztbegründung absichern kann, sondern widersprüchlich bleibt. Die größte Provokation ist dabei Jean Améry, der Auschwitz-Überlebende, Autor von Diskurs über den Freitod und spätere Selbstmörder, der festhielt:

"Der Selbstmord erscheint mir als Wesensmerkmal des Menschlichen, gleich der Gott-Schöpfung und dem Sein in die Zukunft."

Trotzdem erlaubte sich Améry, Simon Weil, die den Hungertod suchte, zu verspotten: "Freitod infolge religiöser Zwangsneurose." Das Buch wird in solchen Passagen zur spannenden geistesgeschichtlichen Reportage. Mit Geschmack für starke Zitate bringt Bormuth auch ein Aperçu zu Améry von Imre Kertész bei, ebenfalls Auschwitz-Überlebender:

"Der Holocaust hat seine Heiligen wie jede andere Subkultur."

Bormuths Studien zu Bachmann und Johnson zeigen, dass suizidales Denken als Sublimation selbstzerstörerischer Impulse auftreten kann und insofern eine "Kulturleistung" ist (Bachmann und Johnson ergaben sich allerdings dem Alkohol). Am Ende wendet sich Bormuth der psychiatrischen Gegenwart und der Freitod-Diskussion zu, um zu resümieren:

"Die Freiheit ist immer eine relative."

Ambivalenz der Freiheit ist die überarbeitete Fassung von Bormuths Habilitationsschrift. Man spürt, dass da jemand zeigen will, was er kann. Bormuth ist nicht frei von Jargon, gönnt sich Abschweifungen und unterstellt seinen Lesern teils allzu große Belesenheit. Insgesamt jedoch ist der Intensivkurs in suizidalem Denken gelungen. Für Argument-Sammler ist das Buch eine tiefe Fundgrube, für Mit-Denker ein starker Parcours, für Suizid-Kandidaten ein Grund zum Innehalten.

Rezensiert von Arno Orzessek

Matthias Bormuth: Ambivalenz der Freiheit. Suizidales Denken im 20. Jahrhundert
Wallstein Verlag, Göttingen 2008
478 Seiten, 39,90 Euro